Predigt im Gedenkgottesdienst für Dr. Rolf Hanusch

06. März 2003, Französische Freidrichstadtkirche in Berlin

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.


Liebe Frau Hanusch, liebe Familie Hanusch, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Evangelischen Akademie zu Berlin, liebe Weggefährtinnen und Weggefährten von Rolf Hanusch – liebe Gemeinde!

I.

„Die Zukunft beeinflusst die Gegenwart genauso wie die Vergangenheit.“ Ungesucht trat mir dieser Satz von Friedrich Nietzsche entgegen, als ich mich auf meine Aufgabe in diesem Gottesdienst vorbereitete. „Die Zukunft beeinflusst die Gegenwart genauso wie die Vergangenheit.“ Auf  einer Karte fand ich diesen Satz, die meine Tochter zwischen die Bände ihrer Nietzsche-Ausgabe gesteckt hatte. Da ragte mir dieser Satz entgegen, ragte sozusagen in mich hinein. Ausweichen konnte ich nicht. Ich musste mich fragen: Stimmt das denn, stimmt es für diesen Tag? Ist es denn wahr – wahr für uns heute?

Vergangenheit bestimmt diese Stunde, nicht Zukunft. Übermächtig regiert die Vergangenheit; der Vergänglichkeit menschlichen Lebens sind wir in einer Weise ausgesetzt, die uns erschüttert. Ein Leben ist vergangen, unwiderruflich dahingegangen – das Leben von Rolf Hanusch. Ich lese noch einmal die Worte, mit denen ich ihm heute zum 60. Geburtstag Glück wünschen wollte, die Worte, mit denen ich mich vorbereitet hatte für den heutigen Tag. Von den nötigen Kräften für den weiteren Weg ist da die Rede: dahin – buchstäblich von einem Tag auf den andern. Selten hat mich die Trauer über das Vergehen menschlichen Lebens so überfallen wie bei diesem Tod. Zu groß waren die Pläne, zu weit die Erwartungen, die so viele mit Rolf Hanusch teilten, die Hoffnungen, die wir auf ihn setzten, über die Schwelle des heutigen Tages hinweg. Vergangen!

II.

Ist wirklich nicht mehr zu sagen? Mit Rolf Hanusch halten wir uns an das biblische Verheißungswort – er selbst hätte es heute nicht anders gewollt: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden“ (Jesaja 40, 31). Eine prophetische Verheißung erreicht uns, die von der Zukunft nicht lässt. Die neue Kraft, von der hier die Rede ist, sie ist auf die Zukunft gerichtet; das Auffahren, wie wir es von Adlern kennen, ist eine Bewegung zur Zukunft hin. Wer nicht müde und matt wird, ergibt sich nicht der Zukunftslosigkeit.

Ein Hoffnungswort kommt zu uns an diesem Tag, wie es auch die Gemeinde schon erreicht hat, die sich am 21. Februar in der Nördlinger St. Georgskirche versammelt hat, um Rolf Hanusch das letzte Geleit zu geben. Dort wie hier sammeln wir uns um die prophetische Zusage, dass es nicht bei unserer von der Zukunft abgewandten Trauer bleibt. Der Mattigkeit, die uns überfällt, bleibt nicht das letzte Wort. Ein Wort tritt uns entgegen, das Rolf Hanusch schon bei seiner Konfirmation zugerufen wurde; seitdem hat es ihn auf seinen Wegen begleitet. Ein Wort der Hebräischen Bibel tritt uns entgegen; wir anerkennen dessen ursprünglichen Ort auch dann, wenn wir dessen eingedenk werden, wie Jesus dieses Wort für uns Christen bekräftigt. Die Wendung zur Zukunft hat er gerade angesichts des Todes bestätigt: „Wer die Hand an den Pflug legt, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes“ (Lukas 9, 62).

Bis in die Tiefen des Todes hinein leuchtet am Weg Jesu etwas auf, das in die Zukunft weist: das Licht der Auferstehung. Es leuchtet auch in den Weg von Rolf Hanusch hinein. Daran dürfen wir uns an diesem Tag halten, an dem uns vor Augen steht, wie plötzlich ihn die Kräfte verließen, scheinbar von einem Tag auf den andern.

Das prophetische Wort, das ihn durch sein Leben begleitete, ist ja nicht auf Zeiten der Stärke gemünzt. Es gilt Menschen, die von äußerster Mutlosigkeit heimgesucht sind. Ihre Klage bringen sie vor Gott: „Mein Weg ist vor Gott verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber“ – so klagen sie. Die Ferne Gottes erleben sie, verschleppt nach Babylon, an dessen Wassern sie sitzen und bitterlich weinen. Sie hoffen nicht darauf, dass sie von sich aus einen Ausweg aus diesem Teufelskreis finden können. Da werden sie auf den Schöpfer verwiesen, der die Enden der Erde geschaffen hat. Wer die äußersten Enden der Erde zugleich im Blick hat, wird nicht müde und matt. Wer mit seinem Blick die geschaffene Welt im Ganzen zu umspannen vermag, für dessen Blick ist keine und keiner zu klein: nicht die versprengte Israelitenschar an den Wassern Babylons, nicht wir, die wir heute auch nah am Wasser gebaut haben.

