Predigt im Festgottesdienst am Ostersonntag im Berliner Dom

20. April 2003

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

I.
Wie gern, liebe Gemeinde, würde ich Ihnen über das Osterlachen predigen. Noch lieber würde ich das Osterlachen bei Ihnen hervorrufen: der ganze Berliner Dom von Lachen erfüllt; und die Hörerinnen und Hörer an den Radios, die jetzt mit uns verbunden sind, würden zumindest schmunzeln.

Aber nicht das Osterlachen, sondern der Osterschrecken ist heute unser Thema. „Die Frauen sagten niemandem etwas; denn sie fürchteten sich.“ So endet das Osterevangelium. Furchtsame Verschwiegenheit steht am Ende. Zum Glück behält sie nicht das letzte Wort. Spötter sagen, deshalb sei der Auferstandene zuerst den Frauen begegnet. Denn Frauen könnten so etwas nicht für sich behalten. Ich halte diesen Witz nicht für besonders gelungen.

Denn ihre Treue ist es, deretwegen die Frauen schon bei Morgengrauen zum Grab Jesu gehen. Den Geruch der Verwesung wollen sie noch einmal übertönen durch kostbares, wohlriechendes Öl, das sie Jesus zu Liebe gekauft haben. Mutig ist es, dass sie sich zu dem Grab eines Menschen auf den Weg machen, der als Verbrecher hingerichtet wurde. Einen letzten Liebesdienst wollen sie ihm erweisen. Dass sein Tod endgültig ist, steht für sie nicht in Frage.

Doch die Ordnung des Abschieds wird durchbrochen. In unerwarteter Weise wird Ostern zur „Stunde der Frauen“. Etwas Ungeheuerliches geschieht. Unvorbereitet stehen sie vor der erschütternden Botschaft: Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Das überwältigt sie. Sie erschrecken zutiefst – und das zu Recht. Wer verträgt schon im Schatten des Todes das gleißende Licht der Auferstehung?

Ein Toter erwacht zum Leben. Wo immer das geschieht, liegen Furcht und Zittern nahe. Da wird ein totgeglaubter Bergmann aus dem Stollen eines Bergwerks gerettet; seine Frau bricht zusammen. Da verschwindet ein Kind; man glaubt, es sei von Gewalttätern entführt. Überraschender Weise kehrt es doch zurück, verstört, aber heil. Doch der erwartete Jubel bleibt aus. Tränen sind die Antwort, nicht Jubelschreie. Da erwacht eine Mutter aus dem Koma, aus dem es eigentlich kein Erwachen gab. Wie soll es jetzt weitergehen, fragen die Kinder. Erschütterung ist die erste Reaktion.

Mit Furcht und Zittern antworten wir auf die Erfahrung von Sterben und Tod. Aber wenn Gottes Macht so überwältigend zu spüren ist, dann erschüttert das noch tiefer als der Tod. „Jesus ist kommen, nun springen die Bande, Stricke des Todes, die reißen entzwei. Unser Durchbrecher ist nunmehr vorhanden; er der Sohn Gottes, der machet recht frei.“

Wenn Gottes Macht die vertrauten Abläufe durchbricht, wanken die Grundfesten. „Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg?“ Wenn so gefragt werden muss, gerät die Welt aus den Fugen. Nichts ist mehr so, wie es war. Denn der Tod herrscht nicht mehr über das Leben. Sondern das Leben siegt über den Tod. Die Gewalt behält nicht das letzte Wort, sondern die Liebe. Das ist Ostern, eine erschütternde Überraschung.

Das Unbekannte, Unvertraute an Gott und seiner Geschichte tritt uns nirgendwo stärker entgegen als in diesem Drama von Tod und Auferstehung, in dieser Erschütterung durch den Triumph von Gottes Liebe über den Tod. Schrecken ist die erste Reaktion. Die Passionsgeschichte endet mit Jesu Wort am Kreuz: „Es ist vollbracht“. Die Ostergeschichte aber schließt mit den Worten: „Sie fürchteten sich“.

II.
Dieser Furcht tritt ein Engel entgegen, ein Gottesbote. „Erschreckt nicht“, heißt seine Botschaft am Ostermorgen. „Erschreckt nicht“, sagt er zu Maria aus Magdala, zu Maria, der Mutter des Jakobus, und zu Salome. Zittern und Entsetzen behalten nicht das letzte Wort.

