Predigt im Gottesdienst zum Tag der Deutschen Einheit (Psalm 103)

03. Oktober, Berliner Dom

Es gilt das gesprochene Wort.

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. So heißt es im 103. Psalm. Vorhin haben wir diese Psalmworte miteinander gebetet. Für den heutigen Tag, den Tag der deutschen Einheit 2003, ist uns dieses Wort als Tageslosung vorgegeben, ausgerechnet für diesen Tag ausgerechnet dieses Wort: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“

1.
Freimütig gesagt: Worte des Lobes habe ich in den letzten Tagen öffentlich nur selten wahrgenommen; vom Gotteslob war noch weniger die Rede. Eher gibt es Grund zu der Befürchtung, dass sich eine gewisse Mauligkeit unserer Gesellschaft bemächtigt. Oder sollte ich ernsthafter sagen: Unsicherheit über die Zukunft breitet sich aus?

Dreizehn Jahre nach dem Geschenk der deutschen Einheit sind wir eine Gesellschaft, die immer älter wird. Das löst Sorgen und Reformüberlegungen aus. Dabei geht es zurzeit nicht nur hektisch, sondern auch kontrovers zu. Die einen fürchten, dass diese Reformen nicht weit genug gehen. Die anderen bestimmt die Sorge, dass sie zu weit gehen werden. Die einen sagen voraus, dass auf die gegenwärtigen Reparaturbemühungen schon bald die nächste Korrektur folgen muss. Die anderen weisen darauf hin, dass mit den Veränderungen grundlegende Maßstäbe der sozialen Gerechtigkeit und des sozialstaatlichen Ausgleichs in Gefahr geraten.

In all diesen Diskussionen wird eine Antwort auf die drohende Überalterung unserer Gesellschaft kaum jemals erwähnt: das Ja zu Kindern. Der Dank für das Geschenk persönlicher Freiheit und politischer Einheit könnte ja auch darin bestehen, dass wir Zutrauen zur Zukunft, auch Zutrauen zur nächsten Generation haben. Die einfachste Antwort auf das Älterwerden der Gesellschaft liegt nicht in einer neuen Rentenpolitik, sondern in einer neuen Familienpolitik, die zu Kindern Mut macht. Denn die Stärke eines Landes zeigt sich auch darin, dass Menschen Ja zum Leben sagen – und zwar nicht nur zum eigenen Leben, sondern auch zum Leben einer nächsten Generation. Die verheißungsvollsten Bilder, die mir in diesen Tagen begegnen, zeigen eine neue Freude an Kindern. Es gibt das mitten in Berlin, wo in manchen Quartieren Kinderwagen das Straßenbild bestimmen.

Aber durchgesetzt hat sich dieser Stimmungsumschwung noch nicht. Noch immer prägen uns Mentalitäten aus der Zeit der deutschen Teilung. Auch dreizehn Jahre nach dem Beginn der staatlichen Einheit sind sie noch keineswegs überwunden. Noch immer treffe ich Westdeutsche, die Wittenberg und Wittenberge nicht unterscheiden können oder die staunen, dass Stralsund, wie sie sagen, wieder zu Deutschland gehört. Dabei verwechseln sie vielleicht Stralsund mit Stettin. Und Ostdeutsche kann man treffen, deren Neigung zur Ostalgie merkwürdige Blüten treibt. Nicht immer nimmt diese Ostalgie eine so heitere Form an wie in dem Film Good bye Lenin, der in liebevoller Ironie schildert, was geschehen kann, wenn jemand den Fall der Mauer in Berlin verpasst hat. Die Scheinwelten, die dann aufgebaut werden, können aber auch unerfreulichere Formen annehmen. Sie gehen bis dahin, dass manche wieder im FDJ-Hemd auftreten – als tauge ausgerechnet dieses Hemd zum Kultobjekt.

2.
In diese Situation hinein trifft uns die Aufforderung zum Lob: Lobe den Herrn, meine Seele. Aber kann man das Loben fordern? Gibt es Dankbarkeit auf Befehl? Zweifel sind angebracht.

Lobe den Herrn, meine Seele! In manchen Ohren klingt diese Aufforderung barsch. In der Sprache der hebräischen Bibel dagegen ist sie einladend. Warm ist der Ton; um eine Einladung geht es, nicht um einen Befehl. Am erstaunlichsten ist: Für die Aufforderung zum Loben wird genau das Wort verwendet, das wir üblicherweise mit „Segnen“ übersetzen: Segne den Herrn, meine Seele!

Das ist eine überraschende Wortwahl. Segen kennen wir doch nur in einer Richtung: von oben nach unten, von Gott zu den Menschen. Von Gott kann ich gesegnet werden, aber dass ich Gott segne – ist das nicht anmaßend?

