Predigt im Gottesdienst bei Beginn des Irak-Krieges im Berliner Dom (Psalm 85,11)

20. März 2003

I.

„...daß Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich
küssen;“ Wie aus einer ganz fernen, fremden Welt kommt dieses Psalmwort zu uns, das wir vorhin miteinander gebetet haben. Kann es uns an diesem Abend erreichen? Kann es zu uns sprechen?

Ja, es spricht zu uns. Auch der Schrecken, der heute seinen Anfang genommen hat, löscht die Verheißung nicht aus, dass Gott Gerechtigkeit und Frieden für die Menschen will, nicht Rechtlosigkeit und Gewalt. Deshalb sind unsere Gedanken an diesem Abend vor allem bei den ersten Opfern des Krieges und ihren Angehörigen. Jedes Menschenleben ist gleich kostbar; der Wert eines Menschen richtet sich nicht nach seiner Nationalität. Und wir werden nicht nachlassen zu mahnen: Jedes Menschenleben, das kriegerischer Gewalt zum Opfer fällt, ist ein Menschenleben zu viel.

Und unsere Gedanken sind heute Abend bei den Menschen in unserem Land wie in anderen Ländern, in dieser Stadt Berlin wie in anderen Städten, die von Kriegsangst heimgesucht werden. Manche haben den Krieg noch selbst erlebt ﷓ und sei es, wie ich selbst, als Kind. Manchen ist der Feuerschein brennender Häuser, die Explosion mörderischer Bomben, die Unerbittlichkeit des Kugelhagels unvergesslich. „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein" haben unsere Kirchen nach dieser Erfahrung gesagt. Diese Einsicht gilt auch für das, was heute begonnen hat. Auf Gottes Willen kann sich dafür niemand berufen. Es ist menschlicher Wille, der hier wirkt. Fehlbares menschliches Handeln ist am Werk. Und wir sagen dazu: Dieser Krieg ﷓ wie jeder Krieg ﷓ muss so schnell wie möglich an ein Ende kommen. Politisches Handeln und politische Verantwortung müssen wieder an seine Stelle treten.

Viele sind von Sorgen umgetrieben, viele haben diese Sorgen auch hier in unseren Gottesdienst mitgebracht. Wir tragen diese Sorgen miteinander vor Gott: die Sorge um die eigene Sicherheit, die Angst vor terroristischen Anschlägen, die Befürchtung, dass das friedliche Miteinander der verschiedenen Kulturen und Religionen in unserer Stadt und unserem Land Schaden leiden könnten. Aber wir kapitulieren nicht vor solchen Sorgen. Wir vertrauen auf die Kraft, die uns hilft, aus ihnen herauszufinden.

II.

Gerechtigkeit und Friede sollen sich küssen, sagt der Beter im Psalm. Wir melden Zweifel an. Wir stehen unter dem Eindruck, dass beides sich auflöst, die Gerechtigkeit und der Friede. Wir zweifeln daran, dass die politische Welt, in der wir leben, dafür noch Raum bietet: Raum für die Begegnung von Gerechtigkeit und Frieden, Raum für einen gerechten Frieden.

Mit dem Beginn des Angriff auf den Irak heute in den frühen Morgenstunden sind die Bemühungen um eine politische Lösung des Irakkonfliktes abgebrochen worden. Ohne ein Mandat der Vereinten Nationen wird unter Führung der amerikanischen Regierung militärische Gewalt eingesetzt. Dreitausend präzisionsgesteuerte Bomben, so kann man lesen, sollen in den ersten 48 Stunden dieses Krieges abgefeuert werden: auf Luftabwehrstellungen und Kommunikationseinrichtungen, auf politische und militärische Hauptquartiere. Aber all diese Ziele liegen nicht im menschenleeren Bereich. Sie liegen in bewohnten Städten. Nicht in die Wüste wird dieser Krieg getragen, sondern in die Wohngebiete von Kindern und Alten, von Frauen und Männern. Tausende Opfer in der Zivilbevölkerung werden zu beklagen sein. Flüchtlingsströme, Hunger, Elend und Not werden dem Bombardement folgen. Während die einen ihre militärischen Einsätze planen, haben deshalb die anderen begonnen, über das Danach zu diskutieren. Die Bundesregierung hat ihre Hilfsbereitschaft angekündigt; der Bundeskanzler hat das vorhin bekräftigt. Auch auf der Konferenz der Regierungschefs der EU, die zur Stunde in Brüssel tagt, wird man darüber reden: über humanitäre Hilfe und späteren Wiederaufbau. Ein Irak ohne Massenvernichtungswaffen soll wieder zu einem angesehenen und prosperierenden Mitglied der Völkerfamilie werden. So hat es die Bundesregierung heute gesagt.

