Predigt im Open-Air-Gottesdienst auf dem Leipziger Marktplatz

Wolfgang Huber

Liebe Gemeinde hier auf dem Leipziger Marktplatz, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer

Die Welt bewegen – ist das für uns überhaupt ein Thema? Die Welt bewegen – das ist doch mehr, als wir uns selber zutrauen! Wer wirklich die Welt bewegen will, der muss doch die Nummer 1 sein! Präsident Bush denkt vielleicht, er könne die Welt bewegen. Papst Johannes Paul II. fühlt wohl, so sehr Alter und Krankheit auf ihm lasten, er müsse noch die Welt bewegen. Aber Sie und ich – die Welt bewegen? Keiner von uns traut sich doch zu, die Nummer 1 zu sein. Die Welt bewegen – das können wir nur, wenn wir mit anderen durch dieselbe Hoffnung getragen sind. Die Welt bewegen wir nur, wenn uns ein Netzwerk des Vertrauens verbindet.

1.
Aber das ist schwer. Meistens kämpfen wir deshalb allein. Der erste muss ich sein. Das wusste schon der, der sich vom Teich Bethesda in Jerusalem Rettung erhoffte. Hunderte von Kranken liegen in den fünf Hallen rund um diesen See und starren auf seine Oberfläche. Sobald sich der See regt, müssen sie sich ins Wasser stürzen. Jeder muss der erste sein. Aber kaum einer kann es.

38 Jahre lang ist da einer gelähmt und kann sich nicht rühren. Keine Chance hat er darauf, als erster am See zu sein. Und trotzdem lässt er sich Tag für Tag hintragen. Seine Angehörigen setzen ihn ab und gehen ihrer Arbeit nach. Und er schaut auf den See. Wenn das Wasser sich bewegt, kommt er mit Sicherheit zu spät. Denn er ist lahm. Diese Krankheit kann nur zum Tod führen: die Krankheit, der Erste sein zu müssen.

Grotesk ist das; und doch ist es ein Spiegel, in dem wir uns auch selber sehen können. Die Krankheit, der erste sein zu müssen, ist uns nicht fremd. Unsere ganze Gesellschaft ist darauf angelegt. Jeder steht unter dem Druck, irgendwo der Schnellste, Stärkste, Schönste zu sein. Jeder muss unter Beweis stellen, wie mobil er ist. Immer schneller wollen wir ans Ziel kommen. Die mobile Gesellschaft ist das Leitbild. Die Liebe zur Mobilität wird als neue Religion verkündet. 

Aber der Versuch, der Erste und Schnellste zu sein, kippt unweigerlich ins Gegenteil um. Weil immer mehr Menschen der Erste und der Schnellste sein wollen, stehen sie sich wechselseitig im Weg. Weil wir uns wechselseitig überholen wollen, stehen wir im Stau. In Deutschland bringen die Menschen von ihren durchschnittlich 75 Lebensjahren volle drei Jahre im Stau zu. Allein viereinhalb Monate unseres Lebens schauen wir rote Ampeln an. Das Fortbewegungstempo in den Städten nähert sich immer stärker den Verhältnissen aus der Postkutschenzeit an. In deutschen Städten liegt der Durchschnitt bei sechzehn Stundenkilometern; das ist weniger, als ein leidlich geübter Fahrradfahrer zustande bringt. Zeit gespart hat am Ende keiner.

Immerzu wollen wir die Ersten sein. Und ungewollt erleben wir: Wer der Erste sein wird, wird der Letzte sein. Die Welt bewegen wir so nicht.

2.
Dem Gelähmten, der schon seit 38 Jahren wartet, geschieht plötzlich das Unerwartete. Da steht einer vor ihm und fragt: „Willst du gesund werden?“  Aber er ruft nicht: „Ja, ich will! Wie gut, dass du da bist! Wenn das Wasser sich bewegt, dann trag mich schnell an den Teich, damit ich der Erste bin!“ Stattdessen sagt der Gelähmte nur: „Ach, ich habe keinen Menschen!“ Wie soll ich gesund werden von der Krankheit, der Erste sein zu müssen, wenn mir keiner zur Seite steht? Die Erfahrung, immer der Erste sein zu müssen und es nie zu können, hat ihn schon so blind gemacht. Da steht einer vor ihm und wendet sich ihm zu. Und er antwortet: „Ach, ich habe keinen Menschen!“

An dieser Krankheit leiden wir alle. Wir schauen nicht auf den, der vor uns steht. Einer spricht uns an und wir weisen ihn ab. Jemand öffnet sich und wir sagen: Ich kenne dich nicht. Jemand bietet seine Hilfe an; ich aber behaupte, es sei keiner da, der mir hilft. Und deshalb verändert sich nichts. Jeder hat nur den eigenen Vorteil im Blick und vergisst die anderen, selbst wenn sie leibhaft vor ihm stehen.

