Predigt in St. Peter und Paul auf Nikolskoe (Matthäus 25,14-30)

17. August 2003

Jesus erzählte ein weiteres Gleichnis: Mit dem Himmelreich ist es „wie mit einem Menschen, der außer Landes ging; er rief seine Knechte und vertraute ihnen sein Vermögen an; dem einen gab er fünf Zentner Silber, dem andern zwei, dem dritten einen, jedem nach seiner Tüchtigkeit, und zog fort. Sogleich ging der hin, der fünf Zentner empfangen hatte, und handelte mit ihnen und gewann weitere fünf dazu. Ebenso gewann der, der zwei Zentner empfangen hatte, zwei weitere dazu. Der aber einen empfangen hatte, ging hin, grub ein Loch in die Erde und verbarg das Geld seines Herrn. Nach langer Zeit kam der Herr dieser Knechte und forderte Rechenschaft von ihnen. Da trat herzu, der fünf Zentner empfangen hatte, und legte weitere fünf Zentner dazu und sprach: Herr, du hast mir fünf Zentner anvertraut; siehe da, ich habe damit weitere fünf Zentner gewonnen. Da sprach sein Herr zu ihm: Recht so, du tüchtiger und treuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen; geh hinein zu deines Herrn Freude! Da trat auch herzu, der zwei Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, du hast mir zwei Zentner anvertraut; siehe da, ich habe damit zwei weitere gewonnen. Sein Herr sprach zu ihm: Recht so, du tüchtiger und treuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen; geh hinein zu deines Herrn Freude! Da trat auch herzu, der einen Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, ich wusste, dass du ein harter Mann bist; du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast; und ich fürchtete mich, ging hin und verbarg deinen Zentner in der Erde. Siehe da hast du das Deine. Sein Herr aber antwortete und sprach zu ihm: Du böser und fauler Knecht! Wusstest du, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nicht ausgestreut habe? Dann hättest du mein Geld zu den Wechslern bringen sollen, und wenn ich gekommen wäre, hätte ich das Meine wiederbekommen mit Zinsen. Darum nehmt ihm den Zentner ab und gebt ihn dem, der zehn Zentner hat. Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden. Und den unnützen Knecht werft in die Finsternis hinaus; da wird sein Heulen und Zähneklappern.“

(Matthäus 25,14-30)


I.
Geld muss arbeiten. Dafür spricht nicht nur die tägliche Erfahrung. Das bestätigt auch dieses Gleichnis. Doch von Jesus hätten wir diese Lehre am wenigsten erwartet. Vielmehr wirkt es grotesk, ausgerechnet von ihm zu hören, wie man Geld vermehrt. Er selbst hatte nämlich nichts davon. Er besaß überhaupt nahezu nichts: ein paar Kleidungsstücke, um die zuletzt die Henker würfelten, mehr nicht. Judas verwaltete, wie wir wissen, eine bescheidene Gemeinschaftskasse. Die Jünger mussten am Sabbat auf fremden Feldern Ähren raufen, so hungrig waren sie. Eine ordentliche Mahlzeit bekamen sie nur, wenn Jesus sich und damit auch sie unverschämterweise bei einem reichen Zöllner oder anderen Sympathisanten zum Essen einlud. Von Geld keine Spur. Und nun redet er plötzlich von Riesensummen. In Zentnern Silbergeld wird gerechnet. Gelobt wird der, der das ihm anvertraute Vermögen in kurzer Zeit verdoppelt. Und zu dem, der auf diese Weise zehn Zentner Silbergeld abliefern kann, sagt der von seiner Reise zurückkehrende Herr: „Du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen.“ Es ist schon schelmische Ironie, in einem solchen Zusammenhang von „wenig“ zu reden.