Zweimal spielt in den Ursprungsgeschichten des christlichen Glaubens die Überwindung von Furcht eine Schlüsselrolle. Beide Male erschrecken Menschen vor dem Leuchten, dem strahlenden Licht, mit dem eine Botschaft von Gott sie erreicht.

Das eine Mal sind es die Hirten auf dem Feld, die zu Zeugen der Geburt Jesu werden. Das andere Mal sind es die Frauen am Grab Jesu, die dem Verstorbenen die letzte Ehre erweisen wollen. Am Beginn wie am Ende die gleiche Zusage: Lasst die Furcht; ihr könnt vertrauen. Denn Gott fängt neu an.

Dieser Zusage wegen ist Ostern so wichtig wie Weihnachten. Die Christenheit gäbe es gar nicht, wenn es Ostern nicht gäbe. Kaum jemand würde noch von Jesus sprechen, wenn der Ostermorgen nicht gewesen wäre.

Selbstverständlich war der Glaube an die Auferstehung nie. Heute wird er manchmal mit der Frage verwechselt, ob das Grab Jesu leer war. Doch die Entdeckung eines leeren Grabes beweist noch nichts. Sie allein führt noch nicht zum Osterglauben, sondern ruft Entsetzen hervor. Wo Steine sich bewegen, die so schwer sind, dass Menschen allein sie nicht wegschaffen können, ist das eher ein Grund zum Erschrecken als zur Freude. Etwas anderes muss geschehen. Der Gekreuzigte muss erkennbar werden und sich vernehmen lassen.

Und er begegnet so, dass spürbar wird: Jesus ist von Gott angenommen und in Gottes, also in das ewige Leben eingetreten. Man denkt zu gering von der Auferstehung, wenn man sie nachvollziehen will, als gäbe es einen Dokumentarfilm darüber. Keinmal im Neuen Testament wird ein Mensch genannt, der Jesu Auferstehung selbst erlebt hätte. Aus Gottes Macht heraus geschieht etwas, das Raum und Zeit übersteigt. Nicht um eine Rückkehr in dieses sterbliche Leben geht es. „Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Armseligkeit und wird auferstehen in Kraft. Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib.“ Mit diesen Worten umschreibt Paulus, worum es bei der Auferstehung geht. Was uns allen erst am Ende der Zeiten verheißen ist, an Jesus hat es sich schon vollzogen. An ihm können wir schon wahrnehmen, was uns allen verheißen ist: das Leben in ungeteilter Fülle.

„Welche Vorstellung verbinden Sie am ehesten mit der Auferstehung Jesu?“ So hat das evangelische Magazin Chrismon in diesem Monat gefragt. Jesus ist in den Herzen der Gläubigen auferstanden, so antworten die meisten. Leibhaftig ist er von den Toten auferstanden, so sagen viele. Nur seine Seele ist auferstanden, auch an diese Vorstellung hält sich eine beträchtliche Zahl von Menschen. Und doch spürt jeder: Das eine wie das andere ist nur eine Annäherung an die Urgewalt dieses Geschehens. Da haben Menschen alles, was in ihrer Macht stand, eingesetzt, um der Wirksamkeit Jesu ein Ende zu machen. Da wollten sie mit allem, was zu ihrer Verfügung war, verhindern, dass seine Botschaft weiterwirkt. Und das Gegenteil geschieht. Was ein Ende sein sollte, wird zum Beginn. Was dem Tod ausgeliefert wurde, entpuppt sich als das wahre Leben. Darüber kann man nur erschrecken. Und man kann es nur feiern.

III.
Ja, feiert Ostern! Gebt dem neuen Leben Raum! Richtet euch nicht im Gewohnten ein! Bleibt offen für das Außerordentliche! Werdet nicht überraschungsfest! Das ist die österliche Einladung.

Werdet nicht überraschungsfest. Diese Aufforderung selbst hat mich außerordentlich überrascht. Sie stammt von dem katholischen Theologen Johann Baptist Metz. Und er hat recht – gerade an Ostern. Denn Ostern ist die große Überraschung. Wer an den Auferstanden glaubt, lebt aus der großen Überraschung Gottes. Deshalb lässt er der Überraschung Raum. Die Osterbräuche spiegeln das auf ihre Weise. Denken Sie daran beim Eiersuchen: Dieser Tag hält Überraschendes bereit. Werden Sie nicht überraschungsfest.

