Predigt im Festgottesdienst zum hundertjährigen Kirchweihjubiläum in Bornum (Johannes3, 18)

15. Juni 2003

„Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren wird“

So endet das Evangelium für den heutigen Sonntag. Das ist ein anarchistischer Schluss. Der Geist lässt sich nicht kontrollieren. Er weht, wo er will. Wenn wir nur wüssten, wo er zu finden ist, machten wir uns sofort zu ihm auf den Weg. Sogar dieses Kirchweihjubiläum würden wir hinter uns lassen, wenn wir wüssten, dass er uns anderswo begegnen will. Alles würden wir stehen und liegen lassen, wenn klar wäre, wo der Geist zu finden ist, dieser Anarchist, der sich durch keine Kirchenordnung bändigen lässt. Auch wenn man ihn sausen hört, weiß man noch lange nicht, woher er kommt. Man muss ihn suchen; und manche Suche ist vergeblich.

In kein Kirchengebäude lässt der Geist sich einsperren. Er weht, wo er will. Er braucht keine Häuser aus Stein. Orte des Geistes werden sie erst, wenn die lebendigen Steine dazu kommen. Schon Pfarrer Rathmann, der damals, am 11. Juni 1903, die Festpredigt zur Einweihung dieser Kirche hielt, hatte das verstanden. „Denkt nicht“, so sagte er zu der damals versammelten Gemeinde, „wir sind mit dem Kirchbau schon fertig, nein, jetzt soll’s erst recht angehen. Bisher ist mit totem Material gebaut worden, nun soll weiter gebaut werden mit lebendigen Steinen, die sei Ihr.“ Auch die Kaiserlichen Hoheiten haben es gehört, die eigens zur Einweihung gekommen waren.

Ich halte mich daran: Die Hoffnung auf den lebendigen Geist hat damals den Neubau dieser Kirche beflügelt. Nicht im Vertrauen auf totes Material, sondern im Vertrauen auf die lebendigen Steine hat man seinerzeit den schlichten Vorgängerbau abgetragen und durch diese eindrucksvolle neue Kirche ersetzt. Kaiser Friedrich, der 90-Tage- Kaiser, hat den Anstoß gegeben. Die unermüdliche Kirchenjuste, die Kaiserin Auguste Victoria, hat dafür gesorgt, dass das Vorhaben in die Tat umgesetzt wurde. Mit Stolz vermerkte man, dass an die Stelle von zuvor 300 Sitzplätzen nun 700 Sitzplätze getreten seien. Der Stolz bezog sich nicht auf das verbaute Material, er bezog sich auf die lebendigen Steine, auf die Menschen, die diese Kirche füllen sollten.

Wie es damit wohl heute steht? Sagen Sie nicht: Wir sind weniger geworden! Sagen Sie vielmehr: Der Geist weht, wo er will. Niemand kann ausschließen, dass er plötzlich kräftig durch Bornim braust. Er ist dann gespannt darauf, ob er uns wach und vorbereitet oder resigniert und schlafend findet. Der Geist braucht keine Kirchengebäude. Aber er nutzt sie gern. Auch dieses Kleinod will er nutzen. Damit wir das richtig merken, feiern wir Geburtstag.

II.
Der Geist weht, wo er will. Nach diesem Geist fragen auch heute viele Menschen, ja heute erst recht. Je mehr die Technik vermag, desto größer wird die Sehnsucht nach dem Geist. Seit die menschliche Geisteskraft gegenüber der Technik immer deutlicher den Kürzeren zieht, fragt man sich nach einem Geist, der mehr vermag. Als vor einigen Jahren zum ersten Mal ein Computer den weltbesten Schachspieler schlug, ging ein Raunen durch die Welt: die Maschine kann es besser. Der maschinenmäßige Verstand trägt den Sieg davon, der menschliche Geist zieht den Kürzeren.

In die letzten Ritzen menschlichen Lebens dringt diese Veränderung ein: Gefühle zählen nicht mehr; Herzlichkeit und Liebe – wozu braucht man sie noch? Selbst für das Gebären und Geborenwerden scheint man bald nicht mehr auf den Menschen angewiesen zu sein. Die Reproduktionsmedizin beansprucht, es besser zu machen. Vielleicht schon in naher Zukunft wird ein menschlicher Embryo hergestellt, ohne dass von der Mutter oder dem Vater noch die Rede ist. Doch wenn die Zukunft immer stärker unter den Bann des Nicht-menschlichen gerät, fragen wir zugleich neu nach dem Menschlichen. Wenn unser Leben immer stärker unter die Herrschaft des technisch Herstellbaren tritt, verstärkt sich zugleich die Sehnsucht nach einem Geist, der diese Herrschaft des Geistlosen bändigt. Der Geist weht, wo er will? Sofort würden wir uns auf den Weg machen, wüssten wir nur, wo er zu finden ist.

