Predigt im Gottesdienst zur Eröffnung der Landessynode

16. Januar 2003

1.

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, / der uns beschützt und der uns hilft zu leben.“ Ist davon etwas zu spüren am Beginn dieser neuen Synodalperiode? Erreicht uns dieser Zauber des Anfangs? Erreicht er diejenigen, die erneut zurückkehren in das „synodale Geschäft“, wie es so nüchtern heißt? Lebt eine Hoffnung auf Neues in denjenigen, die sich zum ersten Mal auf diese Aufgabe einstellen und ihr in den nächsten Jahren Zeit und Kraft widmen?

Hermann Hesses Gedicht „Stufen“ beginnt keineswegs mit den zwei zitierten Zeilen, durch die es so berühmt geworden ist. Es beginnt vielmehr abschiedlich: „Wie jede Blüte welkt und jede Jugend / Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, / Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend / Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. / Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe / bereit zum Abschied sein und Neubeginne, / Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern / In andre, neue Bindungen zu geben.“ Ich weiß von Menschen, die sich beim Abschied von der alten Synode an die Weisheit dieser Zeilen gehalten haben. Und erst im Anschluss an sie heißt es dann: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, / Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.“

Nicht abschiedlich, sondern anfänglich sind wir heute gestimmt. Immer wieder mit dem Anfang anfangen; sich auf die Anfänge des Verstehens zurückwerfen lassen, immer wieder in den Anfang der christlichen Existenz – die Taufe nämlich – zurückkriechen: unser christlicher Glaube hat es auf eine besondere Weise mit dem Anfang zu tun. Als abgeschlossen betrachtet er sich nie; ins Nirwana zeitloser Erkenntnis tauchen wir nie ein. Immer wieder fangen wir mit dem Anfang an: jedes Jahr an Weihnachten, wenn wir den Neubeginn der Geschichte Gottes mit uns Menschen in dem Kind in der Krippe bedenken; jedes Mal zu Beginn eines Jahres, wenn wir uns die Zeit aus Gottes Hand neu schenken lassen; und nun zu Beginn einer Synodalperiode, die von Aufgaben auch dann voll ist, wenn sie kürzer sein wird als andere.

Die Arbeit dieser Synode beginnt in den ersten Tagen eines neuen Jahres. Das wird der Anlass dafür gewesen sein, dass mir als Predigttext für diesen Gottesdienst – noch einmal – die Jahreslosung für dieses Jahr 2003 aufgetragen worden ist. „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an“ (1. Samuel 16, 7).

2.

Wie es mit dem Zauber dieses Anfangs bestellt ist, wird sich erst noch zeigen. Bei der konstituierenden Sitzung einer Synode wird vor allem gewählt: Präsidium und Ältestenrat, Kirchenleitung und EKD-Synodale, Prüfungsamt und Bischofswahlkollegium – die Namen aller weiteren Gremien will ich Ihnen ersparen. Personalentscheidungen in großer Zahl unter dem Druck der knappen Zeit. Kurz müssen Kandidatinnen und Kandidaten sich vorstellen; schnell muss die Wahlhandlung vonstatten gehen. Wie oberflächlich ist unser Urteil? Woran richten wir uns aus? Gewiss lassen wir uns nicht von Äußerlichkeiten leiten – es sei denn, die Äußerlichkeiten springen so ins Auge, dass sie uns bei der Vorstellung vom Zuhören ablenken. Wer wird sich schon in einem kirchlichen Gremium nur von dem abhängig machen, was vor Augen ist? So oberflächlich ist niemand. Aber wer sieht schon ins Herz?

Sogar von Gott wird berichtet, dass er sich täuschen kann. Das ist das Aufregende an der Geschichte, aus der dieses Bibelwort für das Jahr 2003 stammt. Auf Gottes Geheiß hatte Samuel, wie das erste Samuelbuch berichtet, Saul zum König gemacht: „Morgen um diese Zeit will ich einen Mann zu dir senden aus dem Lande Benjamin, den sollst du zum Fürsten salben über mein Volk Israel, dass er mein Volk errette aus der Philister Hand. Denn ich habe das Elend meines Volks angesehen, und sein Schreien ist vor mich gekommen“ (1. Sam. 9, 16). Aber dieser klare Entschluss lässt sich nicht durchhalten. Ernüchterung bei Gott, ja Reue: das ist für mich der dramatischste Zug in Israels Königsgeschichte. Gott sagt zu Samuel: „Es reut mich, dass ich Saul zum König gemacht habe; denn er hat sich von mir abgewandt und meine Befehle nicht erfüllt“ (1.Sam. 15, 11). Eine ganze Nacht lang hadert, ja zetert Samuel mit Gott, bevor er sich mit diesem göttlichen Sinneswandel abfinden muss und schließlich den Auftrag annimmt, zum zweiten Mal einen König zu suchen.