Den eigenen Besitzstand wahren, weil auf die anderen doch kein Verlass ist! Die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen, weil man sonst sowieso den Kürzeren zieht! Nur dem anderen nicht vertrauen, weil sich Vertrauensseligkeit nie auszahlt! So heißen die Spielregeln. Nach diesen Regeln wird unsere Gesellschaft „reformiert“ – ob es nun um Gesundheit geht oder um Renten, um Arbeitslosigkeit oder um Gemeindefinanzen. Jeder schachert um den eigenen Vorteil; wer nach dem Gemeinwohl fragt, gilt als verrückt. Besitzstände dürfen kein Tabu sein. So wird lauthals verkündet. Aber damit sind nur die Besitzstände der andern gemeint, die eigenen nicht. Nur die Besitzstände der andern dürfen angetastet werden. Da sind wir eisern. Die eigenen Besitzstände werden mit Zähnen und Klauen verteidigt. Je größer die eigenen Besitzstände sind, desto unerbittlicher werden sie festgehalten. Was als Reform angekündigt wird, bleibt deshalb am Ende eine kleine Reparatur. Das erleben wir zur Zeit. Und die Reparatur, die erfolgt, trifft auch noch die falschen. Eines ist gewiss: Schon bald muss die nächste Ausbesserungsarbeit folgen. Weltbewegend ist daran gar nichts.

3.
Oder gibt es doch einen anderen Weg? Da ist ein Mensch, der auch nach 38 Jahren nicht aufgibt. Immer wieder lässt er sich an den Teich bringen, von dem jedermann Heilung erwartet. Er hofft weiter, und sei es gegen allen Augenschein. Nur wer hofft, verändert die Welt. Wer die Hoffnung aufgibt, lässt die Welt so, wie sie ist. Der Gelähmte mit seinem Bett ist ein unvergessliches Bild der Hoffnung.

Auf unerwartete Weise wird seine Hoffnung erfüllt. Da steht plötzlich einer vor ihm. Er ist davon so überrascht, dass er ganz erstaunt sagt: „Ich habe doch keinen Menschen.“ Da schenkt ihm einer plötzlich Gemeinschaft: Jesus, in dem Gottes Liebe zu den Menschen kommt. An ihm wird jede Mauer zu Schanden; er durchbricht jede Isolierung. Jesus sagt zu ihm einfach: „Steh auf, nimm dein Bett und geh.“ Plötzlich ist von dem See, von dem Wasser, von dem Zwang, der Erste zu sein, keine Rede mehr. Plötzlich ist der Gelähmte von all dem frei. Er ist wie erlöst. Er wacht auf. Seine Hoffnung erfüllt sich. Er kann vertrauen. Er nimmt sein Leben selbst in die Hand.

Er erlebt das, weil er die Hoffnung nie hatte fahren lassen. Aber zu der Hoffnung tritt plötzlich etwas Anderes hinzu: das Vertrauen. Im Vertrauen auf diesen fremden Menschen steht er auf. Im Vertrauen auf Jesus nimmt er sein Leben selbst in die Hand. Im Vertrauen auf Jesus wagt er zum ersten Mal nach 38 Jahren den aufrechten Gang. Und es geht.

Genau dieses Vertrauen brauchen wir heute. Ein Netz des Vertrauens müssen wir knüpfen. Denn unsere Welt kann nicht so bleiben, wie sie ist. Die Zahl derer, die am aufrechten Gang gehindert werden, ist zu groß. Die Arbeitslosen gehören dazu und unter ihnen vor allem die Älteren, die aus der Arbeit ausgesperrt sind und denen man heute sagt, dafür hätten sie nur Sozialhilfe verdient. Die Ärmsten der Armen gehören dazu, denen man höhnisch erklärt: Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Mit dem Spiel „Einer gegen Alle“ ändern wir daran nichts. Wir ändern es nur, wenn wir ein Netzwerk des Vertrauens knüpfen. Wir bewegen unsere Welt nur, wenn Nächstenliebe wieder mehr ist als nur ein Wort. Sie muss gelebt werden.

Dafür ist es nötig, dass wir aufstehen, aufeinander zugehen, voneinander lernen. Und dafür gibt es Beispiele. Der Nachbar, dem der Arbeitsplatz genommen wird, verliert dadurch nicht seinen Stolz. Denn er weiß, dass der launische Arbeitsmarkt ihm den Job, aber nicht die Würde nehmen kann. Die kranke Frau, der die unseligen Diskussionen über die Gesundheitsreform allen Mut rauben könnten, verliert diesen Mut nicht; denn sie vertraut darauf, dass sie Menschen um sich hat, die auf ihre Sorgen hören und die Last ihres Lebens mit ihr teilen. Es gibt schon ein Netzwerk des Vertrauens. Zu ihm gehören Menschen, die durch ihren Bürgermut etwas bewegen können und das auch wissen.

Hier in Leipzig machten sich 1989 Hunderttausende auf den Weg – mit aufrechtem Gang. Nicht nur hier in Leipzig kennt man die Melodie: Dona nobis pacem – Herr, gib uns deinen Frieden. Was ist dieser Frieden anderes als ein Netzwerk des Vertrauens? In diesem Netzwerk des Vertrauens entsteht der Frieden, den wir alle brauchen – ein Frieden in Gerechtigkeit. Deshalb wollen wir aufstehn, aufeinander zugehn, voneinander lernen, miteinander umzugehn!

Amen.