III.
Der Weg des gelehrten Pharisäers Nikodemus zu Jesus ist uns also nicht unverständlich. Es ist kaum ein Zufall, dass Nikodemus sich bei Nacht zu diesem Gespräch aufmacht. Nachts redet man, wenn es um letzte Dinge geht. Nachts redet man ungeschützt. Aber bei Nacht zu einem andern zu gehen, hat auch den Vorteil, dass man nicht gesehen wird. Für einen Kontakt auf Probe ist das besser. In vielen Situationen hat sich das schon bewährt, ehrbaren oder auch weniger ehrbaren. Man kränkt Nikodemus nicht, wenn man sagt: Auf seine Verbindung zu Jesus will er nicht sofort festgelegt werden. Es handelt sich um einen Versuch. Ob er Folgen haben wird, zeigt sich erst später. 

Nikodemus will festen Grund unter die Füße bekommen. Er hält sich an einen, von dem er den Eindruck hat, er sei von Gott gesandt. Denn Jesus vollbringt Zeichen, wie sie nur in Gottes Namen möglich sind. Die Festfreude erneuert er, indem er Wasser in Wein verwandelt. Den Tempel erneuert er, indem er seinem Missbrauch als Krämerbude ein Ende setzt. Was aber ist sein Vorschlag für die Erneuerung des einzelnen, für die Erneuerung des inneren Menschen? „Nur wer von neuem geboren wird, kann das Reich Gottes sehen“. So heißt Jesu Antwort.

Nikodemus erhebt einen Einwand, der auf der Hand liegt. Geboren werden wir nur einmal. Was er vorbringt, verstehen wir sofort. Der nüchterne Widerspruch behält sein Recht, obwohl heute die Wiedergeburt plötzlich in aller Munde ist. In unseren Tagen ist Wiedergeburt, Reinkarnation für viele zum wichtigsten religiösen Symbol überhaupt geworden. In die Hoffnung, dass ihr Leben ewig währt, phantasieren sie sich so hinein, dass sie aus den östlichen Religionen vor allem diese Vorstellung übernehmen: In einem künftigen Leben werden wir in einer veränderten Gestalt auf diese Erde zurückkehren.

Doch wir nehmen uns selbst zu wichtig, wenn wir so sehr am Gedanken eines zweiten und dritten Lebens hängen. Die Ewigkeit, die Gott uns verheißt, hat eine andere Gestalt als die einer solchen Wiedergeburt. Wir werden an Gottes Reich in seiner Fülle teilhaben, hineingenommen in die ungeteilte Gemeinschaft, die Gott schenkt. Es geht nicht darum, dass wir diese Zukunft nur für uns selbst haben wollen, in einem zweiten und dritten Leben, das wir für uns selber haben wollen.

Außerdem zielt die Wiedergeburt, von der Jesus redet, auf mehr: Sie zielt auf dieses, nicht erst auf ein späteres Leben. Von einer Erneuerung unseres Lebens kann nur die Rede sein, wenn sie sich jetzt vollzieht. Wie kann das sein? So fragt schon Nikodemus. Wir können doch nicht in den Leib unserer Mutter zurückkehren, um noch einmal geboren zu werden!

Nein, antwortet Jesus, es geht nicht um eine Wiederholung der Geburt aus dem Leib der Mutter. Es geht um eine Neugeburt aus Wasser und Geist. Der Hinweis auf das Wasser, auch wenn er nachträglich eingefügt sein mag, ist grundlegend. Denn die Taufe mit Wasser ist das zentrale Unterpfand der Neugeburt, des Neuwerdens, Ein Zeichen, das über unserem ganzen Leben steht. Die Tauferinnerung war deshalb das Thema des großen Abschlussgottesdienstes, mit dem vor zwei Wochen der Ökumenische Kirchentag in Berlin endete. Aber die Taufe vollzieht sich nur einmal. Allein sichert sie noch nicht, dass wir aus den Kräften der Erneuerung leben. Die Taufe garantiert noch nicht, dass wir als Christen vor Verknöcherung bewahrt bleiben. Ein guter Anfang gewährleistet noch nicht ein gutes Ende. Deshalb ist noch etwas anderes vonnöten: der Geist, der lebendig macht und lebendig erhält.

