Predigt im Franziskushof (Jesaja 42, 1-9)

12. Januar 2003

„Siehe, das ist mein Knecht - ich halte ihn - und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung. So spricht Gott, der HERR, der die Himmel schafft und ausbreitet, der die Erde macht und ihr Gewächs, der dem Volk auf ihr den Odem gibt und den Geist denen, die auf ihr gehen: Ich, der HERR, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand und behüte dich und mache dich zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden, daß du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker. Ich, der HERR, das ist mein Name, ich will meine Ehre keinem andern geben noch meinen Ruhm den Götzen. Siehe, was ich früher verkündigt habe, ist gekommen. So verkündige ich auch Neues; ehe denn es aufgeht, lasse ich's euch hören.“ (Jesaja 42, 1-9).

Herzlich grüße ich Sie an diesem zweiten Sonntag des neuen Jahres, dem ersten Sonntag nach Epiphanias. Ich freue mich sehr, mit Ihnen diesen Gottesdienst zu feiern und bei Ihnen auf dem Franziskushof zu Gast zu sein. Schon lange freue ich mich auf diesen Besuch; nun wird er Wirklichkeit. Sehr herzlich beglückwünschen meine Frau und ich Sie zum zehnjährigen Bestehen des Franziskushofes und das anstehende Beispiel christlicher Nächstenliebe, das hier gelehrt wird. Die engagierte Arbeit des Franziskushofes strahlt weit über Zehdenick hinaus und wärmt Menschen an Leib und Seele. Ein Anlass zur ökumenischen Begegnung ist dieser Tag am Beginn eines neuen Jahres. Mögen viele solche Tage folgen!

Für diesen Sonntag bildet in Ihrer wie in unserer Kirche der Bericht über die Taufe Jesu das Sonntagsevangelium. Die Erinnerung an Jesu Taufe verbindet uns an diesem Tag – wie ja überhaupt die Taufe das ökumenische Sakrament schlechthin ist. In welcher Kirche auch immer wir leben: wir sind getauft auf den Namen des dreieinigen Gottes. Und wir sind dazu aufgefordert, uns nicht nur an diese Taufe zu erinnern, sondern die Gabe der Taufe mit anderen zu teilen. Denn wir wissen, dass wir mit dieser Taufe auf einem guten und gewissen Grund stehen. Wir sind hineingenommen in die Zugehörigkeit zu dem Jesus, dem in seiner eigenen Taufe die Gottesgewissheit auf besondere Weise bekräftigt wurde: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“. Das Wohlgefallen des Weihnachtsevangeliums klingt hier noch einmal auf. Die Weihnachtsbotschaft der Engel – „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“ – wird geerdet. Hier ist der eine, auf dem Gottes Wohlgefallen ruht. Ihm zugehörig zu sein, bedeutet, an Gottes Wohlgefallen Anteil zu haben. Darin entspricht unsere Taufe der Taufe Jesu.

Wie gut fügt es sich, dass zu den biblischen Texten dieses Gottesdienstes auch das Gottesknechtslied aus dem Buch des Propheten Jesaja gehört. Es vergewissert uns noch einmal auf eine andere Weise, dass unser Leben und unser Tun auf einem guten Grund stehen.

„Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ So haben wir es vorhin gehört. Das Gottesknechtslied führt uns in eine der dunkelsten Zeiten des jüdischen Volkes zurück: in die Zeit der babylonischen Gefangenschaft - ein halbes Jahrtausend vor Jesu Geburt in Bethlehem. Heimatlos fühlen sich die gefangenen Israeliten, entrechtet und abgeschnitten von ihren Wurzeln. Hoffnungen flackern nur noch wie der verglimmende Docht einer Kerze. Geduckt unter der Knute der neuen politischen Machthaber scheint vielen das Rückgrat gebrochen zu sein wie ein geknicktes Schilfrohr. Ist das gerecht? Wo bleibt Gott? Müsste er, der große Gerechte, nicht handeln und eingreifen?