Aber die Osterbotschaft bleibt nicht eingesperrt in dieses besondere Fest. Sie will in unseren Alltag einwandern. Geht nach Galiläa – so heißt die Aufforderung an die Frauen. Dort, in eurer Alltagswelt, werdet ihr dem Auferstandenen begegnen. Nicht das außerordentliche Ereignis ist der Lebensraum des Auferstandenen, nicht das leere Grab ist der Ort, an dem er zu treffen ist. Ostern ist das Fest, an dem wir den Auferstandenen feiern; das ganze Jahr aber ist der Lebensraum, in dem wir im begegnen. Jeder Sonntag ist ein Tag, an dem wir die Auferstehung Jesu preisen; im Alltag aber bekommen wir es mit den Wirkungen der Auferstehung zu tun. Kostet das Fest aus; aber dann geht nach Galiläa, nach Berlin oder Amsterdam, nach Strausberg oder Finsterwalde, nach Ketzür oder Falkenhagen, geht dorthin, wo euer Alltag ist, und begegnet dem Auferstandenen! Findet mit ihm den Weg heraus aus der Sorge um eine bedrohte Ehe, aus der Angst vor langer Arbeitslosigkeit; haltet fest am Kampf um Gewaltfreiheit, auch gegen übermächtige Interessen – sei es in der „freien Heide“ oder anderswo. Denn das Licht der Hoffnung reicht auch dorthin, wo Kleinmut oder Zweifel wohnen.

Ohne die Kraft der Auferstehung lässt sich unser Alltag nicht bestehen. Irgendwie ist uns das allen bewusst. In diesem Jahr brauchen wir die Osterhoffnung besonders, um die Erfahrung des Krieges zu verarbeiten. Denn der Jubel über das Ende der Diktatur deckt den Tod und das Leiden durch den Krieg nicht zu. Und vor Augen steht uns nicht nur das hemmungslose Jubeln, sondern auch das hemmungslose Plündern.

Wer das Wort von der Auferstehung nicht gelten lässt, der macht die Wirklichkeit, in der wir leben, gnadenlos. Ohne Hoffnung und Liebe verkümmert unser Leben. Wie notwendig die Verheißung der Auferstehung ist, erfahren wir am nachdrücklichsten, wenn sie fehlt. Wer kennt das nicht aus dem eigenen Erleben! Heute lauert Verzagtheit hinter jeder Ecke. Auch die öffentlichen Debatten sind nicht gerade von Zuversicht geprägt. Mutige Schritte trauen sich die wenigsten zu. Auch die Debatte über politische Reformen zeigt das. Bedenkenträger finden eher Gehör als Hoffnungsträger.  Aber Bedenken allein bieten unserem Leben keine Basis. Und auch eine Gesellschaft wird nicht schon durch Bedenken zusammengehalten. Tragfähige Hoffnungen sind nötig – und Menschen, die sich für sie einsetzen. 

Nicht dort begegnet uns die Auferstehung, wo über sie spekuliert, sondern wo sie gelebt wird. Die Schwermut des Erklärens können wir ablegen wie eine alte Arbeitsjacke; sie wird von der Leichtigkeit der Hoffnung überboten. Überall dort begegnet sie uns, wo Menschen in Jesus ihr Leben und ihre Freude, ihren Trost und ihre Stärke finden. Menschen, die in Angst ruhig bleiben, die getröstet sterben und angesichts des Todes Hoffnung ausstrahlen; Menschen, die im Streit Frieden stiften und nach erlittener Gewalt Versöhnung anbieten; Menschen, die sich jetzt für die Lebensbedingungen einer nächsten Generation einsetzen: sie sind Zeugen der Auferstehung.

Ermutigung geht von Menschen aus, die sich an die Auferstehung halten. Sie lassen den Tod nicht überall in das Leben eindringen. Auf ihre Weise bezeugen sie, worum es dem christlichen Glauben geht. Es geht ihm um die Hoffnung – über allen Tod hinaus. Um dieser Hoffnung willen feiern wir Ostern.

Christus ist auferstanden – er ist wahrhaftig auferstanden. Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten! Amen.