Vielleicht ist das weniger verkehrt, als wir zunächst denken. Segnen bedeutet doch, sich einem andern zuzuwenden, Liebe und Güte zu ihm überströmen zu lassen. Der Segen, um den wir bitten und für den wir danken, ist ein Gruß der Liebe Gottes an uns; in ihm strömt Gottes Güte auf uns ein. Wenn dieser Segen so weiter gegeben wird, dass uns jemand die Hand auflegt oder sie segnend zu uns hin erhebt, so ist damit gemeint: Gottes Liebe ist wirklich auf mich gerichtet, mich selbst krönt er mit Gnade und Barmherzigkeit.

Wie sollte man darauf anders reagieren als dadurch, dass die eigene Seele sich öffnet und etwas von der Liebe und Güte zurückströmen lässt, die wir empfangen. Aus dankbarer Seele kommt es, wenn wir der Einladung folgen: Segne den Herrn, meine Seele.

Dazu werden wir eingeladen am Morgen dieses Tages, dreizehn Jahre nachdem die Einheit Deutschlands vollzogen und besiegelt wurde. Ein Gegenprogramm wird verkündet gegen die Haltung des wehleidigen Maulens und des miesepetrigen Kleinmuts. Der große Atem Gottes will uns aufnehmen und dazu helfen, dass wir die Proportionen nicht verkennen. Die Sorgen, die uns beschäftigen, die Unsicherheiten, auf die wir Antworten suchen, sie alle stehen im Rahmen des größten Geschenks, das unserer Generation überhaupt zu Teil werden konnte: Die Mauer in Berlin fiel, wir können uns frei bewegen und unser Geschick in gemeinsamer Verantwortung in die eigenen Hände nehmen.

3.
Dafür Gott zu danken, ist nicht zu viel verlangt. Der Imperativ legt nur nahe, was in Wahrheit von selbst aus vollem Herzen kommen kann. Doch hören wir genau hin: Nicht das Herz wird hier zum Loben aufgefordert; nein, es ist die Seele: Lobe den Herrn, meine Seele!

Oft und mit Nachdruck ist in der Bibel von der Seele die Rede, häufiger als in unserer Umgangssprache. Uns geht es mit der Seele eher so wie mit dem Gewissen. Erst als schlechtes Gewissen nehmen wir das Gewissen wahr. Erst als verletzte Seele tritt die Seele in unseren Blick. Wir reden von seelischem Druck oder seelischer Krankheit. So lange die Seele gesund ist, nehmen wir sie dagegen nicht wahr. Bei psychischen Problemen brauchen wir professionelle Hilfe; dass Krankheiten einen psychosomatischen Hintergrund haben können, zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. In solchen Zusammenhängen reden wir von der Seele, der psyche.

In den biblischen Psalmen jedoch ist die Seele nicht nur das Organ, in dem Angst oder Bedrängnis erfahren wird. Sie ist vielmehr auch der Ort der Freude und des Trostes. Wenn die Sehnsucht nach Befreiung erfüllt wird, wenn Sorgen sich lösen, wenn Menschen von ihrer Schuld erlöst werden, dann erfahren sie „Seelenheil“, dann breitet sich Freude in der Seele aus. Die Seele bezeichnet also unsere besondere Wahrnehmungsfähigkeit für die Wirklichkeit Gottes, für unsere Beziehung zum lebendigen Gott.

Kein Wunder, dass man in der Zeit der DDR von der Seele nichts wissen wollte. Schaut man beispielsweise in Meyers Jugendlexikon, das 1976 in Leipzig erschien, so findet sich dort hinter dem Stichwort „Seekrankheit“ gleich der „Seemannsknoten“. Für die Seele ist dazwischen kein Platz. Sie gehört nämlich zum Bereich des Religiösen; und für den hatten die damals Herrschenden keinen Sinn.

4.
Solche Verdrängung ist heute nicht mehr nötig. Vom „Seelenheil“ kann wieder gesprochen werden. Das Gotteslob unserer Seele kann laut werden. Es gibt Religionsfreiheit. Sie gilt nicht nur für Christen, sondern beispielsweise auch für Muslime. Sie gilt nicht nur für Glaubende, sondern auch für Nichtglaubende. Sie gilt übrigens auch in der Schule; und dort gilt sie für Lehrende wie Lernende.