Der Weg zu den Empfindungen unserer Tage ist nicht weit. Anlass zur Sorge gibt es auch in diesen Wochen. Die Ärmsten der Armen fürchten sich davor, dass ihnen auch noch die Sozialhilfe weggenommen wird. Schlecht ist die Stimmung aber auch bei den Reichen, die fürchten, dass es ihnen mit neuen Abgaben ans Portemonaie geht. Große Sorge haben auch viele Menschen, weil sie nicht wissen, wie die Absicherung im Alter und die Kostenübernahme während einer Krankheit künftig geregelt sein werden. So unterschiedlich diese Sorgen auch sind – vereint sind wir alle in der Furcht vor einem neuen Krieg im Irak. Was können wir denn tun? Wer hätte sich nicht schon ratlos diese Frage gestellt.

Der Prophet, dessen Worte wir im zweiten Teil des Jesajabuchs hören, bleibt trotz der Bedrängnis seiner Tage selbstbewusst – nein: glaubensgewiss. Geknicktes Rohr, glimmender Docht – der Verzagtheit unterwirft er sich nicht: „Siehe, das ist mein Knecht, an dem meine Seele wohlgefallen hat. Er wird das Recht unter die Heiden bringen. Und die Inseln warten auf seine Weisung“ – so heißt es beim ihm. In der Befehlsform – im Imperativ - wird formuliert „Siehe!“ Mehr Autorität und weniger Zweifel kann Sprache wohl kaum ausdrücken.

Jesaja tröstet sein Volk in der Gefangenschaft und will zugleich das Recht unter die Heiden zu bringen. Sich Menschen zuzuwenden, die an der Last ihres Lebens schwerer zu tragen haben, ist im Franziskushof zu einer guten Tradition geworden. Hier ist mit Händen zu greifen, was es heißt, „das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen“. Gott verbindet sich mit den Schwachen, mit den Traurigen, die sich so fühlen wie der verglimmende Docht einer kleinen Kerze. Ein Windhauch noch, und sie ist ausgeblasen.

Das geknickte Rohr wird nicht zerbrechen, der glimmende Docht wird nicht auslöschen.  In diesem einprägsamen Bild kommt die Verheißung zu den Bedrohten und den Zukurzgekommenen. Eines Tages wird so weit sein, dass die Steppe blüht, dass der Lahme tanzt und der Blinde wieder sehen kann. Die Hoffnung des Glaubens streckt sich nach dem Ganzen aus, nach dem gelingenden Leben. Denn sie lebt aus der Gewissheit, dass Gott sieht, hört, heilt und rettet. Diese Zukunft wirft ihren Schein schon in die Gegenwart; sie hält die Flamme am Brennen; sie bewahrt die Schwachen davor zu zerbrechen. Wie tröstlich, wenn diese Zuversicht uns erreicht. Denn es ist eine Selbsttäuschung, wenn wir so tun, als gelinge uns alles – uns, die wir machen, organisieren, entscheiden, helfen. Es wäre doch unaufrichtig, wenn wir sogar uns selbst verschweigen würden, dass wir oft nicht mehr weiterwissen.  Und wie geht es uns dann, wenn es nicht mehr geht? Wenn es nicht gelingt? Aus Krankheit oder Begrenztheit, aus Fehlern oder Missverständnissen heraus? Können wir auf etwas anderes hoffen als auf die eigene Stärke? Ja, sagt Jesaja, seid getrost auch in den Situationen, in denen euer Herz verzagt ist. Gott wird euch behüten, er wird seine Hand über euch halten.

Ein wirklicher Tröster ist der Prophet Jesaja. Es geht ihm nicht nur um ein oberflächlich dahingewischtes Mitleid. Es geht ihm darum, fremdes Leid zum eigenen werden zu lassen. Wörtlich übersetzt heißt unser Fremdwort Sympathie nichts anderes als Mit-leiden. Im Zentrum der biblischen Botschaft steht eine Sympathie, die sich nicht auf den richtet, mit dem ich schöne Erlebnisse hatte, gemeinsam Urlaub machte oder eine durchzechte Nacht verlebte. Biblische Sympathie meint vielmehr die Fähigkeit, mit einem anderen Menschen mitleiden zu können. Wenn das Leid und die Hilfsbedürftigkeit des andern mir wirklich nahe kommen, entsteht Sympathie.

