Predigt in St. Marien zu Berlin ((Markus 7, 37)

Wolfgang Huber

„Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.“

1.
Mit diesem erstaunten Ausruf endet die Geschichte von der Heilung eines taubstummen Mannes; wir haben sie gerade als Evangelium gehört. In dieser erstaunten Reaktion auf Jesu heilendes Eingreifen klingt die Erinnerung an den Anfang allen Lebens an. Dieser Ausruf erinnert an nichts Geringeres als an die Erschaffung der Welt. Etwas Schöpferisches hat sich nämlich ereignet. Ausdrücklich wird aufgenommen, was zu Beginn von der Schöpfung im Ganzen gesagt wird: „Gott sah an alles, was er gemacht hatte; und siehe, es war sehr gut.“

In menschliches Leiden hinein wirkt Gottes schöpferische Kraft, die Kraft seiner Liebe. Jesus erweist sich als deren Bürge. Er will Menschen wieder den Weg dazu öffnen, dass sie die Güte der Schöpfung Gottes erleben können, das Licht, das sie erfüllt, die Schönheit der Blumen, die Fröhlichkeit der Kinder, die Harmonie eines Tages, wie gerade der Sonntag einer sein soll. Die Güte Gottes selbst erleben wir in hilfsbereiten Menschen, die uns aufrichten; Gottes Liebe selbst begegnet uns in dem überraschenden Verstehen zwischen Menschen, die sich gerade noch fremd waren. Es gibt vieles, das uns das Herz aufgehen lässt – es sei denn, wir sind taub geworden für das Klingen der Schöpfung, blind für die Farben der Natur, empfindungslos für die sprechenden Gesichter unserer Mitmenschen.

Nichts Schlimmeres kann einem Menschen widerfahren, als dass er nicht verstehen kann und nicht verstanden wird. Glücklicherweise kommt es heute nur noch selten vor, dass jemand wirklich taubstumm ist im vollen Sinn des Wortes, dass er also weder hören noch sich mitteilen kann. Den meisten wird geholfen. Beispielsweise lernen sie die Gebärdensprache und fühlen sich in der Gemeinschaft von Menschen mit ähnlichem Schicksal geborgen. Aber das gibt es nach wie vor: dass jemand nicht verstehen kann und nicht verstanden wird. Franz Kafka schildert das in seiner Erzählung „Der Nachbar“ sehr anschaulich. Die Unfähigkeit zum zwischenmenschlichen Kontakt schlägt alsbald in die lähmende Macht des Argwohns, ja der manischen Angst um das eigene Leben um. Die Stimme zittert, Unruhe ergreift den ganzen Körper, die alltäglichste Entscheidung wird unsicher und fraglich. Wir können ein ausgezeichnetes Gehör und ein lebhaftes Mundwerk haben; und dabei sind wir in Wahrheit doch taub und stumm. Und auch das andere kommt vor: Wir möchten gern hören; und wir wollen dann auch reden: Aber es gibt niemanden, auf den wir hören und zu dem wir reden können. Es kommt tatsächlich vor – und nicht zu selten – , dass ein Mensch niemanden hat, der ihn hört und zu dem er sprechen kann.

Diese Art von Taubstummheit trifft junge wie alte Menschen. Im Jahr 1970 fand man in den USA ein Mädchen im Alter von dreizehn Jahren – Genie, „Genie“ war der ungewöhnliche Name dieses Kindes. Vom zwanzigsten Lebensmonat an hatte der Vater dieses Kind in eine kleine dunkle Kammer gesperrt. Kein menschliches Wort durfte an sein Ohr dringen. Als man es dreizehnjährig fand, war es 1,35 Meter groß, wog nur 25 Kilogramm und konnte keine feste Nahrung kauen. Nachdem man das Kind entdeckt hatte, erhielt es alle Zuwendung, die sich denken lässt. Doch es dauerte sieben Jahre, bis man auf diese Zuwendung ein Echo erlebte. Zu den ersten Äußerungen, die Genie zu Papier brachte, gehörte ein Bild mit wenigen Worten. Eine Frau konnte man auf dem Bild erkennen – und dazu die selbst geschriebenen Worte: „Ich vermisse Mama“. Übergroß hatte sie den Arm der Mutter gemalt, in dem ein Kind lag: „Baby Genie“ stand ausdrücklich dabei. Deutlicher kann man nicht zeigen, was wir als Wichtigstes benötigen, um sprechen zu lernen, und was wir als erstes sagen, wenn wir sprechen dürfen. Ohne menschliche Beziehungen gibt es keine Sprache. Und ohne Sprache keine menschlichen Beziehungen.

