Predigt im Ordinationsgottesdienst am Sonntag Trinitatis (Johannes 3, 18)

15. Juni 2003, Glaubenskirche Alt-Tempelhof zu Berlin

I.
„Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren wird“.

So endet das Evangelium für den heutigen Sonntag. Das ist ein anarchistischer Schluss. Der Geist lässt sich nicht kontrollieren. Er weht, wo er will. Wenn wir nur wüssten, wo er zu finden ist, machten wir uns sofort zu ihm auf den Weg. Sogar die Ordinandinnen und Ordinanden, um die wir uns heute versammelt haben, würden vielleicht alles stehen und liegen lassen, wenn klar wäre, wo der Geist zu finden ist, dieser Anarchist, der durch keine Kirchenordnung zu bändigen ist. Auch wenn man ihn sausen hört, weiß man noch lange nicht, woher er kommt. Man muss ihn suchen; und manche Suche ist vergeblich.

Die Sehnsucht nach diesem Geist ist groß, gerade heute. Je mehr die Technik vermag, desto größer wird die Sehnsucht nach dem Geist. Seit die menschliche Geisteskraft gegenüber der Technik immer deutlicher den Kürzeren zieht, fragt man sich nach einem Geist, der mehr vermag. Als vor einigen Jahren zum ersten Mal ein Computer den weltbesten Schachspieler schlug, ging ein Raunen durch die Welt: die Maschine kann es besser. Der maschinenmäßige Verstand trägt den Sieg davon, der menschliche Geist zieht den Kürzeren.

In die letzten Ritzen menschlichen Lebens dringt diese Veränderung ein: Gefühle zählen nicht mehr; Herzlichkeit und Liebe – wozu braucht man sie noch? Selbst für das Gebären und Geborenwerden scheint man bald nicht mehr auf den Menschen angewiesen zu sein. Die Reproduktionsmedizin macht es besser. Vielleicht schon in naher Zukunft wird ein menschlicher Embryo hergestellt, ohne dass von der Mutter oder dem Vater noch die Rede ist. Doch wenn die Zukunft immer stärker unter den Bann des Nicht-menschlichen gerät, fragen wir zugleich neu nach dem Menschlichen. Wenn unser Leben immer stärker unter die Herrschaft des technisch Herstellbaren tritt, verstärkt sich zugleich die Sehnsucht nach einem Geist, der diese Herrschaft des Geistlosen bändigt. Der Geist weht, wo er will? Sofort würden wir uns auf den Weg machen, wüssten wir nur, wo er zu finden ist.

II.
Der Weg des gelehrten Pharisäers Nikodemus zu Jesus ist uns also nicht unverständlich. Es ist kaum ein Zufall, dass Nikodemus sich bei Nacht zu diesem Gespräch aufmacht. Nachts redet man, wenn es um letzte Dinge geht. Nachts redet man ungeschützt. Aber bei Nacht zu einem andern zu gehen, hat auch den Vorteil, dass man nicht gesehen wird. Für einen Kontakt auf Probe ist das besser. In vielen Situationen hat sich das schon bewährt, ehrenwerten oder auch weniger ehrenwerten. Man kränkt Nikodemus nicht, wenn man sagt: Auf seine Verbindung zu Jesus will er nicht sofort festgelegt werden. Es handelt sich um einen Versuch. Ob er Folgen haben wird, zeigt sich erst später. 

Nikodemus will festen Grund unter die Füße bekommen. Er hält sich an einen, von dem er den Eindruck hat, er sei von Gott gesandt. Denn Jesus vollbringt Zeichen, wie sie nur in Gottes Namen möglich sind. Die Festfreude erneuert er, indem er Wasser in Wein verwandelt. Den Tempel erneuert er, indem er seinem Missbrauch als Krämerbude ein Ende setzt. Was aber ist sein Vorschlag für die Erneuerung des einzelnen, für die Erneuerung des inneren Menschen? „Nur wer von neuem geboren wird, kann das Reich Gottes sehen“. So heißt Jesu Antwort.