Aber auch diese Ironie hat viele Leser und Hörer unseres Gleichnisses nicht davon abgehalten, in ihm einen Lobpreis der Kapitalvermehrung zu sehen. Bertolt Brecht war nicht allein mit seiner Meinung, Jesus rechtfertige hier Ausbeutung und Profit. Gott erscheine in diesem Gleichnis als ein Gott der Kapitalisten und nicht der Armen. Im „Dreigroschenroman“ träumt der arme Soldat Fewcoombey davon, er könne als oberster Richter dem Kleinbürger Jesus von Nazareth den Prozess machen, weil er ein solches Gleichnis erfunden habe. Brechts „Ballade vom Pfund“ geht so:

„Als unser Herr auf Erden
In Sprüchen sich erging
Da hieß er uns bewerten
Den Wucher nicht gering.

   Er riet all den Besuchern
   Die er bei sich empfing
   Mit ihrem Pfund zu wuchern
   So gut es irgend ging.

Und dass er Ihm gefalle
Strengt sich ja jeder an!
So wucherten denn alle
Die’s vordem auch getan.

   Und sieht man denn nicht stündlich
   Auf Erden weit und breit
   Dass Gott dem, der nicht gründlich
   Mitwuchert, nicht verzeiht?

Nur, die kein Pfündlein haben
Was machen denn dann die?
Die lassen sich wohl begraben
Und es geht ohne sie?

   Nein, nein, wenn die nicht wären
   Dann gäb’s ja gar kein Pfund
   Denn ohne ihr’ Schwielen und Schwären
   Macht keiner sich gesund.“

Auf eine solche Deutung kann einer verfallen, wenn er die schelmische Ironie in Jesu Gleichnis verkennt. Das ist immer wieder der Fall, keineswegs nur bei Brecht. Doch die Zielsetzung des Gleichnisses wird dabei gründlich verkannt. Es will unsere Aufmerksamkeit in ganz andere Richtung lenken durch die maßlose Übertreibung, mit der es arbeitet. Ein verreisender Herr wird, realistisch betrachtet, für sein Vermögen wohl besser sorgen, als dass er es einfach seinen Sklaven anvertraut, vollständig und ohne Rest. Und er wird wohl kaum mit Wachstumsraten seines Vermögens rechnen, wie wir sie nicht einmal in den goldenen Zeiten der Börse während der neunziger Jahre, im Boom der New Economy, erlebt haben. Vor allem aber wird er von keinem seiner Sklaven erwarten, dass er flagrant gegen das geltende Recht verstößt.

II.
Denn Wucher war zu Jesu Zeit vom rabbinischen Recht mit aller Klarheit verboten. Vorhandenes Vermögen zu sichern, war die einzig legale Verhaltensweise. Es zu vergraben, war durchaus üblich. Dieses Vorgehen war keineswegs so befremdlich, wie es heute auf uns wirkt. Nicht die beiden ersten Knechte, die sich der wunderbaren Geldvermehrung rühmen, haben sich korrekt verhalten. Der dritte Knecht vielmehr ist der einzige, der den Regeln gefolgt ist. Nicht nur deshalb gilt ihm meine besondere Sympathie. Die beiden ersten sind auf solche Sympathie gar nicht angewiesen. Sie wurden reichlich mit fünf und mit zwei Zentnern Silbergeld ausgestattet. Die Art, in der sie damit gewirtschaftet haben, findet das Wohlwollen ihres Herrn. Sie sollen sowieso eingehen „zu ihres Herrn Freude“; unsere Sympathie brauchen sie gar nicht. Den dritten Knecht dagegen benachteiligt der Herr ganz offensichtlich. Nur ein Zentner Silbergeld wird ihm anvertraut. Die Art, in der er dieses Vermögen hütet, stößt auf die scharfe Kritik seines Herrn. Der verwünscht ihn sogar. Dabei hat dieser Knecht doch nur getan, wozu er verpflichtet war. Auf die Härte und Unerbittlichkeit des Herrn braucht er sich dafür gar nicht zu berufen. Der Hinweis auf die Klarheit der Rechtsordnung hätte vollkommen genügt.

