Predigt am Sonntag Invokavit in St. Marien zu Berlin

09. März 2003

Dann wurde Jesus von dem Geist in die Wüste hinaufgeführt, um von dem Teufel versucht zu werden; 2 und als er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn schließlich. 3 Und der Versucher trat zu ihm hin und sprach: Wenn du Gottes Sohn bist, so sprich, dass diese Steine Brote werden. 4 Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben: `Nicht von Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jedem Wort, das durch den Mund Gottes ausgeht.

Darauf nimmt der Teufel ihn mit in die heilige Stadt und stellt ihn auf die Zinne des Tempels 6 und spricht zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben: `Er wird seinen Engeln über dir befehlen, und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du nicht etwa deinen Fuß an einen Stein stößt. 7 Jesus sprach zu ihm: Wiederum steht geschrieben: `Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.

Wiederum nimmt der Teufel ihn mit auf einen sehr hohen Berg und zeigt ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit 9 und spricht zu ihm: Dies alles will ich dir geben, wenn du niederfallen und mich anbeten willst. 10 Da spricht Jesus zu ihm: Geh hinweg, Satan! Denn es steht geschrieben: `Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen.

Dann verlässt ihn der Teufel, und siehe, Engel kamen herbei und dienten ihm.

I.

Zu leben heißt, auf die Probe gestellt zu werden. Im Glück zu sein, heißt, Proben zu bestehen. Dass Jesus Proben bestanden hat, wer wollte das bestreiten! Doch auch seine bestandenen Proben führten nicht ins Glück, sondern in den Tod. Wie er auf die Probe gestellt wurde, wird im Bericht über Jesu Versuchung in der Wüste eindrucksvoll beschrieben.

Fjodor Dostojewski soll sogar gesagt haben, wenn die Geschichte von der Versuchung Jesu nicht in der Bibel stünde, müsste man sie erfinden.

Eine ungemein vielschichtige Erzählung tritt uns vor Augen. Unmittelbar nach seiner Taufe durch Johannes am Jordan wird Jesus in die Wüste geführt, um vom Teufel versucht zu werden. Viele halten die Frage nach dem Teufel nicht mehr für aktuell. Teufel, das klingt nach „finsterem Mittelalter“, darüber sind wir doch längst hinaus, sagen sie. Anderen ist der Teufel näher als Gott. „Glauben Sie an Gott?“ fragte mich eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern. Andere aber fielen sofort ein mit der Frage: „Glauben Sie an den Teufel?“ Wie würden Sie die beiden Fragen beantworten? Satanskulte sind jedenfalls unter Jugendlichen heute weiter verbreitet, als man sich das vorzustellen vermag.

Dagegen, sich das Böse in Person vorzustellen, sträubt sich dennoch vieles in uns. Wir deuten uns das Wort „Teufel“ lieber im Sinn einer unpersönlichen Wirklichkeit, einer bedrohlichen Macht. Sie überfällt uns plötzlich oder setzt sich allmählich in unserer Welt oder in unserem Leben durch. Sie reißt uns bei mancher Gewissensentscheidung hin und her; sie wird womöglich Teil unserer selbst. Ob wir uns das Böse als Person vorstellen sollen, mögen wir bezweifeln. Dass es uns bedrohlich nahe kommen kann, lässt sich nicht bestreiten. Wer das leugnet, hat sich eine Naivität bewahrt, die ich gerade nicht kindlich nennen möchte.

II.

Am Jordan, so berichtet das Matthäusevangelium, wurde Jesus von Johannes dem Täufer selbst getauft; dadurch wurde er seiner Berufung gewiss: „Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ Doch Jesus ging nicht etwa nach Jerusalem, um seine Berufung unter Beweis zu stellen. Er ging vielmehr in die Wüste, um zu fasten. Vierzig Tage und Nächtete fastete er -  also anders als im moslemischen Fastenmonat Ramadan üblich, nicht nur am Tag, sondern auch in der Nacht. Die runde Zahl 40 steht immer für eine einschneidende, unter Umständen lebensverändernde Frist. Vierzig Tage und Nächte ist Mose auf dem Berg Sinai oder Elia in der Wüste; vierzig Tage beträgt die Bußfrist für die Stadt Ninive; vierzig Tage gelten dem Alten Testament Gebärende nach der Geburt eines Sohnes als unrein. Mit vierzig Jahren wird die Zeitspanne angenommen, in der ein Mensch wirklich zur Reife kommt; vierzig Jahre sind die Zeit, die eine Generation zusammen leben kann. Vierzig Jahre blieb das Volk Israel in der Wüste, bevor mit dem Einzug in das gelobte Land ein neuer Abschnitt in seiner Geschichte beginnen konnte.