Es gibt Anlass, daran zu erinnern. Ein Rechtsstreit erhitzt die Gemüter, der es auch mit der Religionsfreiheit zu tun hat. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zu der Frage geäußert, ob eine Muslimin, die an einer staatlichen Schule Lehrerin werden möchte, das Recht hat, das Kopftuch zu tragen – als ein Zeichen, das nach ihrer Auffassung muslimischen Frauen zu tragen geboten ist. Das Grundgesetz, so heißt die Auskunft des Bundesverfassungsgerichts, gibt dazu keine verbindliche Auskunft. Die Bundesländer müssen entscheiden, ob sie das Kopftuch als religiöses Symbol verbieten wollen. Doch müssen sie dann alle vergleichbaren religiösen Symbole gleich behandeln.

Doch leicht könnte dann die gleiche Religionsfreiheit in gleiche Unfreiheit umschlagen. Wird man dann aus Angst vor einem islamischen Symbol alle religiösen Symbole aus der staatlichen Schule verbannen – auch das Kreuz am Revers meines Anzugs? Würde das geschehen, so würden wir uns im Namen der Freiheit ein Stück weiter von den Wurzeln unserer Freiheit entfernen. Im Namen der Freiheit würden wir die Quellen verschütten, denen wir diese Freiheit verdanken.

Es geht jedoch nicht allein um die Religionsfreiheit. Es geht vielmehr um ein Symbol, mit dem eine kulturelle Kluft zum Ausdruck gebracht wird. Das Kopftuch – und erst recht die vollständige Verschleierung, die Burka – soll eine Stellung der Frau im Islam zum Ausdruck bringen, die vom Verhältnis der Geschlechter in unserer Kultur deutlich abweicht. Gewiss gibt es muslimische Frauen, die das Kopftuch aus freien Stücken und mit Selbstbewusstsein tragen. Als allgemeines Zeichen jedoch ist es ein Signal dafür, dass Frauen in Religion und Recht eine andere Stellung haben als Männer. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland dagegen bekennt sich ausdrücklich zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Ist es damit vereinbar, wenn eine beamtete Lehrerin im Unterricht der staatlichen Schule das islamische Kopftuch trägt? Distanziert sie sich damit nicht in erkennbarer Weise von einem zentralen Grundwert unserer Verfassungsordnung? Unterstreicht sie damit nicht eine kulturelle Kluft?

In einer plural gewordenen Gesellschaft akzeptieren wir kulturelle Unterschiede, auch im öffentlichen Raum. Wir respektieren – so hoffe ich – muslimische Frauen, die auf Berlins Straßen Kopftücher tragen. Doch eine beamtete Lehrerin muss auch in ihrem Verhalten die Grundrechte achten, die unser Gemeinwesen prägen. Gerade eine plurale Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass Vertreterinnen und Vertreter des Staates auf diese Weise dem Zusammenhalt in unserer Gesellschaft dienen.

Beides muss im Blick sein: die Religionsfreiheit und die Gleichberechtigung. Der Kopftuchstreit führt keineswegs zwangsläufig dazu, Religion und religiöse Symbole aus der Öffentlichkeit zu verbannen, auch nicht aus dem Raum der Schule. Schon das Gebot der Mäßigung muss eine Muslimin, die Staatsbeamtin werden will, davon abhalten, dass sie auf dem Tragen des Kopftuchs beharrt. Besteht sie aber darauf, ist sie nach meiner Überzeugung zur Staatsbeamtin und Lehrerin nicht geeignet. Die Frage des Kopftuchs kann in einer Weise gelöst werden, die beidem gerecht wird: der Gleichstellung von Mann und Frau ebenso wie der Freiheit des religiösen Bekenntnisses.

5.
Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Auf eine ganz besondere Weise öffnet uns der 3. Oktober dafür, dass Dankbarkeit mit der Fähigkeit zum Erinnern zu tun hat. Doch leichter als das Erinnern fällt uns das Vergessen. Vergesslichkeit ist die Lieblingsschwester des Verdrängens. Für unser Land ist es nicht gerade ein Ruhmesblatt, dass eine Initiative gegründet werden musste, die den Namen trägt: Wider das Vergessen. Erinnern ist niemals einfach bequem. Auch wer ein positives Gedächtnis sein eigen nennt, kann doch den unbequemen Seiten des Erinnerns nicht ausweichen. Es gibt keinen aufrichtigen Zugang zu den schönen Seiten der Vergangenheit unter Umgehung ihrer dunklen Züge. Und doch ist der Ton, der Akzent, das Schwergewicht eindeutig: Auch den Fragwürdigkeiten der eigenen wie der gemeinsamen Geschichte kann ich mich stellen, weil ich der Güte Gottes gewiss bin. Unaufdringliche Liebe und verlässliche Güte umgeben mich jeden Tag, von den frühen Stimmen der Vögel bis zu den letzten Sonnenstrahlen auf den roten Kiefernstämmen vor dem Fenster. Von dieser Liebe und Güte lassen wir etwas zurückströmen und segnen Gott, weil er uns so überströmend segnet. Amen.