Nikodemus erhebt einen Einwand, der auf der Hand liegt. Geboren werden wir nur einmal. Was er vorbringt, verstehen wir sofort. Der nüchterne Widerspruch behält sein Recht, obwohl heute die Wiedergeburt plötzlich in aller Munde ist. In unseren Tagen ist Wiedergeburt, Reinkarnation für viele zum wichtigsten religiösen Symbol überhaupt geworden. In die Hoffnung, dass ihr Leben ewig währt, phantasieren sie sich so hinein, dass sie aus den östlichen Religionen vor allem diese Vorstellung übernehmen: In einem künftigen Leben werden wir in einer veränderten Gestalt auf diese Erde zurückkehren.

Doch wir nehmen uns selbst zu wichtig, wenn wir so sehr am Gedanken eines zweiten und dritten Lebens hängen. Die Ewigkeit, die Gott uns verheißt, hat eine andere Gestalt als die einer solchen Wiedergeburt.

Und die Wiedergeburt, von der Jesus redet, zielt auf mehr: Sie zielt auf dieses, nicht erst auf ein späteres Leben. Von einer Erneuerung unseres Lebens kann nur die Rede sein, wenn sie sich jetzt vollzieht. Wie kann das sein? So fragt schon Nikodemus. Wir können doch nicht in den Leib unserer Mutter zurückkehren, um noch einmal geboren zu werden!

Nein, antwortet Jesus, es geht nicht um eine Wiederholung der Geburt aus dem Leib der Mutter. Es geht um eine Neugeburt aus Wasser und Geist. Der Hinweis auf das Wasser, auch wenn er nachträglich eingefügt sein mag, ist grundlegend. Denn die Taufe mit Wasser ist das zentrale Unterpfand der Neugeburt, des Neuwerdens, Ein Zeichen, das über unserem ganzen Leben steht. Die Tauferinnerung war deshalb das Thema des großen Abschlussgottesdienstes, mit dem vor zwei Wochen der Ökumenische Kirchentag in Berlin endete. Aber die Taufe vollzieht sich nur einmal. Allein sichert sie noch nicht, dass wir aus den Kräften der Erneuerung leben. Die Taufe garantiert noch nicht, dass wir als Christen vor Verknöcherung bewahrt bleiben. Ein guter Anfang gewährleistet noch nicht ein gutes Ende. Deshalb ist noch etwas anderes vonnöten: der Geist, der lebendig macht und lebendig erhält.

III.
Kann man denn auf einen solchen Geist rechnen? Es gibt nichts Neues unter der Sonne, entgegnen die Skeptiker. Unser Leben wird durch ein Programm gesteuert, über das wir nicht verfügen, sagen moderne Menschen. Ein Vers hat diese Lebensphilosophie einmal so beschrieben: „Das Leben ist ein Würfelspiel, / wir würfeln alle Tage. / Dem einen bringt das Schicksal viel, / dem andern Müh und Plage.“

Solche Einwände sind schon Nikodemus vertraut. „Man kann nicht neu geboren werden, wenn man alt ist“, sagt er. Jesus setzt dem eine andere Überzeugung entgegen. Sie heißt: Die Kraft der Erneuerung ist nicht berechenbar, aber verlässlich. Gottes Liebe ist diese Kraft der Erneuerung. Mit dieser Liebe identifiziert sich Jesus selbst: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh 3,16).

Nicht dass wir besser rechnen können als ein Computer, sondern dass wir uns auf Gottes Liebe einlassen, macht unser Leben menschlich. Wir öffnen uns für die Kraft der Erneuerung, unabhängig von unserem Alter. Inmitten alltäglicher Freuden und Sorgen, im zuversichtlichen Vertrauen auf unsere Kräfte wie angesichts unserer Schwächen wissen wir: Jeder Tag ist ein Tag der Wiedergeburt, der Beginn eines neuen Lebens. Im Vertrauen auf den Geist Jesu können wir für das eigene Leben gelten lassen, dass das christliche Leben eine tägliche Umkehr, ein täglicher Neuanfang, eine tägliche Buße ist. Martin Luther hat das so gesagt. In der ersten seiner 95 Thesen ist das festgehalten. Die Reformation hat so begonnen.