Uns selbst tritt die Bedeutung solcher vierzig Jahre immer wieder ins Bewusstsein. Das Datum vierzig Jahre nach Kriegsende hat 1985 viele Menschen bewegt und Bundespräsident Richard von Weizsäcker zu einer unvergessenen Rede veranlasst. Vierzig Jahre nach dem Bau der Mauer haben wir uns vor zwei Jahren an ihre trennende, einengende, bedrängende Wirkung erinnert. Manchen war das im Zeitabstand noch wichtiger als die fünfzig Jahre, die uns in diesem Jahr vom Aufstand des 17. Juni 1953 trennen.

Auch die vierzig Tage sind als ein wichtiger Zeitraum noch in unserem Bewusstsein; jedenfalls prägen sie den kirchlichen Kalender. Vierzig Tage dauert die Passionszeit, in die wir mit dem Mittwoch der vergangenen Woche eingetreten sind. Vierzig Tage aber dauert auch die Zeit von Ostern bis Himmelfahrt. Tage der Klärung, der Entscheidung, der Versuchung. Für Jesus werden die vierzig Tage in der Wüste zu Tagen der Versuchung. 

Jesus widersteht der ersten Versuchung des Teufels, das Fasten abzubrechen. Steine soll er in Brot verwandeln. Jesus verweigert sich der Brotfrage. Er tut es mit dem ganzen Gewicht der biblischen Überlieferung, in der er steht. Er antwortet dem Versucher, der Mensch lebe nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt.

Die zweite Versuchung führt Jesus in die Hauptstadt, an den Ort des religiösen und politischen Zentrums - nach Jerusalem. Vom Dach des Tempels soll er herabspringen und unter Beweis stellen, dass er gerettet wird. Er soll seine göttliche Erwählung demonstrativ zur Schau stellen. Jesus aber verweigert sich auch der Showfrage. Du sollst Gott, deinen Herren, nicht versuchen, antwortet er.

Die dritte Versuchung Jesu ist es, alle Macht zu bekommen, im Himmel und auf Erden, wenn er niederfällt und den Teufel anbetet. Der demütige Kotau vor der Verführung der Macht soll ihm alle Macht eintragen. Jesus aber verweigert sich auch der Machtfrage. Selbstbewusst und wütend ruft er: Fort, Teufel, weg mit dir. Es steht geschrieben: Gott, deinen Herrn sollst du anbeten und ihm allein untertan sein.

III.

Du hattest kein Recht, auf die Angebote des Teufels nicht einzugehen. Der Großinquisitor hält Jesus das entgegen. In Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasoff“ tritt er uns entgegen. Er schleudert Jesus seinen Einwand entgegen; denn er ist davon überzeugt, er selbst müsse nun im Namen der Kirche die Fragen lösen, denen Jesus sich durch seine Verweigerung entzogen hat: die Brotfrage, die Showfrage, die Machtfrage. Hart ist der Vorwurf des Großinquisitors, Jesus habe ihm, habe der Kirche die unangenehme Arbeit überlassen, die mit den teuflischen Versuchungen dieser Welt verbunden sind. Und Jesus schweigt. Unerbittlich schweigt er sich aus und lässt den Großinquisitor reden. Am Ende gibt er ihm nur einen rätselhaften Kuss auf die vertrockneten Lippen. Vielleicht sollten wir es bei diesem Kuss belassen und das Rätsel nicht auflösen.

Denn in Wahrheit ist Jesus das Rätsel, nicht der Großinquisitor. Mit leeren Händen kommt er in diese Welt, mit nichts als einer göttlichen Verheißung. Die Verheißung der Freiheit bringt er mit, ohne Brot, ohne Show, ohne Macht. Die glühenden Steine in der Wüste, sie bleiben Steine. Nichts unternimmt Jesus, damit die Menschen ihm wie eine gefügige Herde nachlaufen, weil er doch Brot schafft, Arbeitsplätze aus dem Boden stampft, neuen Wohlstand verheißt, ohne dass dafür Opfer nötig sind, Brot ohne Schweiß und ohne Tränen. Wir alle wissen, wie sehr wir uns auch heute so einen wünschen, der das Brot sichert und die Arbeitsplätze dazu, Gesundheitsvorsorge auf höherem Niveau, aber mit niedrigeren Beiträgen, Sicherheit der Renten auch dann, wenn uns das Aufwachsen einer nächsten Generation gar nicht mehr kümmert. Ein Wort – und aus den Steinen wird Brot. So einen hätten wir gern. Freiheit und Brot für alle, wir wollen beides zugleich – Brot für alle ohne zu teilen und Freiheit ohne Rücksicht auf die Freiheit des andern.