Warum gibt ihm dann Jesus nicht Recht? Warum stellt er ihn so bloß? Weil es gar nicht um den Umgang mit dem Geld geht. Es geht um den Umgang mit den Gaben, die Gott uns anvertraut. Es geht um den Umgang mit der einzigen Gabe, die sich tatsächlich vermehrt, wenn wir sie verschwenderisch ausgeben, und verkümmert, wenn wir sie vergraben. Gottes guter Geist, die Kraft zur Versöhnung, die Fähigkeit zur Liebe ist diese Gabe. Wer diese Geistesgabe versteckt, um sie unter Kontrolle zu halten, zerstört sie. Heulen und Zähneklappern sind die Folge. Ja, wer alles kontrollieren will, knirscht auch noch im Dunkeln mit den Zähnen. Nachts holt er so all die Kontrolle auch noch nach, zu der es am Tag nicht gereicht hat. Wer Gottes Liebe so unter Kontrolle halten will, verliert alle Kontrolle.

Es geht nicht um kapitalistische Geldvermehrung als Norm. Und es geht auch nicht um die Verurteilung dessen, der gegen diese Norm verstößt. Das Geld, das sich vermehrt, wenn man nur phantasievoll genug damit umgeht, ist in Jesu Mund lediglich ein provozierendes Bild für die Liebe, die sich nicht verausgabt, wenn man sie mit anderen teilt, die zu einem großen Strom anschwillt, wenn man sie nur strömen lässt.

Wie abwegig ist es deshalb, wenn man Jesus oder den Gott und Vater Jesu mit dem gestrengen Herrn gleichsetzt, der in die Ferne reist und bei der Rückkehr unerbittlich Rechenschaft fordert. Das soll derselbe Jesus sein, der sagt: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“? Von ihm soll man sich vorstellen, er habe den Menschen Heulen und Zähneklappern in der Finsternis angekündigt? Vor einigen Jahrzehnten hat ein Erforscher des Neuen Testaments behauptet, er habe ein bisher unbekanntes Jesuswort entdeckt: „Da wird sein Heulen und Zähneklappern, sagte Jesus. Und siehe, einer seiner Jünger sagte zu ihm: Rabbi, wie ist dies möglich, wenn sie zahnlos sind  Und Jesus antwortete und sprach: O ihr Kleingläubigen, sorget euch nicht; wenn ihnen zufällig welche fehlen, werden ihnen Zähne nachwachsen.“ Es hat lange gedauert, bis man herausfand, dass es sich bei diesem angeblich in einer marokkanischen Moschee aufgefundenen Jesuswort um eine Fälschung handelte.

III.
Aber dass Menschen durch die Furchtsamkeit, in der sie die Liebe verstecken, in äußerste Finsternis geraten, kann keiner von uns leugnen. Wir kennen solche Finsternis von uns selbst wie von anderen. Denn die Furcht vor der Liebe Gottes, vor seinem guten Geist, ist der Kern der Sünde. Und Sünde ist die Einsamkeit, in der wir nichts mehr hören als unseren eigenen Jammer, das Klappern unserer Zähne. Es ist aber genau diese Finsternis selbst, die Jesus auf sich genommen hat. Die Finsternis, in die der dritte Knecht sich gestoßen fühlt, ist dieselbe, in welcher der Gottesknecht, der wahre Herr aller Knechte starb: „Und von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über die ganze Erde bis zur neunten Stunde“, so heißt es beim selben Evangelisten Matthäus in der Passionsgeschichte, „und Jesus schrie mit lauter Stimme und starb.“ Dass Jesu Schrei diese Finsternis erreicht, ist der Grund aller Hoffnung. Dass er in unsere Finsternis sein Licht bringt, ist die Verheißung, ohne die wir nicht leben könnten. Es ist die Hoffnung auch für den dritten Knecht.