Das Sprechen hat keinen Ort mehr, wenn wir nur noch allein leben. Von einer alt und einsam gewordenen Frau wird erzählt, die bis in ihr hohes Alter hinein Tagebuch schrieb. Als sie gestorben war, fand sich das Buch. Immer einsilbiger wurden die Eintragungen. „Niemand kam“, so stand da nur noch, über viele Tage hinweg. „Niemand kam.“ Dann kam der Tod.

Einsamkeit kann so schlimm empfunden werden, als wäre man taubstumm. „Ich habe den ganzen Tag meine Stimme nicht gehört“; „ich weiß gar nicht, ob ich noch sprechen kann“: solche Klagen alter Menschen sind vielen von uns vertraut. Keiner ist da, der den einsam gewordenen Menschen dorthin bringt, wo das Hören und Sprechen neu gelernt werden kann. „Glaube mir, es ist niemand auf der Welt, um einsam zu sein.“ So heißt es in einem Schlager. Aber es gibt viele Menschen, die einsam sind. Dafür sind sie nicht auf der Welt. Aber das gibt es in unserer Welt.

Und zwar in wachsendem Maß. Verbreitet ist die Meinung, traditionelle Familienformen hätten sich überlebt. Aber eher als andere bürgen Familien und Freundschaften dafür, dass Menschen nicht vereinsamen. Wer mit dreißig oder vierzig Jahren die Freiheit rühmt, die das Dasein als Single ermöglicht, fragt sich nicht, wer ihm mit siebzig oder achtzig noch Ansprechpartner ist. Und doch ist dies die entscheidende Frage an eine individualistische Gesellschaft wie die unsere. Heute werden wir nicht nur taubstumm, weil unsere Sinne versagen. Heute werden wir taubstumm aus Einsamkeit. Der Fernseher bietet keinen Ersatz, selbst wenn er laut gestellt wird.

2.
Jesus begegnet einem, der nichts versteht und sich nicht verständlich machen kann. Aber er begegnet ihm nur deshalb, weil es Leute gibt, die sich seiner angenommen haben. Ausdrücklich werden die Menschen erwähnt, die den Taubstummen zu Jesus brachten. Da gibt es Leute, die haben auch ohne Worte sein Problem verstanden und sich für ihn eingesetzt. Namen werden nicht genannt; die Helfer bleiben namenlos. Aber es hat sie gegeben; anders wäre der Taubstumme Jesus nicht begegnet.

„Hephata“, tu dich auf: so heißen inzwischen manche Bildungs- und Pflegeeinrichtungen evangelischer Diakonie. Hilfe dafür zu leisten, dass sich der Mund öffnen kann, darauf kommt es an. Menschen in die Nähe Jesu zu bringen, ist das Ziel. Die menschlichen Kontakte müssen wir eröffnen. Dabei wird auch Raum entstehen für den Kontakt mit Gott.

Mit Taubstummen machen unsere diakonischen Einrichtungen oft ihre eigenen Erfahrungen. Ein taubstummer junger Mann umarmte – manchmal zum Schrecken der jungen Mädchen und Frauen – fast alle, die in die Werkstatt für Behinderte kamen. Das war seine Form des Kontakts, Denn hören und auf das Gehörte antworten konnte er nicht. Eine Mitarbeiterin spürte, wie da ein Mensch seine Zugehörigkeit überstark artikulierte, wie eine unstillbare Sehnsucht. Die Mitarbeiterin hoffte darauf, dass der junge Mann durch ein verbessertes Verständnis seiner Umwelt auch leichter zu eigenen und selbstverantworteten Verhaltensweisen würde kommen können. Sie betrachtete mit ihm Bilder seiner Umwelt, übte mit ihm die entsprechenden Gebärden und zeigte ihm, wie man die dazugehörigen Worte schreibt. Nach einem halben Jahr beherrschte der taubstumme junge Mann 250 Begriffe seiner Umwelt. Er konnte sich austauschen – durch Gebärden und geschriebene Worte. Seine Sehnsucht war nicht mehr unstillbar. Sie fand ein Echo. Ein Mensch hatte ihn zu Jesus gebracht.

Vergleichbares kennen wir alle. Wo die Hilflosigkeit am größten ist, findet sich jemand, der uns unter die Arme greift, der weiß, was wir brauchen. Nichts ist für das menschliche Zusammenleben wichtiger als diese Hilfsbereitschaft. Nichts braucht eine Gesellschaft dringender als eine Kultur des Helfens. Diese Kultur des Helfens versteht sich nicht von selbst. Allzu viele denken nur noch an sich selbst und das eigene Fortkommen. Wo Arbeitsplätze knapp sind, breitet sich Selbstsucht aus. Wo nur noch der materielle Besitz gilt, kommt die Rücksicht auf andere zu kurz.