Was wäre das für ein Projekt für das Jahr 2003: in diesem Sinn Sympathie oder, wie der katholische Theologe Johann Baptist Metz sagt, Compassion zuzulassen. Jesus war ein Bürge dieser Sympathie, dieser Compassion. Sein Weg von der Taufe des Johannes am Jordan zurück nach Galiläa ist ein einziger Weg der Einfühlsamkeit für die Leidenden. Die Kranken richtet er auf, den Sündern zeigt er ein neues Leben, sogar für die Zöllner, von denen ihre Umgebung nun wirklich nichts Gutes zu berichten weiß, sieht er einen Weg. Für keinen gibt es eine Schablone – außer der Zusage: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Auf seine Weise erfüllt Jesus, was der Prophet für den Gottesknecht sagt: Das geknickte Rohr zerbricht er nicht und den glimmenden Docht zertritt er nicht, das Recht bringt er unter die Heiden, für Gerechtigkeit steht er ein – bis zum Tod am Kreuz. So wird Jesus selbst zum Gottesknecht, zu dem, auf dem Gottes Geist ruht: „Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“
 
Wie anders sieht unsere Welt aus, wenn wir unseren Blick von ihm leiten lassen! Wie anders schauen wir auf Menschen, wenn die Sympathie Jesu uns leitet, wenn seine Barmherzigkeit unseren Blick bestimmt! Wenn wir auf manches Leiden um uns her schauen, auf zerbrochene Beziehungen und abgebrochene Lebenswege in unserer Nähe, auf vergebliches Suchen der Jungen oder abgestumpfte Teilnahmslosigkeit bei Alten, dann begreifen wir: Nichts wiederholt sich, für menschliches Leben gibt es keine Schablonen. Jedes menschliche Schicksal hat seine eigene Dramatik. In seinem Scheitern hat es ebenso ein eigenes Gesicht wie in seinem Gelingen.

Wer weiß, wie es einem geht, der von einem Tag auf den anderen „Umstrukturierungen“, „personaler Verschlankung“ oder blanker Insolvenz zum Opfer fiel, der hört auf, hochmütig über „die Arbeitslosen“ zu reden. Wer sich die Mühe gemacht hat, der Geschichte eines Flüchtlings zuzuhören, nicht im Fernsehen sondern direkt, Auge in Auge,  wird in die allzu schnellen Sprüche über Asylmissbrauch nicht mehr so leicht einstimmen. Wer einem Menschen begegnet, der Opfer von Gewalt wurde – von Gewalt in der Familie, in der Pflege, von Gewalt gegen Kinder oder gegen Fremde – , der hält selbst Ausschau nach Hilfe, statt solche Hilfe zu verspotten. Sympathie ist das Thema Jesu. Barmherzigkeit ist ein Hauptwort im Evangelium. Sie setzt moralische Maßstäbe nicht außer Kraft; sie ist kein Freibrief für Beliebigkeit. Aber wer sich auf diese Barmherzigkeit einlässt, weiß, dass nicht alle über einen Kamm zu scheren sind. Menschen, die von außen besehen alle Normen bestens erfüllen, sind damit noch keineswegs Garanten für moralisches Einfühlungsvermögen. Das können sie sein, müssen es aber nicht. Nichts ist nur schwarz, nichts ist nur weiß.

Kein Mensch entspricht einer Schablone. Nichts ist ohne Zweifel. Aber in der Zwiespältigkeit unserer Verhältnisse erreicht uns ein klarer Maßstab: der Maßstab der Sympathie, der Compassion, der Barmherzigkeit. Die Bibel gibt uns diesen Maßstab an die Hand. Dieses Jahr 2003 ist das lang angekündigte „Jahr der Bibel“. Es legt uns die Bibel ganz bewusst in die Hände. Sie ist nicht nur in Vitrinen ausgestellte Weltliteratur, sondern Stachel, Herausforderung, Motivation für ehrliches und freies Zusammenleben. Für alle, die sich ihrer Botschaft stellen, über alle kirchlichen Grenzen hinweg. Das Jahr 2003 ist nämlich zugleich ein Jahr der Ökumene, gerade in unserer Region, in der wir vom 28. Mai bis zum 1. Juni dieses Jahres den Ökumenischen Kirchentag feiern. Welche Perspektiven für das Jahr, das auch an seinem zwölften Tag noch ziemlich neu ist: das Jahr des Ökumenischen Kirchentags, ein Jahr der Bibel, ein Jahr der Sympathie, der Compassion, der Barmherzigkeit.  Es ist dieser Geist, in dem ich für das ermutigende Beispiel des Franziskushofes danken will. Gottes Segen erbitte ich für Sie alle. Amen.