Nun soll es einer der Söhne Isais aus Bethlehem sein. Wir wissen, warum: „Und du, Bethlehem im jüdischen Lande, bist keineswegs die kleinste unter den Städten in Juda; denn aus dir wird kommen der Fürst, der mein Volk Israel weiden soll“ (Micha 5, 1; Matthäus 2, 6f.). Von dieser Fernwirkung der Entscheidung Gottes für Bethlehem wissen wir aus der Weihnachtsgeschichte; Samuel freilich kann von ihr noch nichts ahnen, als er sich zu seiner schwierigen Mission auf den Weg macht. Wie wird Saul, immerhin noch als König Israels im Amt, auf dieses Vorhaben reagieren? Sicherheitshalber wird Samuels Mission mit göttlicher Billigung als religiöses Opfer getarnt? Was soll der König dagegen haben, wenn Samuel gemeinsam mit Isai eine junge Kuh opfert? Dabei lassen sich Isais Söhne gut betrachten. Was für eine Leitungsaufgabe! Aus dem Augenwinkel angeschaut und schnell ein Kreuzchen gemacht!

Gleich der erste, Eliab, gefällt dem Propheten über die Maßen gut. Er möchte ihn gleich nehmen; das entspricht auch dem Prinzip der Anciennität. Aber die Reaktion der göttlichen Stimme in seinem Innern ist schroff. „Lass dich nicht davon beeindrucken, dass er groß und stattlich ist. Er ist nicht der Erwählte. Ich urteile anders. Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an“ (1.Sam.16, 7). Dieser kategorische Vorbehalt bleibt wirksam; sieben Söhne haben vor ihm keinen Bestand. Gibt es denn keinen weiteren mehr, fragt der Prophet. Den jüngsten hatte der Vater beinahe vergessen. Er war mit dem beschäftigt, was die Älteren bereits für unter ihrer Würde hielten. David hütet die Schafe. Samuel gibt keine Ruhe, bis er geholt wird. Welcher der Brüder seine Aufgabe übernehmen muss, wird nicht berichtet. Unansehnlich ist auch David nicht, vielmehr „bräunlich, mit schönen Augen und von guter Gestalt“ (1.Sam.16, 12). Das sollte ihm noch zum Verhängnis werden, wie wir wissen. An die Affaire mit Bathseba sei nur erinnert; dass deren Mann Uria sterben musste, um dem älter gewordenen David – „bräunlich, mit schönen Augen und von guter Gestalt“ – freie Bahn zu lassen, sei immerhin erwähnt.

Gott sieht das Herz an. Im Fall von David kann ich mich mit dieser Auskunft nur beruhigen, wenn ich an all die Psalmen denke, die ihm zugeschrieben werden. „Ein Psalm Davids. Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“ (Psalm 23, 1). Auch ein David bleibt darauf angewiesen, dass Gott sein Herz aus Stein in ein Herz aus Fleisch verwandelt, in ein lebendiges Herz (vgl. Ezechiel 36, 26-28). Gottes Blick schafft neues Leben, er bestätigt nicht einfach, was er sieht. Auch David ist auf diesen Blick dringend angewiesen, wir alle sind es. Nur dann können wir immer wieder mit dem Anfang anfangen. Nur dann gilt: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“

3.

Das Vertrauen auf Gottes neu schaffenden Blick ist das Gegenprogramm zu jeder rückwärts gewandten Larmoyanz. „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, „Hauptsache, man bleibt gesund“, „es wird alles immer schlechter“, „ja zu meiner Zeit war alles besser“: es gibt unendlich viele Spielarten für die Larmoyanz des Unglaubens. Sie unterscheidet sich in nichts von der perspektivlosen Gottesvergessenheit, die sich – Wolf Krötke hat das so genannt – in einem „Sog zur Erschlaffung am Menschsein“ zeigt (W. Krötke, Gottes Klarheiten, Tübingen 2001, 158).

