Predigt in der St. Hedwigs-Kathedrale zu Berlin

16. Mai 2003

Ökumenischer Gottesdienst zur Jahrestagung des Bundesverbands Deutscher Stiftungen

I.
Für diesen Gottesdienst habe ich mich auf die Suche begeben. Ein biblisches Bild wollte ich finden für das, was Stiftungen in der Geschichte bewirkt haben und heute tun. Die große Bedeutung von Stiftungen für das barmherzige Handeln und die Bildungsarbeit der Kirchen stand mir dabei deutlich vor Augen. Nicht von ungefähr werden Kirchengebäude selbst seit alter Zeit als „Stift“ bezeichnet. Auf meiner Suche ist mir Gott selbst als Stifter begegnet: „Er hat ein Gedächtnis gestiftet seiner Wunder“ sagt der Psalmist (Psalm 111, 4). Christus hat Wort und Sakrament gestiftet, sagt das Bekenntnis.

Auf verschlungenen Wegen führte mich mein Suchen zurück bis in die Anfänge des Volks Israel. Im Buch Exodus, dem 2. Buch Mose, wird von der Befreiung Israels aus der ägyptischen Sklaverei berichtet. Der Weg durch die Wüste wird geschildert, auf dem die religiöse und politische Ordnung Gestalt annahm, die sich dann nach dem Einzug in das Land Kanaan bewähren sollte. Diese Zeit in der Geschichte des Volkes Israel war es, in der Mose die „Stiftshütte“ errichtete, ein zeltartiges Gebäude, einen Ort der Begegnung mit Gott und seinem Wort. Ist es mehr als eine Stichwortassoziation, wenn ich daran heute erinnere? Gibt es eine Verbindung zwischen dieser Stiftshütte und dem Auftrag, der Sie in diesen Tagen hier in Berlin zur Jahrestagung des Bundesverbands Deutscher Stiftungen zusammenführt? 

Von dramatischen Ereignissen ist Israels Weg aus Ägypten in das gelobte Land geprägt. Am Berg Sinai werden Mose die zehn Gebote offenbart. Für das ungeduldige Volk braucht er dafür zu lang. Während seiner Abwesenheit drängt das Volk auf ein Unterpfand für die Gegenwart Gottes. Man zwingt Aaron, den Bruder des Mose, dazu, in die Erschaffung eines Götterbilds einzuwilligen. Aus den Ohrringen des Volks wird das goldene Kalb gegossen. Dieses Kalb beten sie an und rufen: „Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat“ (2. Mose 32, 4). Dramatisch sind die Folgen dieses Abfalls, dramatisch ist der Neubeginn. In Buße muss das Volk vor Gott treten, ohne allen Schmuck. Das ist der Augenblick für das „heilige Zelt“, für die Stiftshütte.

„Mose aber nahm das Zelt und schlug es draußen auf, fern von dem Lager, und nannte es Stiftshütte. Und wer den Herrn befragen wollte, musste herausgehen zur Stiftshütte vor das Lager. Und wenn Mose hinausging zur Stiftshütte, so stand alles Volk auf und jeder trat in seines Zeltes Tür und sah ihm nach, bis er zur Stiftshütte kam. Und wenn Mose zur Stiftshütte kam, so kam die Wolkensäule hernieder und stand in der Tür der Stiftshütte, und der Herr redete mit Mose. Und alles Volk sah die Wolkensäule in der Tür der Stiftshütte stehen, und sie standen auf und neigten sich, ein jeder in seines Zeltes Tür. Der Herr aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet“ (2. Mose 33, 7-11).

Draußen, vor dem Lager, wird das Zelt aufgerichtet. Und Gott zeigt sich, indem er sich verbirgt. In einer Wolkensäule kommt er zu den Menschen. Dass  der unnahbare Gott mit Mose redet, wie ein Freund mit einem Freunde redet, rührt mich an; ja, es kann eine große Sehnsucht wecken. So nah kann Gott kommen; wie ein Freund mit einem Freunde kann er mit dir sprechen. Doch  der Wunsch des Mose, Gottes Herrlichkeit ganz unmittelbar zu sehen, wird abgewehrt.

„Und Mose sprach: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! Und er (Gott) sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will vor dir kundtun den Namen des Herrn: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Und der Herr sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen“ (1. Mose 33, 18-23).