Müssen erst Tod und Zerstörung um sich greifen, damit für die Mühen von humanitärer Hilfe und Wiederaufbau Raum geschaffen wird? Mir will ein solches Vorgehen nicht in den Kopf. Dabei verkenne ich die Verbrechen und die Gefährlichkeit von Saddam Hussein nicht. Gewiss ist er nicht der einzige Diktator auf dieser Welt, aber besonders zynisch und menschenverachtend ist er. Ungezählte Menschen hat er vor alter Augen an Galgen aufknüpfen lassen. Die kurdische Minderheit im Norden des Landes hat er so drangsaliert, dass sie den Krieg begrüßt, weil sie auf ein Ende der Diktatur hofft. Kuweit und den Irak hat er mit Krieg überzogen. Ohne den ersten Golfkrieg hätte er vielleicht schon die Atombombe. Die Befürchtung, er verfüge über Massenvernichtungswaffen, ist nicht von der Hand zu weisen.

Ihn daran zu hindern, ist das erklärte Ziel der Vereinten Nationen. Viele ihrer Resolutionen hat er missachtet. Die Resolution vom November dagegen hat allmählich ein Echo gefunden, gewiss auch dank der militärischen Drohung, von der sie begleitet war. Aber nun wird eingesetzt﷓, womit bisher gedroht wurde. Die Waffeninspekteure haben das Land verlassen.

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat am 24. Januar ausdrücklich erklärt: "Wer von der Androhung zur Ausübung militärischer Gewalt übergehen will, schuldet dem Weltsicherheitsrat und der Weltöffentlichkeit den Nachweis, dass sämtliche Versuche, die Resolution der Vereinten Nationen durchzusetzen, endgültig versagt haben." Ausdrücklich haben wir damals unsere Überzeugung ausgesprochen, dass die Handlungshoheit bei den Vereinten Nationen liegt und dass ein Automatismus des militärischen Handelns nicht in Frage kommen kann.

Sind diese Bedingungen in der Zwischenzeit erfüllt worden? Meine persönliche Antwort heißt eindeutig: Nein. Die Berichte der Waffeninspekteure wurden in den Wind geschlagen; Fortschritte bei der Entwaffnung des Irak wurden für gleichgültig erklärt. Dass jetzt im Irak Krieg herrscht, geschieht ausdrücklich gegen das Votum von Hans Blix; und es wäre gegen das Votum des Sicherheitsrats, wenn man ihn denn gefragt hätte. Von einem "äußersten Mittel", nachdem alle anderen Versuche fehlgeschlagen sind, kann nach meinem Urteil nicht die Rede sein.

Offen und unverdeckt wird jetzt gesagt, die Absetzung des Diktators sei das Ziel des Kriegs. Im Januar haben wir für die Evangelische Kirche gesagt: „Nach den Regeln des Völkerrechts wäre ein Angriff auf den Irak derzeit nicht zu rechtfertigen ... Erst recht kann ein Krieg allein zum Zweck des Regimewechsels in einem anderen Staat nicht in Frage kommen." Wir können gar nicht anders, als diesen Überzeugungen treu zu bleiben. Dann aber müssen wir sagen: Dieser Krieg ist ein Bruch des Rechts. Er ist damit auch nicht vereinbar mit den ethischen Grundsätzen. die Christen über alle Grenzen miteinander verbinden.

III.

Dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen, werden wir unter den Bedingungen menschlicher Fehlbarkeit und Schuld gewiss nie ungeteilt erleben. Aber dass wir uns einem gerechten Frieden immer wieder annähern, bleibt eine unaufhebbare Aufgabe politischen Handelns. Ein erster Schritt dazu besteht darin, dass wir dem Recht zur Herrschaft verhelfen, wo immer wir können. Dass nicht das Recht des Stärkeren regiert, sondern die Stärke des Rechts, ist die erste Voraussetzung dafür, dass wir unsere Schritte auf den Weg des Friedens lenken. Die Herrschaft des Rechts aber hat mit dem heutigen Tag einen schweren Rückschlag erlitten. Um einen Diktator zu stürzen, hat sich die Völkergemeinschaft vom Völkerrecht entfernt. Weil er das Recht bricht, so scheint es, braucht das Recht nicht geachtet zu werden. Aber auf Rechtsbruch mit Rechtsbruch zu antworten, ist kein Weg zum Frieden.