Nicht Heulen und Zähneklappern stehen deshalb am Ende dieser Geschichte, sondern die Freiheit von der Angst zu versagen. Denn es ist diese Angst, aus der heraus wir unsere Talente verstecken und vergraben. Es ist diese Angst, zu der sich der Dichter Robert Gernhardt einmal mit folgenden Worten bekannte – in einem Gedicht, dem er selbst ausdrücklich die Überschrift „Bekenntnis“ gab:

„Ich leide an Versagensangst,
besonders wenn ich dichte.
Die Angst, die machte mir bereits
manch schönen Reim zuschanden.“

Diese Versagensangst ist nicht mehr nötig. Denn keine unserer Gaben ist zu gering, als dass sie nicht im Licht der göttlichen Liebe strahlen könnte. Keine unserer Begabungen ist unnütz, keine braucht zu verkommen. In der göttlichen Haushaltsordnung hat jede unserer Gaben ihren Wert: die Gabe zu trösten ebenso wie die Fähigkeit zu planen, die Lust am Geschichten Erzählen ebenso wie die Durchhaltekraft bei der Arbeit. Ist es nicht wunderbar, dass in dem berühmten Kinderbuch über die Maus Frederick deren besonderes Talent gewürdigt wird? Frederick sammelt nicht wie die anderen Mäuse essbare Vorräte für den Winter; Frederick bereitet sich darauf vor, in den kalten Wintermonaten die anderen durch seine Erzählungen zu erwärmen und zu erfreuen. Auch das ist ein Talent.

Dieser Sommer hat uns viel Gelegenheit gegeben, uns an den Gaben der Natur zu freuen und für das Licht der Sonne zu danken. Vorhin haben wir auch in unserem Gottesdienst diesen Dank besungen: „Freuet euch der schönen Erde, / denn sie ist wohl wert der Freud“! Von dieser Erde heißt es dann ausdrücklich: „Und doch ist sie seiner Füße / reich geschmückter Schemel nur, / ist nur eine schön begabte, / wunderreiche Kreatur.“ Wenn wir die Natur, die uns umgibt, als Gottes „schön begabte, wunderreiche Kreatur“ besingen, warum dann eigentlich nicht auch uns selbst? Haben wir ein Recht dazu, die schönen Begabungen unter den Scheffel zu stellen, die Gott uns selbst anvertraut? Jesu Gleichnis gibt uns dazu kein Recht. Das Wort „Talent“ hat übrigens nur durch dieses Gleichnis Eingang in unsere Sprache gefunden. Die Zentner, von denen es redet, heißen im Griechischen „Talent“. So wie wir die guten Gaben der Natur preisen, so haben wir auch allen Grund, für die guten Gaben unseres Lebens zu danken und uns zu freuen, wie sie leuchten, wenn das Licht der Liebe sie erreicht. Wir wollen diese Gaben nicht länger ängstlich verstecken oder furchtsam kontrollieren. Wir wollen sie dankbar annehmen und verschwenderisch verschenken. Sie werden dadurch nur mehr.

IV.
Das ist christliche Freiheit. Nelson Mandela, dieser wunderbare Präsident des freien Südafrika, hat bei seiner Antrittsrede im Mai 1994 diese christliche Freiheit eindrücklich zur Sprache gebracht. In dieser Antrittsrede heißt es:

„Unsere tiefste Angst ist es nicht, ungenügend zu sein. Unsere tiefste Angst ist es, dass wir über die Maßen kraftvoll sind. Es ist unser Licht, nicht unsere Dunkelheit, das am meisten Angst macht. Wir fragen uns selbst, wer bin ich – von mir zu glauben, dass ich brillant, großartig, begabt und einzigartig bin?

Aber in Wirklichkeit – warum solltest du es nicht sein? Du bist ein Kind Gottes. Dein Kleinmachen dient nicht der Welt. Es zeugt nicht von Erleuchtung, sich zurückzunehmen, nur damit sich andere Menschen um dich herum nicht verunsichert fühlen. Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit Gottes, die in uns liegt, auf die Welt zu bringen. Sie ist nicht nur in einigen von uns, sie ist in jedem! Und indem wir unser eigenes Licht scheinen lassen, geben wir anderen Menschen unbewusst die Erlaubnis, das Gleiche zu tun. Wenn wir von unserer eigenen Angst befreit sind, befreit unser Dasein auch die anderen.“

So ist es mit den Talenten, die Gott uns anvertraut. Amen.