Wir haben kein Recht dazu, unsere Mitmenschen diesem Sog zu überlassen. Auch wer von Gott nichts wissen will, hat trotzdem seine Möglichkeiten als Gottes Geschöpf nicht verloren. Denn Gott sieht das Herz an. Niemandem können wir diese Gewissheit vorenthalten. Für jeden ist sie ein Elixier gegen das Gift der gottlosen Jammerei, außerhalb wie innerhalb der Kirche.

In vielen Formen zeigt sich Gottes Blick ins Herz, seine lebendig machende Wahrheit auch heute: bei jungen Leuten, die plötzlich laut die Bibel vorlesen, nicht nur am Tag, sondern auch in der Nacht, bei Alten, die einen Seniorenservice organisieren, weil sie ihre ungenutzten Kräfte nicht brach liegen lassen, bei denen in der Mitte, die Zeit für andere abknapsen, obwohl sie mit ihrem Beruf und mit sich selbst auch so schon genug zu tun haben. Wer blind wird für Gottes Blick ins Herz, kann sich nicht einmal auf das berufen, was vor Augen ist. Es gibt zu viele Gegenbeispiele gegen die Behauptung, alles ginge nur bergab.

Ich halte es für ein Markenzeichen unserer Kirche, dass sie sich der Ideologie nicht ausliefert, alle Herzen seien nur noch aus Stein. Sie hofft auf das lebendige Herz; es wird lebendig, weil Gott es anschaut. Es geht ja nicht um die romantische Vorstellung von einem Herzen, das erst lebendig wird, wenn der Liebespfeil es durchbohrt. Es geht auch nicht um die physikalische Vorstellung vom Herzen, das nicht mehr ist als ein Blut pumpender Muskel. Vom Kern unserer Person ist die Rede, von dem Willen, der uns treibt, von den Zielen, die uns bestimmen. Darauf schaut Gott; und wenn er schaut – der Gott, der die Liebe ist – dann verändert sich etwas. Dann nimmt er unsere Begabungen in Anspruch und wendet sie zum Guten. Aus der Ernüchterung über die Lage unserer Kirche wird ein Ansporn zum missionarischen Aufbruch.

Ich hoffe, die neue Synode macht diesen Perspektivenwechsel zu ihrem Thema: von dem, was vor Augen ist, zur Perspektive Gottes, von der Larmoyanz zur Hoffnung, vom Klagen über die Gottvergessenheit der Menschen zum missionarischen Aufbruch.

4.

„Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Das bekannte Wort von Antoine de Saint-Exupery halte ich, ehrlich gesagt, für eine Überschätzung des Menschen. Wer von uns kann schon mit dem Herzen sehen? Der kleine Prinz hatte angefangen, an seiner Liebe zu der Rose auf seinem kleinen Planeten zu zweifeln. Nachdem er auf der Erde einem ganzen Rosenbusch begegnet war, konnte er die Einzigartigkeit seiner geliebten Rose nicht mehr erkennen. An dem Rosenbusch gab es so viele Rosen, die seiner ähnelten. Er sah, was vor Augen war; aber konnte er deshalb schon mit dem Herzen sehen?

Nicht nur mit dem Herzen sehen, sondern das Herz sehen: von Gottes Sehen ist da die Rede. Sogar Gott kann das nicht einfach von Anfang an. An allem, was die Bibel von Gott erzählt, finde ich das am aufregendsten: die Lernfähigkeit Gottes. Auch seine Haltung zum Krieg ist nicht von Anfang an klar. Die Gottesaussage, dass der Krieg nicht mehr sein wird und das Geschrei der Opfer verstummen soll, entwickelt sich erst allmählich. Umso weniger sollten wir sie überhören. 23 Millionen Menschen leben im Irak. Viele von ihnen wurden schon Opfer von Saddam Husseins Diktatur. Aber noch mehr von ihnen würden Opfer eines Krieges, welchem Motiv auch immer er entspringen mag. Und warum nur der Irak, warum nicht Nordkorea? Und wenn der Irak, was geschieht dann mit Israel und Palästina? Gibt es keinen anderen Weg, um einem Diktator das Handwerk zu legen? Und wenn Krieg – wie soll er zu Ende kommen? Wir sollten schreien, bevor die Steine schreien. Wir sollten uns zum Mund der Stummen machen, bevor die Stimme der Opfer zum Schweigen gebracht wird. Krieg soll nicht sein, sagt Gott, der das Herz sieht.

