Predigt im Gottesdienst für die Opfer des Terroranschlages auf Djerba

11. April 2003

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde“ so haben wir in der Lesung aus dem Neuen Testament die Verheißung Gottes gehört. Die Sehnsucht, dass eine solche Verheißung sich erfüllt, wohnt tief in vielen von uns. Reisen werden uns immer wieder zu Gleichnissen für diese Sehnsucht. Einen neuen Himmel erleben, auf einer neuen Erde stehen: wenigstens für ein paar Wochen wollen wir das erleben. Nicht umsonst erwarten viele Menschen vom Urlaub ein Stück Paradies; man weiß, dass man danach wieder in den Alltag zurückkehrt; doch er lässt sich leichter bewältigen, denn die Erinnerung bleibt.

Die Sehnsucht nach einem neuen Himmel, nach einem strahlend blauen Himmel, wie er im April nur am Mittelmeer zu sehen ist, die Sehnsucht nach einem neuen Stück Erde auf dem Boden Afrikas – diese Sehnsucht hat Ihre Angehörigen und manche von Ihnen selbst vor einem Jahr nach Tunesien aufbrechen lassen. Ein Urlaubsparadies am Mittelmeer wollten sie erleben, und zwar in einer Jahreszeit, in der das deutsche Aprilwetter das Reisen leicht macht und die noch erträglichen Temperaturen an der Nordküste Afrikas das Leben genießen lassen. Die Sehnsucht nach dem weiten Himmel mit seinem besonderen Licht und der Wunsch, sich zu erholen, die Last der Tage hinter sich zu lassen, hat sie alle miteinander vereint.
 
Genau auf den Tag liegt es jetzt ein Jahr zurück , dass eine gewaltige Explosion die Insel Djerba erschütterte und die Synagoge La Ghriba zerstörte. Ein unbeschwerter Urlaub fand ein jähes Ende. Zu heftig war die Kraft der Explosion, die der mit Flüssiggas beladene Transporter auslöste, als dass man sich hätte retten können. 19 Menschen fanden den Tod. 14 von ihnen kamen aus Deutschland.

Heute, ein Jahr nach diesem schrecklichen Donnerstag im April, sind wir hier zusammen, um der Menschen zu gedenken, die nicht mehr unter uns sind. Mütter und Väter, Geschwister, Freunde und Nachbarn, mit denen Sie Ihr Leben geteilt haben und die Sie lieben. Wie vieles hat sich seit dem 11. April 2002 verändert! Kinder wachsen ohne ihre Eltern auf. Bei den Familienfesten bleiben Plätze frei. Großeltern sehnen sich nach den Stimmen ihrer Enkel. Noch immer erschrecken wir über diesen plötzlichen, unzeitigen, gewaltsamen Tod. Verzweifelt sind wir über den Riss, den er unserem Leben zufügt.

Auch nach einem Jahr noch, ja vielleicht gerade nach einem Jahr meldet sich der Wunsch, das Rad zurückzudrehen, ungeschehen zu machen, was damals geschah. Musste der Urlaub sein? War die Teilnahme an dem Besuch der Synagoge nötig? Warum der Schrecken der Todesnachricht statt der Freude über die Heimkehr des geliebten Menschen? Warum passierte es gerade auf Djerba – und ausgerechnet an diesem Tag? Warum greift der Tod so jäh in unser Leben ein – warum, warum? Die Lähmung der ersten Tage und Wochen ist gewichen. Die Unbeschwertheit hat das Leben nicht zurück bekommen.

Wir denken heute aber nicht nur an die Toten jenes Tages. Wir sind heute auch mit Ihnen vereint, die Sie diesen hinterhältigen Anschlag überlebt haben, die Sie durch lange Behandlungen und ärztliches Geschick geheilt werden konnten. Sichtbare Narben am Körper erinnern erkennbar an diesen Tag. Aber auch die Narben an der Seele, unsichtbar zumeist, zeugen von dem Schrecken. Alpträume begleiten manche Nacht und die Angst jeden Knall; immer wieder wird die Furcht wach, dass sich Vergleichbares wiederholen könnte. Wir denken an diejenigen unter uns, die an dem Besuch der Synagoge nicht teilgenommen haben, die bewahrt geblieben sind. Welche Gedanken der Erleichterung und der Trauer um andere zugleich mögen in Ihnen sein.

Noch immer sind wir erschrocken über den menschenverachtenden Zynismus jener Mordtat vom 11. April 2002, genau sieben Monate nach dem 11. September 2001. Es gehört zu diesem Zynismus, dass ihm Menschen zum Opfer gefallen sind, die sich mit dem Besuch einer Synagoge an einem Ort des Glaubens befanden und sich somit dem Geheimnis des Glaubens näherten. Wenn es eine Lehre für die drei großen Religionen gibt, die auf unterschiedliche Weise von diesem Terrorakt berührt sind, dann nur diese eine: Kein Glaube an Gott rechtfertigt es, das Leben eines Menschen zu verletzen, ihn zu töten oder seine Würde zu beschädigen. Immer wieder ist seit dem 11. September der Gottesname für mörderische Anschläge auf Menschenleben in Anspruch genommen worden. Doch ein solcher Missbrauch des Gottesnamens ist nichts anderes als Gotteslästerung, in welcher Religion auch immer er geschieht.