Wenn wir unsere Hoffnung auf ihn richten, gewinnen wir Anteil an seiner Kraft. Dann behält das Gefühl, Gott selbst habe unsere Hoffnungen zerschlagen, nicht das letzte Wort. Denn er selbst macht uns zu einem Gefäß, das seine Stärke aufnehmen kann. Er richtet uns auf, damit wir unsere Augen auf ihn richten können. Wenn Gottes Kraft so in uns Wohnung nimmt, können wir bekennen: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft.“ „Die sein harren, tauschen Kraft ein“ – so haben Martin Buber und Franz Rosenzweig übersetzt.

III.

Unser Gedenken erhält eine Ausrichtung, unser Erinnern wird zum Blick nach vorn. Unsere Trauer rückt ins Licht der Auferstehung. Auch der jähe, unzeitige, unbegreifliche Tod von Rolf Hanusch steht in diesem Licht.

Denn Jesus, der Auferstandene, leiht unserer Trauer sein Ohr. Wir brauchen sie nicht zu verdrängen. Die Verheißung seiner Zukunft schafft Raum für unsere Klage. Mein Aufbegehren gegen diesen unzeitigen Tod will ich nicht verschweigen – und wem wäre es anders gegangen? Ich will dieses Aufbegehren, das mir durch alle Sinnen und Glieder fuhr, nicht verleugnen; ich will mich des Protests gegen diesen Tod nicht schämen.

Ich muss das sehr persönlich sagen: Hier in Berlin war Rolf Hanusch für mich ein Weggefährte der ersten Stunde. Wenig jünger als ich, war er  der um kurze Zeit ältere Berliner. Erste Verabredungen hatten wir getroffen vor unser beider Beginn, so als hätten wir uns schon immer gekannt; keiner von uns beiden konnte sich daran erinnern, wann wir uns das erste Mal gesehen hatten. Vertrautheit vor dem ersten Wort, das kann es geben. Und wie mir ging es vielen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Akademie zumal, aber auch vielen Menschen weit darüber hinaus – und vor allem natürlich in unvergleichlicher Weise  den Allernächsten: Gisa Hanusch und den beiden Töchtern Anna Katharina und Marie Luise. Wir alle werden schwach angesichts dieses Todes. Die prophetische Zusage wird Rolf Hanuschs Vermächtnis für uns alle: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft“ – ja, gütiger Gott, wir brauchen sie, diese neue Kraft.

Denn nur sie gibt uns den Blick frei, durch verschleierte Augen, auf unser eigenes Leben wie auf das Leben, das heute vor sechzig Jahren in Nördlingen begann. Der Vater, Sparkassendirektor von Beruf, fiel anderthalb Jahre nach Rolf Hanuschs Geburt. Mit der älteren Schwester und der Mutter wuchs er auf; seine Mutter lebt heute 92jährig in Nördlingen. Mit seiner Frau Gisa war er weit über dreißig Jahre verbunden; seine Töchter gehörten zu seinem Leben bis hin zum Jakobsweg.

Eine pädagogische Leidenschaft muss ihn von Anfang an, schon als ganz jungen Theologen, getrieben haben. Religionslehrer im Schulzentrum des Katholischen Familienwerks in Pullach, Studentenpfarrer in Kassel, Leiter des Studienzentrums für Jugendarbeit in Josefstal, Studienleiter für deutschlandpolitische Oberfrankenarbeit und Koordinator der evangelischen Erwachsenenbildung mit Dienstsitz in Bayreuth – und dann: Direktor der Berliner Evangelischen Akademie: so heißen die beruflichen Stationen eines Menschen, dem der Glaube an Gottes Menschenfreundlichkeit zum Bildungsimpuls wurde.

Ein klar gefasster Lebensweg steht vor unseren Augen. Mit ihm verband sich eine innere Gefasstheit, eine „Seelenruhe“, die Rolf Hanusch mit anderen zu teilen verstand. Er schien seiner inneren Mitte gewiss zu sein und hatte deshalb ein weites Herz. Menschen zusammenzuführen, machte er zu seiner Lebensaufgabe. Brückenbauer zwischen Ost und West war er schon, bevor er nach Berlin kam; aber hier wurde er es in besonderer Weise. Zusammenzufügen, was durch die Mauer jahrzehntelang getrennt war – gerade in der Akademiearbeit – ihm traute man es zu. Der christlichen Ökumene ist das letzte Buch gewidmet, das er mit herausgegeben hat. Der Dialog der Religionen wurde ihm ein Herzensanliegen. Vertrauen kam ihm entgegen auch von weiter. „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft.“

Daran wollen wir uns halten. „Die Zukunft beeinflusst die Gegenwart genauso wie die Vergangenheit.“ Darauf verlassen wir uns in dieser Stunde. In der Trauer des Abschieds vergessen wir nicht, wofür wir zu danken haben. Im Gedenken an Vergangenes vergessen wir nicht, worauf wir hoffen dürfen. Und dann fliegen wir auf mit Flügeln wie Adler – ja wirklich. Denn das ist möglich, wenn wir uns nicht allein lassen – gerade jetzt nicht allein. Wie beschreibt Luciano Crescenzo uns Trauernde? „Wir sind die Engel mit nur einem Flügel. Um fliegen zu können, müssen wir uns umarmen.“

So sei es. Rolf Hanusch wird es recht sein. Amen.