Deshalb haben wir als Kirche wieder und wieder erklärt, wenn militärische Gewalt als äußerstes Notmittel als unvermeidlich gilt, soll, ja muss ihr Einsatz vorher von der Staatengemeinschaft geprüft, an strengen Maßstäben gemessen und dann gegebenenfalls gebilligt werden. Von dieser Erwartung ist nichts übrig geblieben. Von der Handlungshoheit der Vereinten Nationen sind wir heute weiter entfernt als jemals seit dem Jahr 1990.

Bei aller darin begründeten Kritik an der Entscheidung der US﷓Regierung ist nicht vergessen: Die Ursache des Irak﷓Konflikts liegt im Bemühen von Saddam Hussein, über Massenvernichtungswaffen zu verfügen. In der Hand eines Diktators sind solche Waffen ein unkalkulierbares Risiko für unsere Welt. Aber über alle Grenzen hinweg sind Christen in der Gewissheit verbunden, dass die Antwort auf diese Situation nicht in einen Teufelskreis der Gewalt führen darf, der das Leiden der betroffenen Menschen vermehrt, statt es zu beenden. Deshalb halten wir uns auch in diesen Tagen an das Wort des Apostels Paulus: "Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem." (Römer 12.21).

Deshalb beteiligen wir uns nicht daran, wenn von beiden Seiten religiöser Glaube, ja der Gottesname in Anspruch genommen wird. Saddam Hussein hat heute morgen von einem "heiligen Krieg“ gesprochen. Ich halte seinen Umgang mit der Religion für genauso zynisch wie sein Handeln überhaupt. Dass er Menschenleben aufs Spiel setzt, um die eigene politische Macht und den damit verbundenen Reichtum zu erhalten, hat gewiss mit Heiligkeit in keinem Sinn dieses Wortes irgend etwas zu tun.

Aber wenn Präsident Bush auch im Blick auf diesen Kriegsgang darum bittet, Gott segne Amerika ﷓ God bless America ﷓ , klingt darin ein Ton mit, als seien die Vereinigten Staaten von Amerika auf besondere Weise auserwählt, am Segen Gottes stärker Anteil zu haben als irgend ein anderes Land. Gottes Segen aber ist nicht parteilich; er gilt allen Menschen gleich. Er lässt sich nicht für die eigene Sache in Anspruch nehmen; er lässt sich nur mit anderen teilen. "Ihr sollt ein Segen sein“ ﷓ so werden wir in wenigen Wochen beim Ökumenischen Kirchentag hier in Berlin sagen. Und es wird uns dann hoffentlich allen bewusst sein, dass den Segen Gottes verspielt, wer ihn für sich selbst behalten oder okkupieren möchte. Er schließt nämlich niemanden aus; er meint alle gleich.

Gerade in diesen Tagen, ja gerade an diesem Tag weiß ich mich mit vielen Freunden und Mitchristen in Amerika besonders verbunden. Dass ich mich an der amerikanischen Kriegsentscheidung reibe, ja: wund reibe, hat für mich mit Antiamerikanismus nichts zu tun. In der amerikanischen Demokratie gibt es viele Menschen, viele Strömungen, auch viele Kirchen, die das gegenwärtige Handeln ihrer Regierung mit großer Kritik sehen und lieber heute als morgen den Übergang zu einem anderen Weg wünschen: zu einem Weg des gerechten Friedens, wie sie sagen. Mit ihnen sind wir heute ganz besonders verbunden in unserem Gebet.

IV.

Das Gebet führt uns zusammen am heutigen Tag. Beter schielen nicht auf den Erfolg; deshalb schließen wir häufig die Augen beim Gebet. Beter kalkulieren nicht die Wirkung; aber sie vertrauen darauf, dass ihr Gebet bei Gott nicht ohne Wirkung bleibt. Wie unser Gebet erhört wird, wissen wir nicht. Aber dass Gott unser Gebet erhört. darauf vertrauen wir, gerade an diesem Tag. Amen.