Aber gesiegt hat diese Denkweise noch nicht. Es gibt Gegenkräfte, im Kleinen wie im Großen. Es gibt die Menschen, die einen „Taubstummen“ nicht allein lassen. Es gibt Menschen, die einen einsam Gewordenen nicht sich selbst überlassen, sondern nachfragen, wo er geblieben ist. Es gibt die Bereitschaft zum Helfen.

3.
Heute feiern wir den Tag der Diakonie. Wir denken dabei vor allem an die Einrichtungen, die uns das Helfen abnehmen. Keine Aktivität der Kirche findet in der Öffentlichkeit mehr Zustimmung als die Diakonie. Natürlich freue ich mich darüber. Aber manchmal finde ich dieses positive Echo auch gefährlich. Sind wir mit der Diakonie so zufrieden, weil sie uns das Helfen abnimmt? Fühlen wir uns von der Verantwortung für die Taubstummen und Vereinsamten um uns her entlastet, weil es eine Institution gibt, die das an unserer Stelle tut?

Organisierte Hilfe ist nötig. Wenn es um den Beistand für Kranke und Behinderte, für Jugendliche und für Alte geht, ist es mit der spontanen Hilfsbereitschaft nicht getan. Professionalität ist gefragt. Aber Diakoniestationen oder Krankenhäuser, Beratungsstellen oder Altenheime machen das eigene Engagement nicht überflüssig. Wir alle sollten nicht darauf warten, dass wir erst hinterher in einem Tagebuch lesen: „Niemand kam.“

4.
Der Taubstumme im Evangelium hat Helfer gefunden. Sie brachten ihn einfach zu Jesus und baten ihn, ihm die Hand aufzulegen. So einfach stellten sie sich das vor. Wenn einer die Hand auflegt, wenn er den Segen weitergibt, der von Gott kommt, dann wird alles gut. So einfach ist das. Manche von uns haben das auch selbst schon so gespürt. Es gibt eine Kraft, die auf mich übergeht, weil einer mir die Hand auflegt. Doch in diesem Fall merkte Jesus, dass mehr nötig war. Wo das Hören versperrt ist, wo einer sich nicht verständlich machen kann, da steht mehr auf dem Spiel. Jesus legt deshalb die Finger in den wunden Punkt: in die Ohren des Kranken. Er berührt mit Speichel seine Zunge. Deutlicher kann er nicht zeigen, dass er ihm Vertrauen entgegenbringt. Wie zart und liebevoll Jesus mit dem Kranken umgeht! Weil er nicht hören kann, zeigt Jesus ihm, wo seine Not liegt, wo Hilfe nötig ist – in den Ohren, an der Zunge. Mit seinem Speichel zeigt er ihm: Du bekommst etwas von mir – dort, wo dir alles fehlte. Dein Ohren sollen geöffnet, deine Zunge soll gelöst werden. Und dann bittet er um die Kraft vom Himmel und sagt mit einem Wort, das auch ein Taubstummer von den Lippen ablesen kann: Hephata, tu dich auf.

Jesus verhält sich nicht wie ein „Wunderdoktor“, der Heilungserfolge in Serie hat. Er wendet sich ganz und gar diesem Menschen zu und bringt ihn in Verbindung mit dem Himmel, mit Gott und seiner Kraft.  „Hephata“, sagt er dann. Mit seinem lösenden Wort sprengt er die Fesseln; der in Hören und Sprechen Gebundene wird frei. Das Band seiner Zunge löst sich und er kann reden. Die Not seiner Einsamkeit fällt von ihm; er findet in die Gemeinschaft mit den Menschen und mit Gott.

Noch einmal: In die Lage des Taubstummen können wir uns gut hineinversetzen. Einsamkeit haben wir alle schon erlebt. Diese Einsamkeit überwinden wir nur, wenn wir einen finden, der sich uns ganz zuwendet, sich ganz auf uns einlässt, den Finger auf den wunden Punkt legt. Wann immer das geschieht: wir dürfen wissen, dass es schon längst geschehen ist. Dafür ist Jesus der Bürge. Bevor wir es wissen, ist Gott uns nahe, lässt sich auf uns ein, will unsere Wunden heilen.

Christenmenschen sind dadurch verbunden, dass sie sich auf Jesus verlassen. Er bringt Gottes Liebe und Gottes Kraft zu uns, zu jeder und jedem einzelnen. Keine und keinen lässt er aus. Keine und keiner muss in der Einsamkeit zurückbleiben. Uns allen gilt das lösende Wort: Dir sind deine Sünden vergeben. Fang neu an.

Deshalb können auch wir in den Jubelruf einstimmen: „Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.“ Amen.