Es handelt sich also nicht um ein vergangenes Erbe, sondern um das Vertrauen auf diese Kraft zum Neubeginn, wenn heute sechzehn Pfarrerinnen und Pfarrer sich auf die Bekenntnisse der Reformation verpflichten und es zu ihrer Lebensaufgabe machen, die biblische Botschaft im Licht der reformatorischen Erkenntnis weiter zu geben. Es ist nicht ein rückwärts gewandte Tätigkeit, sondern der hoffnungsvollste Beruf überhaupt, wenn sechs Frauen und zehn Männer sich der Aufgabe widmen, anderen die Botschaft des Evangeliums in Wort und Sakrament nahe zu bringen. Denn es geht dabei um nichts anderes als um den Geist der Liebe, der uns aus dem alten Trott befreit und uns ein neues Leben ermöglicht.

Gewiss: Dieser Geist weht, wo er will. Aber wir können ihn aufspüren oder blind für ihn sein. Wir können uns ihm öffnen oder verschließen. Christliche Gemeinden sind neugierig für das Wirken des Geistes. In christlichen Gemeinden verbinden sich Menschen miteinander, die einander beim täglichen Neuanfang beistehen. Sie schauen danach aus, dass der Wind, der weht, wo er will, zum Rückenwind wird.

Dass das möglich ist, haben wir vor zwei Wochen miteinander erfahren. Vielen von uns steht das Glück über den Ökumenischen Kirchentag noch ins Gesicht geschrieben. Wir haben Rückenwind erlebt; und er weht noch. Erlöster sollten die Christen aussehen, wenn man ihnen ihre Botschaft glauben solle, hat Friedrich Nietzsche einmal gesagt. Solche Menschen konnte man in Berlin sehen, in einer entspannten und überzeugenden, in einer fröhlichen und sympathischen Weise. Die ökumenische Gemeinschaft unserer Kirchen hat eine neue Qualität angenommen. Ihre Verbindlichkeit ist gewachsen. Klarheit unseres gemeinsamen Bekenntnisses wird nun von uns erwartet. Und erwartet wird von uns, dass wir die besonderen Prägungen unserer Kirchen einbringen als ein kostbares Gut, das dem gemeinsamen Zeugnis weiterhilft.

Wenn ihr heute als evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer ordiniert werdet, übernehmt ihr damit eine doppelt schöne Pflicht: Das evangelische Bekenntnis sollt ihr weitergeben an die nächste Generation; und das Gemeinsame unseres christlichen Glaubens sollt ihr stärken, wo immer das geht. Vor allem aber: Durch euch soll der christliche Glaube lebendig werden als eine Kraft der Erneuerung. Dass Gottes Gnade Menschen weiterhilft auf den Höhen wie in den Tiefen ihres Lebens, ist die große Verheißung, unter der euer Lebensweg steht. Dass sich unser Glaube bewährt als eine Kraft, an der sich Menschen orientieren und die in unsere Gesellschaft hineinwirkt, ist die Hoffnung, die euren Dienst begleitet.

Gewiss können wir nicht Gottes Menschenfreundlichkeit herbeizwingen. Aber wir können Menschen dabei helfen, dass sie Augen, Ohren und Herzen für Gottes Liebe öffnen. Dann begegnet sie nicht nur in den großen Ereignissen wie einem Ökumenischen Kirchentag. Dann begegnet sie auch in der alltäglichen Hilfsbereitschaft, die einem anderen wieder Freude schenkt. Auch die Großzügigkeit im Kleinen wird zu einem Gleichnis für Gottes Großzügigkeit. Denn er erneuert unser Leben über alles Bitten und Verstehen hinaus. Das dürft ihr verkündigen, dafür könnt ihr leben Tag für Tag. Gott gebe dazu seinen Segen. Amen.