Die Enttäuschung über sein Volk hatte die Gottessehnsucht des Mose noch stärker gemacht. Er sucht nach einem unzweideutigen Halt; deshalb die Bitte: Lass mich deine Herrlichkeit sehen. Gib mir einen festen Punkt; und ich bewege die Erde. Seine Bitte wird zugleich überboten und zurückgewiesen. Der Blick in Gottes Angesicht wird verweigert; aber seine Barmherzigkeit wird überwältigend zugesagt. Ganz dicht beieinander begegnen hier Gottes unbedingte Barmherzigkeit und seine vernichtende Kraft: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“ So stellt Gott sich selbst vor, in einer bedingungslosen Erklärung seiner Güte. Aber zugleich warnt er vor der Nähe seiner Herrlichkeit, seiner Kraft, seines Glanzes. Das Gewicht der Nähe Gottes kann kein Mensch ertragen. Gottes Herrlichkeit wirkt vernichtend auf die Menschen; nur seine Gnade lässt sich anschauen. Deshalb bekennt sich die christliche Gemeinde dazu, dass Gottes Herrlichkeit in Jesus Christus als Gnade begegnet; nur dadurch können wir vor ihr bestehen. Im Johannesevangelium heißt es dazu: „Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ (Johannes 1, 14).

II.
Der Konflikt zwischen dem selbstgemachten Bild und der Herrlichkeit Gottes bestimmt diese Geschichte aus früher Zeit. Das selbstverfertigte Gottesbild erweist sich als Ausdruck menschlicher Anmaßung; der Glanz Gottes in seiner Unnahbarkeit droht den Menschen zu vernichten. Dazwischen tritt jedoch Gottes Bereitschaft, von sich aus Raum zur Begegnung mit den Menschen zu schaffen. Nicht auf einen Ort lässt er sich dabei festlegen; denn er ist mit den Menschen unterwegs, er wandert mit seinem Volk. Überall kann es zu überraschenden Gottesbegegnungen kommen. Wer einen Ort haben will, an dem Gott sich finden lässt, ist gut beraten, ein Zelt zu wählen, ein Haus, das mitwandert.

Die Stiftshütte ist ein solches Zelt. Martin Luther hat diesem Zelt den Namen „Stiftshütte“ gegeben. Von einem Stift redet Luther, weil es um den Ort der Begegnung mit Gottes Offenbarung, mit dem Wort Gottes ging. Die Menschen sollten dorthin kommen wie in „eine Pfarrkirche oder ein Stift“, weil sie dort „Gottes Wort hören“ sollten. Und  um eine Hütte handelte es sich vielleicht wirklich eher als um ein Zelt. Denn die Stiftshütte war ein Holzhaus mit einem Dach aus Teppichen und mit Decken als Wänden. Die Balken muss man sich silberbeschlagen, ja an manchen Stellen sogar mit Gold überzogen denken. Auch die Türen bestanden aus Teppichen. Der Tisch für die Schaubrote, ein siebenarmiger Leuchter, ein transportabler Altar werden als Geräte ausdrücklich genannt. Für eine Wüstenwanderung ein fürstliche Ausstattung.

Das führt uns unweigerlich auf die andere Seite des Stiftens. In verschiedenen Fassungen begegnet uns die Aufforderung zu Gaben für die Stiftshütte. Alle werden zu diesen Gaben aufgefordert; genommen werden sie „von jedem, der freiwillig gibt“.  Lang ist die Liste der möglichen Gaben: „Gold, Silber, Kupfer, blauer und roter Purpur, Scharlach, feine Leinwand, Ziegenhaar, rotgefärbte Widderfelle, Dachsfelle, Akazienholz, Öl für die Lampen, Spezerei zum Salböl und zu wohlriechendem Räucherwerk, Onyxsteine und eingefasste Steine zum Priesterschurz und zur Brusttasche“ (2. Mose 35, 5-10; vgl. 2. Mose 25, 3-7). Der Appell an die Großzügigkeit ist unüberhörbar; jeder wird nach dem Maß des ihm Möglichen und Zuträglichen gefordert. Aber es geht nicht um Steuern oder Abgaben, die verpflichtend erhoben und notfalls mit Zwang eingetrieben werden. Es geht um freiwillige Gaben, um sinnvolle Geschenke, um handwerklichen Einsatz als erkennbare Zeichen des eigenen Engagements. Genommen wird „von jedem, der freiwillig gibt“. So beschreibt diese alte Geschichte, was bis zum heutigen Tag einen „Stifter“ ausmacht. Die „Stiftshütte“ trägt ihren Namen also auch in dieser Hinsicht zu Recht. In der Geschichte Israels ist sie das erste Bauwerk, das im ursprünglichen Sinn des Wortes Stiftungscharakter trägt.

