Predigt in Vierraden (Johannes 15,5)

11. Mai 2003

„Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“

Liebe Gemeinde – heute morgen habe ich noch einmal nachgeschaut. Die beiden Weinstöcke in unserem Garten habe ich begrüßt und sie im Morgenlicht da stehen sehen. Mit ihrem ersten Grün haben sie mich erfreut. Das Grün kommt später als bei anderen Pflanzen. Und der Weinstock braucht mehr Pflege als anderes Obst, wenn er frucht bringen soll. Er ist auch auf besondere Weise gefährdet. Als die Reblaus vor zweihundert Jahren nach Europa kam, erwies sie sich als eine große Plage. Sie bohrte die Wurzeln der Rebstöcke an, so verloren sie alle Kraft und die Reben hatten nichts mehr, wovon sie leben konnten.

Das Bild vom Weinstock und den Reben gehört zu den aussagestarken Bildern, die Jesus in seinen Predigten verwendet hat. Über die Jahrhunderte sprechen sie uns unmittelbar an. Die Technik mag noch so vollkommen werden, wir bleiben auf das Wachsen und Gedeihen angewiesen. Wir mögen die Pflanzen gentechnisch noch so verändern; ohne die Gaben der Natur und die Pflege des Gärtners haben wir an ihnen keine Freude. Wachsen und Fruchtbringen ist nicht möglich ohne die organische Verbindung zu einer Pflanze. Und die Pflanze braucht Erde und Wasser, Sonne und Licht.

Die Weinstöcke in meinem Garten lassen sie freundlich grüßen. Auch ohne Winzer haben sie wieder ausgeschlagen. Man sagt, sie seien ungefähr 150 Jahre alt. So gut ich kann, will ich sie pflegen. Aber ein besonderer Experte bin ich nicht. Das Entscheidende müssen sie ohne mich tun.

„Ohne mich“ – das ist eine verbreitete Haltung in unserer Zeit. Ohne mich sollen die Soldaten in den Krieg ziehen – stell dir vor, es ist Krieg – und keiner geht hin. Ohne mich sollen die Reformprobleme dieser Wochen gelöst werden – zwar muss gespart werden, aber bitte nicht auf meine Kosten, denn ich habe nichts zu verschenken. Ohne mich, sage ich gern, wenn Hausarbeit ansteht und verstecke mich hinter den vielen Pflichten, die auch sonst noch bleiben. Ohne mich, sagen manche am Sonntag Vormittag – und die Kirche bleibt leer. Ohne mich, heißt es, und die politischen Parteien bleiben auf einige wenige Unentwegte beschränkt – sollen sie doch froh sein, wenn die anderen überhaupt zum Wählen gehen.

„Ohne mich“ – immer gilt das nicht. Die Ruine der evangelischen Stadtkirche hier in Vierraden hat das „Ohne mich“ durchbrochen. Da haben sich Menschen dem Verfall entgegengestemmt. Sie haben sich dafür eingesetzt, dass dieses Denkmal erhalten, der Turm wieder hergestellt, das Kirchenschiff wieder für Gottesdienste und andere Veranstaltungen genutzt wird. Die Kirchengemeinde, ihr Gemeindekirchenrat, ihr Pfarrer vorneweg haben das zu ihrer Sache gemacht. Ein „Freundeskreis Kirchruine“ wurde gegründet, der Heimatverein ließ sich ansprechen, die politische Gemeinde setzte sich tatkräftig ein. Der Kirchenkreis und die Landeskirche ließen sich gewinnen, Förderer und Sponsoren ließen sich zur Unterstützung motivieren. Die Haltung des Ohne mich ließ sich durchbrechen, sie behielt nicht das letzte Wort. Hier gilt nicht „Ohne mich“, so könnte man die Botschaft des heutigen Tages beschreiben.

Doch; hier gilt „ohne mich“ – doch auf ganz andere Weise. „Ohne mich könnt ihr nichts tun“, so sagt es Jesus. Gewiss: Auch für dieses Kirchengebäude werden sich Menschen eingesetzt haben, die von Jesus nicht so viel wissen und für deren Leben die Beziehung zu ihm keine bewusste Rolle spielt. Aber das Kirchengebäude zieht sie an. Aus dem Bild von Vierraden soll es nicht verschwinden. Wer das sagt, der fängt auch schon an zu ahnen, wofür ein Kirchengebäude da ist. Das Kreuz auf dem Turm zeigt es an: das Kreuz Jesu. Dreimal täglich läutet die Glocke und ruft zum Gebet – zum Gebet im Namen Jesu. Sein Wort kann wieder gehört werden. Dieses Wort verweist auf den tieferen Sinn dessen, was wir tun. Keine menschliche Arbeit wird entwertet – auch die nicht, die sich nicht in Verbindung mit Jesus sieht. Aber unser aller Arbeit ist bei ihm gut aufgehoben. Er gibt ihr Sinn – über all unser Wollen und Verstehen hinaus. Dieser Sinn ist die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Zum Lob Gottes geschieht, was wir tun. Und dem Nächsten zu Gute geschieht, was wir uns vornehmen. Dafür bürgt Jesus. Und deshalb sagt er: „Ohne mich könnt ihr nichts tun.“

So wie die Rebe auf den Weinstock angewiesen ist, so bleiben wir Menschen auf die Nähe und Gegenwart Gottes angewiesen. Jesus bürgt für sie. Er kommt uns nahe – in Brot und Wein, wenn wir Abendmahl feiern, in seinem Wort, das uns ausgelegt wird, in einem Menschen, der zum Boten Gottes wird. Es heißt gut aufgepasst. Jesus sagt nicht: Ich war der Weinstock, ihr sollt die Reben sein. Nicht auf das, was er in der Vergangenheit getan hat, werden wir verwiesen, damit wir heute tun, was er von uns verlangt. Dass er uns heute nahe ist und uns seine Lebenskraft verleiht, darauf dürfen wir uns verlassen. Und deshalb können wir Reben sein und Frucht bringen, die Frucht des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe.

Dass wir in ihm bleiben, darauf kommt es an. „Bleiben“ – das muss man sich nicht als eine unbewegliche Beharrlichkeit vorstellen. „Bleiben“ – das ist vielmehr eine lebendige Beziehung, ein Geben und Nehmen, ein Hören und Antworten. Christlicher Glaube ist nichts anderes als eine solche lebendige Beziehung: zu Gott im Glauben an Christus, zu meinen Nächsten in der Liebe, zu meinem Leben in der Hoffnung.

Damit uns dieses Bleiben leichter wird, haben wir Kirchengebäude. In ihnen können wir Zuflucht finden, wenn Zweifel oder Anfechtung uns plagen. In ihnen können wir zusammenkommen, um Gott zu loben und uns am Leben zu freuen. In ihnen können wir unsere Gemeinschaft feiern und uns miteinander auf Neues einstellen. Auch hier in Vierraden soll das so sein. Deshalb wurde dieses Kirchengebäude vor dem Verfall bewahrt. Deshalb nehmen wir es jetzt wieder in Gebrauch. Wir verlassen uns auf die Zusage: „Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; und ohne mich könnt ihr nichts tun.“ Amen.