IV.
Kann man denn auf einen solchen Geist rechnen? Es gibt nichts Neues unter der Sonne, entgegnen die Skeptiker. Unser Leben wird durch ein Programm gesteuert, über das wir nicht verfügen, sagen moderne Menschen. Ein Vers hat diese Lebensphilosophie einmal so beschrieben: „Das Leben ist ein Würfelspiel, / wir würfeln alle Tage. / Dem einen bringt das Schicksal viel, / dem andern Müh und Plage.“

Solche Einwände sind schon Nikodemus vertraut. „Man kann nicht neu geboren werden, wenn man alt ist“, sagt er. Jesus setzt dem eine andere Überzeugung entgegen. Sie heißt: Die Kraft der Erneuerung ist nicht berechenbar, aber verlässlich. Gottes Liebe ist diese Kraft der Erneuerung. Mit dieser Liebe identifiziert sich Jesus selbst: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh 3,16).

Nicht dass wir besser rechnen können als ein Computer, sondern dass wir uns auf Gottes Liebe einlassen, macht unser Leben menschlich. Wir öffnen uns für die Kraft der Erneuerung, unabhängig von unserem Alter. Inmitten alltäglicher Freuden und Sorgen, im zuversichtlichen Vertrauen auf unsere Kräfte wie angesichts unserer Schwächen wissen wir: Jeder Tag ist ein Tag der Wiedergeburt, der Beginn eines neuen Lebens. Im Vertrauen auf den Geist Jesu können wir für das eigene Leben gelten lassen, dass das christliche Leben eine tägliche Umkehr, ein täglicher Neuanfang, eine tägliche Buße ist. Martin Luther hat das so gesagt. In der ersten seiner 95 Thesen ist das festgehalten. Die Reformation hat so begonnen.

Diesen Geist wollen wir weitergeben, in dieser Kirche, aber auch außerhalb ihrer Mauern. Gewiss: Dieser Geist weht, wo er will. Aber wir können ihn aufspüren oder blind für ihn sein. Wir können uns ihm öffnen oder verschließen. Christliche Gemeinden sind neugierig für das Wirken des Geistes. In christlichen Gemeinden verbinden sich Menschen miteinander, die einander beim täglichen Neuanfang beistehen. Sie schauen danach aus, dass der Wind, der weht, wo er will, zum Rückenwind wird.

Dass das möglich ist, haben wir vor zwei Wochen miteinander erfahren. Vielen von uns steht das Glück über den Ökumenischen Kirchentag noch ins Gesicht geschrieben. Wir haben Rückenwind erlebt; und er weht noch. Erlöster sollten die Christen aussehen, wenn man ihnen ihre Botschaft glauben solle, hat Friedrich Nietzsche einmal gesagt. Solche Menschen konnte man in Berlin sehen, in einer entspannten und überzeugenden, in einer fröhlichen und sympathischen Weise. Die ökumenische Gemeinschaft unserer Kirchen hat eine neue Qualität angenommen. Ihre Verbindlichkeit ist gewachsen. Klarheit unseres gemeinsamen Bekenntnisses wird nun von uns erwartet. Und erwartet wird von uns, dass wir die besonderen Prägungen unserer Kirchen einbringen als ein kostbares Gut, das dem gemeinsamen Zeugnis weiterhilft.

Deshalb feiern wir das Jubiläum dieser Kirche. Hier in Bornim soll der christliche Glaube immer wieder lebendig werden als eine Kraft der Erneuerung. Gewiss können wir nicht Gottes Menschenfreundlichkeit herbeizwingen. Aber wir können Menschen dabei helfen, dass sie Augen, Ohren und Herzen für Gottes Liebe öffnen. Dann begegnet sie nicht nur in den großen Ereignissen wie einem Ökumenischen Kirchentag. Dann begegnet sie auch in der alltäglichen Hilfsbereitschaft, die einem anderen wieder Freude schenkt. Auch die Großzügigkeit im Kleinen wird zu einem Gleichnis für Gottes Großzügigkeit. Denn er erneuert unser Leben über alles Bitten und Verstehen hinaus. Das wird in dieser Kirche verkündigt von Woche zu Woche. Und dafür leben wir als Christen von Tag zu Tag. Gott gebe dazu seinen Segen. Amen.