Welche Richtung sein Blick nimmt, zeigt er, indem er in die Krippe schaut, ans Kreuz. Dafür, welche Richtung sein Blick nimmt, gibt es einen Namen: Jesus von Nazareth. Keine Demütigung entgeht seinem Blick – auch wenn wir alle über sie hinwegschauen und so tun, als ob sie nicht vor Augen wäre. Wie oft reden wir über Menschen, die keiner von uns gesehen hat: über Fremde, über Flüchtlinge, über Menschen im „Kirchenasyl“! Davon, dass wir wegschauen, ist in der Jahreslosung nicht die Rede. Im Gegenteil: Sprich über keinen, den du nicht gesehen hast! Und rede über jeden so, dass du ihm das auch ins Angesicht sagen könntest! Was wäre das für eine Revolution – übrigens auch in der Kirche!

5.

Wer redet eigentlich noch vom Unterschied? Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an. „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, Gott aber, was Gottes ist“ (Matthäus 22, 21). Vom Unterschied zwischen Mensch und Gott ist da die Rede, zwischen menschlicher Herrschaft und der Herrschaft Gottes, zwischen unserem Schauen und dem Blick, den Gott sich vorbehält. Dass der Mensch ins Herz sieht, wird nicht behauptet. Mag er die Gene entschlüsseln, ins Herz schaut er nicht. Es gibt eine Wahrheit, nach der wir uns auch dann noch ausstrecken, wenn wir alles zu wissen meinen. Unsere Erkenntnis ist bruchstückhaft. Das gilt sogar für Synoden. Es gilt nicht nur für die „alte“ Synode, es gilt auch für die „neue“. Sogar die Bibel verstehen wir nur bruchstückhaft; auch das gilt sogar für Synoden. Manche sagen, die alte Synode habe die Bibel falsch verstanden, als sie am letzten Tag ihrer Arbeit Fürbittandachten für Menschen in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften für möglich erklärte. Hoffentlich wissen auch die, die das bestreiten, dass ihre Erkenntnis nur bruchstückhaft ist! Ein Mensch sieht, was vor Augen ist. Von einer kirchlichen Unfehlbarkeit ist nicht die Rede. Vielmehr heißt es: „Der Herr sieht das Herz an.“

Ist das nicht ein großartiges Motto für das Jahr der Bibel? Nicht wir haben die Wahrheit gepachtet; sie ist nämlich größer als das, was wir sehen. Deshalb ist uns die Bibel gegeben: diese Glaubensbibliothek, die mehr als ein Jahrtausend umspannt. Sie ist größer, sie reicht weiter, sie bohrt tiefer als unser Verstehen. Historische Forschung kann ihren Sinn nicht darin haben, sie klein zu machen; sie hat dann einen guten Sinn, wenn sie mehr ausloten will von dieser Größe, dieser Weite, dieser Tiefe. Und die Verschiedenheit der Kirchen bekommt plötzlich auch ihren Sinn. Denn sie sind nicht mehr als ein schwacher Abglanz für die Wahrheit dessen, der ins Herz schauen kann, für den, dem die Wahrheit nicht verborgen ist, für Gott, der die Einheit ist, die wir noch längst nicht haben. Aber auf sie hoffen wir. Deshalb feiern wir einen Ökumenischen Kirchentag. Mit ihm strecken wir uns aus nach der großartigen Wahrheit, die weiter reicht als unser Suchen, auch als unsere konfessionellen Kontroversen. Sie ist auch größer als die noch immer unvereinbaren Auffassungen unserer Kirchen zum gemeinsamen Abendmahl. Auf dem Weg zum Ökumenischen Kirchentag wollen wir als evangelische Kirche unsere eucharistische Gastbereitschaft selbstbewusst einbringen, ohne damit andere zu bedrängen.

6.

Gott sieht das Herz an. Wenn wir unser Herz davon doch auch erweichen ließen! Dann käme etwas in Gang: eine Erneuerung der Spiritualität in unserer Kirche, ein missionarischer Aufbruch, eine Zeitansage in der Öffentlichkeit – nicht weil wir selbst so großartig sind, sondern weil Gott unser Herz erweicht, einfach durch seinen Blick. Weil Gott uns anschaut, über allen Augenschein hinaus, gehen wir getrost an unsere Arbeit, das Wählen eingeschlossen. Wir schauen uns wechselseitig an in diesen Tagen – und vielleicht schauen wir sogar darüber hinaus. Gott gebe seinen Segen dazu. Amen.