III.
Wer stiftet, handelt großzügig. Er braucht dafür das Recht. Und er handelt aus Zuversicht, weil er von der Zukunft etwas erwartet. Die Grundhaltung von Stiftern ist mit dem Ethos eng verwandt, das für das Volk Israel von Anfang an ebenso charakteristisch ist wie für das Christentum. Großzügigkeit, Recht und Zuversicht gehören darin zusammen. Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Hoffnung bilden eine Einheit. Die Propheten Israels haben diesen Dreiklang immer wieder zur Sprache gebracht: „Bewahre die Liebe und das Recht und hoffe immer auf deinen Gott“: So heißt es in unüberbietbarer Kürze beim Propheten Hosea (12,7). Und beim Propheten Micha (6, 8) lesen wir: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Gott von dir erwartet: nichts anderes, als gerecht zu sein und Güte und Treue zu lieben und demütig mitzugehen mit deinem Gott“. Immer wieder ist es dasselbe Dreigestirn, das die Richtung weist: Liebe, Recht und Gottesgewissheit; Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Hoffnung. Die Stiftshütte ist dafür ein gutes Symbol. Die Großzügigkeit der Israeliten wurde für ihren Bau in Anspruch genommen; sie beherbergte die Bundeslade mit den Geboten; sie wanderte mit dem Volk mit als ein Zeichen der Hoffnung. Großzügigkeit, Recht und Zuversicht hatten in diesem wandernden Gotteshaus eine Heimat.

Die Aktualität dieses biblischen Dreigestirns ist unverkennbar. Es ist durch keinen wissenschaftlichen Fortschritt überholt. Es gilt vielmehr, seine Wahrheit unter den Bedingungen unserer Zeit neu zu verstehen und zu praktizieren.

Denn es stimmt: Kein Gemeinwesen kann ohne Recht und Gerechtigkeit bestehen. Auch für die Staatengemeinschaft gilt das, wie wir heute wissen. Das notfalls auch auf die Durchsetzung mit Zwang angewiesene Recht bildet einen unentbehrlichen Rahmen für alles menschliche Miteinander. Doch ebenso wichtig ist das andere: Kein Gemeinwesen bleibt lebensfähig ohne den Mehrwert der Liebe. Eine Gesellschaft geht zu Grunde, wenn das Engagement erstirbt, das nicht nur auf den eigenen Vorteil schaut. Würden alle nur noch nach dem eigenen Gewinn kalkulieren, dann könnte auch das Recht nicht mehr viel ausrichten. Doch zusammengehalten werden Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Recht und Liebe, Gesetz und Güte nur, wenn es etwas gibt, was über sie hinausweist und sie gerade so verbindet. Die Zuversicht, mit der wir das gemeinsame Leben gestalten, speist sich aus einer Hoffnung, die weiter reicht als unser eigenes Tun. „Bewahre die Liebe und das Recht und hoffe immer auf deinen Gott“, sagt der Prophet Hosea. „Gerecht zu sein, Liebe und Treue zu lieben und demütig mitzugehen mit deinem Gott“, so heißen die drei Wegzeichen, die der Prophet Micha vor uns aufrichtet.

Wo sie sich miteinander verbinden, lässt sich auch heute eine klare Orientierung finden. Stiftungen sind für diese Orientierung ein gutes Beispiel. Sie existieren um des Gemeinsinns und der Nächstenliebe willen. „Barmherzige Stiftungen“ stehen am Anfang der Stiftungsgeschichte und haben in ihr bis heute einen besonderen Rang. Auch in neuen Formen, den Bürgerstiftungen zum Beispiel, erneuert sich heute der Sinn für Gemeinsinn und Nächstenliebe. Stiftungen sind sodann auf das Recht angewiesen – auf ein Recht hoffentlich, das den Bürgersinn stärkt und das Handeln um der Nächsten willen erleichtert. Aber alle zusammen sind wir auf eine Hoffnung angewiesen, die stärker ist als unser Kleinglaube, auf eine Hoffnung, die hinausreicht über das, was Menschen tun. Das brauchen wir alle: dass wir demütig mitgehen mit unserem Gott. Amen.