Dass wir hier versammelt sind, ist ein Ausdruck bleibender Trauer und bleibenden Mitgefühls. Sie, die Hinterbliebenen, Sie die Überlebenden und die Unversehrtgebliebenen sind von Menschen umgeben, die mit Ihnen fühlen, die sich in sie hineinversetzen wollen, die das Geschehene mit Ihnen tragen wollen. Wir trauern mit den Angehörigen, mit Ehepartnern und Eltern, mit den Kindern, die nicht wissen, wie ihnen geschah. Erreicht unser Mitgefühl Ihr Herz? Kann es Sie trösten? Oder brauchen wir einen Trost, der tiefer gründet?

In dieser Woche begleitet uns in unserer Kirche ein biblisches Wort, das uns über all Ängste und Zweifel hinausweisen will: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele“ (Matthäus 20, 28).

Dieses Wort wird uns heute zugesprochen und will auf seine Weise auch die erreichen, denen der christliche Glaube fremd sein mag. Es spricht uns an diesem Freitag an, genau eine Woche vor dem Freitag, den wir den Karfreitag nennen, eine Woche vor dem Tag, an dem die Christenheit sich an den Tod Jesu Christi erinnert. Christus ist gemeint mit dem „Menschensohn“, von dem in diesem Wort aus der Leidensgeschichte Jesu die Rede ist. Sein Weg ans Kreuz erscheint nicht als ein sinnloser Weg. Sondern in aller scheinbaren Ausweglosigkeit ist es ein Weg, der Heil und neues Leben in sich enthält. Er gibt sein Leben zu einer Erlösung für viele.

Am Kreuz ist er gestorben, am Kreuz nimmt er stellvertretend das menschliche Leiden auf sich. Im Aufruhr unseres Herzens fragen wir ihn unvermittelt: Warum, warum? Bei ihm findet unser Fragen ein Echo, bei ihm, der selbst am Kreuz ausrief: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Aber mit diesem Ruf der Gottverlassenheit kommt er in Wahrheit in Gottes Nähe. Der Tod hat nicht das letzte Wort, sagt er uns; denn er selbst ist aus dem Tod ins Leben übergegangen. Die Arme, die am Kreuz ausgebreitet sind, umfangen uns, sie werden zu Armen der Liebe. Der Weg Jesu ans Kreuz sagt uns: Nicht der Tod hat das letzte Wort, sondern die Liebe. Gott macht nicht ungeschehen, was geschah, aber er birgt es bei sich und hilft uns, es zu tragen. Er wendet sich uns zu; denn Jesus, der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.

Wir, die wir an diesem 11. April im Gedenken an menschliches Leiden und Sterben versammelt sind, haben in unserem bisherigen Leben zu dem leidenden und sterbenden Christus gewiss eine sehr unterschiedliche Nähe empfunden. Den einen von uns mag er schon nahe gekommen sein, den anderen ist er fremd geblieben. Wie auch immer es um unseren Glauben stehen mag, wir sind ihm willkommen. Ob der Glaube an Christus uns bisher getragen hat und wie weit, wir alle dürfen den Schmerz dieses Tages auf ihn werfen; denn er ist der Anfänger und Vollender des Glaubens. Er nimmt unsere Klage an, woher sie auch kommt. Er hört unseren Ruf, auch wenn er zum ersten Mal laut wird. Er wendet sich den Klagenden und Rufenden zu; Vorbedingungen dafür kennt er nicht.

Am Kreuz wird er für uns zum Zeugen der Liebe Gottes. Er segnet uns als der Auferstandene. Gott tritt dem Leiden entgegen, indem er sich auf die Seite der Leidenden stellt; er nimmt dem Tod die Macht, indem er den Tod auf sich nimmt. 

An Gottes barmherziger Liebe findet die Macht des Todes ihre Grenze. Diese Liebe hört niemals auf. Sie hält uns, wenn wir unsere Ohnmacht erfahren. Sie richtet uns auf, wenn unsere Hoffnungen zerstört werden und nur noch Fassungslosigkeit zurückbleibt. All das kann uns nicht scheiden von Gottes barmherziger Liebe.

Diese Liebe Gottes möge Sie alle geleiten. Sie richte die Trauernden auf und stelle ihnen Menschen zur Seite, die mit ihnen gehen. Menschen, die miteinander durch die Erfahrung dieses Leides gegangen sind, können einander beistehen und einander Zeichen der Liebe geben. Wir alle können lernen, Konflikte hinter uns zu lassen, die uns an den Grenzen unseres Lebens oft so nichtig sind. Die Verantwortung für das Leben unserer Mitmenschen tritt uns aufs Neue nahe; wir wollen sie wahrnehmen, so gut wir können. Doch die Liebe Gottes warnt uns vor falschen Sicherheiten; sie bewahrt uns auch davor, in der Angst vor den Risiken des Lebens zu erstarren; denn wir können nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Die Liebe Gottes ermutigt diejenigen, die sich um die Rettung von Menschen in äußerster Lebensgefahr mühen. Auch wenn ihr Mühen vergeblich ist, ist es doch nicht umsonst. Zeichen der Liebe zum Nächsten werden so gesetzt.

Über all dem steht die Liebe Gottes. Ihr befehlen wir alle an, die in Djerba, aber auch in den Kliniken in Hamburg und Berlin ums Leben kamen – jede und jeden einzelnen. Wir vertrauen sie Gott an in der Gewissheit, dass ihre Namen im Himmelgeschrieben sind.  Amen.