Die Show verweigert Jesus genauso wie das Brot – das Rätsel ist ebenso unbegreiflich. Was verlangen wir heute dringlicher als die Show: The show must go on. Jung und alt hängen am Fernseher und wollen wissen, wer unser Land beim Grand Prix vertritt; nicht die Qualität eines Lieds, sondern die Inszenierung der Show entscheidet. Jung und alt sitzen vor dem Apparat und betrachten Mobbing auf Kommando. Hinterher wenden sie sich empört ab; aber sehen wollten es alle. Wer will uns im Ernst ein Leben ohne Show zumuten?

Auch der Machtfrage entzieht sich Jesus. Freiwillig sollen die Menschen ihm nachfolgen, ohne jeden Zwang. Sollte Jesus nicht bedacht haben, dass Menschen seine Wahrheit verwerfen und bestreiten müssen, wenn sie ihnen so aufgebürdet wird – ohne Entlastung durch die Übermacht eines Gottes, der sie zum Glauben nötigt? Menschen sehnen sich doch danach, dass die Machtfrage entschieden ist.

IV.

Nach der Taufe am Jordan kommt erst die Versuchung in der Einsamkeit der Wüste und später der Weg ans Kreuz. Aber das ist Jesu Geschichte, nicht meine. „Ich bin doch nicht Jesus!“ Diese oft und leichtfertig dahingeworfene Bemerkung geht vollständig in Ordnung: Ich bin doch nicht Jesus. Aber was ist ihre Konsequenz? Sollen wir es wie der Großinquisitor halten und sagen: Wir müssen den Angeboten des Teufels folgen, gerade weil Jesus sich ihnen verweigert hat?

Hängt es damit zusammen, dass wir manchen Versuchungen ganze Scheunentore öffnen? Versuchungen sind freilich darunter, die in Jesu Geschichte keinerlei Rolle spielen. Eine sexuelle Versuchung ist nicht darunter, selbst wenn unsere Kirchenzeitung neben die Geschichte von der Versuchung Jesu das Bild einer verlockenden Frauengestalt setzt. Ist das auch ein Hinweis darauf, dass es sich eben um Jesu Versuchung handelt und nicht um unsere? Einen Bereich spreche ich damit an, in dem Versuchungen heute auf eine Weise bekanntgemacht werden, die schon ihrerseits beleidigend ist. Denn mit Schamschwellen wird gar nicht mehr gerechnet; hinhaltender Widerstand wird nicht erwartet; scheinheilige Entrüstung oder gar biblische Zitate – „Du sollst nicht ehebrechen“ könnte einem einfallen – sind nicht vorgesehen. So plump werden Fremdgehangebote zum Wochenende veröffentlicht; so entwürdigend wird menschliche Sexualität in Fernsehkanälen oder Internetseiten feilgeboten.

Auch andere Versuchlichkeiten stoßen bei uns selbst auf mehr Echo, als wir öffentlich zuzugeben bereit wären. Wer hätte nicht insgeheim in den letzten Tagen gedacht, vielleicht sei der Einsatz der Folter doch nicht so schlecht, um eine Aussage zu erpressen und damit Menschenleben zu retten? Nicht dass wir das öffentlich zugeben würden; aber wenn wir in der Lage des Polizeivizepräsidenten von Frankfurt am Main gewesen wären, wie hätten wir gehandelt? Öffentlich darüber reden – nein; ein solcher Flächenbrand muss vielmehr schnell zertreten werden. Aber insgeheim denken muss man so etwas vielleicht doch.

Der Teufel spricht nichts aus, was wir nicht selbst auch schon gedacht hätten. Mit einem Schlag Ordnung schaffen, wäre das nicht doch die Lösung? Wir wehren uns zwar gegenwärtig gegen die Kriegspläne der Vereinigten Staaten. Aber haben wir es insgeheim nicht doch akzeptiert, dass der geschichtliche Fortschritt nur durch Blut und Tränen kommt? Vertrauen wir wirklich auf den Geist gewaltfreier Revolutionen – oder misstrauen wir ihm eher, obwohl wir doch selbst eine erlebt haben?

Fragen über Fragen. In der Begegnung zwischen Jesus und dem Teufel sollten wir nicht zu schnell für Jesus Partei ergreifen. Ich bin doch nicht Jesus! Wir sollten den Teufel nicht zu schnell von uns schieben. In Wahrheit spricht er nur aus, was wir auch selbst schon gedacht haben. Von seinen Versuchungen befreien wir uns nicht selbst. Es ist gut, dass einer ihnen wirklich widerstanden hat. Weil einer für alle in der Wüste gefastet hat, braucht niemand von uns dem Teufel nach dem Mund zu reden. Amen.