Predigt im Fernsehgottesdienst zum Erntedankfest

05. Oktober, Groß Glienicke

Es gilt das gesprochene Wort.

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

1.
„Irrt euch nicht. Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten.“ Für das Erntedankfest sind das befremdliche Sätze. Wir sperren uns gegen sie – auch wenn sie vom Apostel Paulus stammen. Heitere Töne, unbefangene Fröhlichkeit sollen diesen Tag bestimmen.  Wir haben getan, was wir konnten. Jetzt wird weder gerechnet noch gerechtet.

Doch statt der entspannten Heiterkeit einer harmlosen Erntedankfreude nun dies: „Irrt euch nicht. Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten.“ Schneidend scharf wird uns vor Augen gestellt, welche Verantwortung wir tragen. Kein Zweifel soll aufkommen. Keiner kann sich wegschleichen.

Was wir ernten, ist die Frucht unserer Saat. Wenn Hühner oder Puten vor der Zeit sterben, weil sie Weizen gefressen haben, der von künstlichen Pestiziden voll war, brauchen wir uns nicht zu wundern. Wir ernten, was wir säen. In diesem Fall sind es die Tiere, die unter unserer Ernte zu leiden haben.

Wenn uns dieser Gottesdienst in Groß Glienicke zusammenführt, in einem Ort, durch den die Mauer, die Deutschland teilte, noch vor wenigen Jahren mitten hindurch ging, brauchen wir nicht erstaunt zu tun. Deutschlands Teilung war auch eine Folge der deutschen Geschichte. Sie fiel nicht vom Himmel. Wir ernten, was wir säen. Unser Volk war über Jahrzehnte geteilt.

Und wenn wir Erntedank feiern in einem Jahr, in dem alles auf dem Prüfstand steht, woran wir uns gewöhnt hatten, brauchen wir nicht erstaunt zu tun. Wir haben lange über unsere Verhältnisse gelebt. Jetzt wird uns die Rechnung vorgelegt. Was kostet unser Sozialsystem wirklich? Und wer soll es auf Dauer bezahlen? Wir machen Schulden bei unseren Kindern. Wenn sie die Schulden bezahlen müssen, werden wir nicht mehr leben. Was die einen säen, müssen die andern ernten, ob sie wollen oder nicht. Es sei denn, wir steuern um. Kann das gelingen? Darum geht der Streit in unserem Land. Ein notwendiger Streit.

2.
Aber damit ist nicht alles gesagt. Wir feiern Gottesdienst in einer großen Gemeinde. Wir freuen uns an den Erntegaben, die von den Kindern in dieses Gotteshaus gebracht wurden. Wenn wir diese Kinder sehen, vertrauen wir auf die Zukunft. Dass die Zukunft für unsere Kinder gelingt, hoffen wir mehr als alles andere, jedes Jahr von neuem.

Zugleich freuen wir uns an dem, was unsere Vorfahren uns hinterlassen haben. Wir staunen beispielsweise darüber, dass es Menschen gab, die auf eigene Kosten Kirchen errichten ließen. Hans Georg III. von Ribbeck war ein solcher Mensch. Vor dreihundert Jahren, im Herbst 1703, ist er gestorben. Über den Abstand von drei Jahrhunderten schenkt er uns durch sein großzügiges Wirken den Raum, in dem wir Gottesdienst feiern, Musik hören oder uns in die Stille des Gebets zurückziehen können. Wir ernten, was wir säen. Das ist nicht nur Fluch, es ist vor allem Segen.

Genauer muss ich freilich sagen: Wir ernten, was andere säten. Wir stehen auf den Schultern unserer Vorfahren. Werden künftige Generationen das auch von uns sagen können? Wo stiften wir etwas, was in die Zukunft hinein wirkt? Wo durchbrechen wir die Abfolge des Fluchs? Wo wirken wir im Segen?

Im kleinen Maßstab eifern auch heute manche Hans Georg von Ribbeck nach. Fördervereine setzen Kirchengebäude wieder in Stand. Stiftungen werden errichtet, um unser kulturelles Erbe zu retten. Neue Initiativen bilden sich, gerade im Osten Deutschlands. Was der Mensch sät, das wird er ernten. Das ist nicht nur ein Fluch, es ist ein Segen.

3.
Aber zur Überheblichkeit gibt es keinen Anlass. Kein Mensch hat die Ernte vollständig in der Hand. Mal ernten wir mehr, mal weniger als erwartet. Mal wird das Mühen belohnt, mal bleibt es ohne Echo. Erntedank zu feiern heißt auch in diesem Jahr: auf die Lage der Bäuerinnen und Bauern zu schauen und ihnen für das zu danken, was sie für unser tägliches Brot tun.

In diesem Jahr 2003 fällt jedoch für viele Landwirte das Erntedankfest kleinlaut aus. Das gilt ganz besonders für Brandenburg. Vor allem die Getreideernte ist mehr als mager. Das Korn ist klein geblieben in diesem viel zu trockenen Sommer. Bis auf sechzig Prozent werden die Ausfälle geschätzt, die Bauern in unserer Region zu beklagen haben. Staatliche Hilfe kann die Verluste nur sehr begrenzt ausgleichen, die für manche Betriebe eine Existenzkrise zur Folge haben.

In anderen Jahren wird es wieder anders sein. Da wird die Ernte vom Wetter begünstigt werden – was man in diesem Jahr am ehesten noch von der Weinernte sagen kann.

„Was der Mensch sät, das wird er ernten“. So ausschließlich kann das also nicht gemeint sein. Denn der Dichter Matthias Claudius hat recht: „Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land, doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand.“ Aber das entbindet uns nicht von der Verantwortung für das, was wir tun. Es gibt verantwortungsvoll und verantwortungslos geführte Landwirtschaftsbetriebe. Und es gibt verantwortungsvoll und verantwortungslos geführte Lebenswege. Auf diese einfache Wahrheit stößt uns das Erntedankfest 2003 – mit unbequemer Deutlichkeit. 

Aber die andere Wahrheit gehört dazu: Hoffnung prägt unser Leben. Uns trägt eine Hoffnung, die weiter reicht als wechselhafte Wirtschaftsdaten oder Börsenkurse. Es gibt eine Hoffnung, die nicht in unseren Leistungen begründet ist. In Gott hat sie ihren Grund.

4.
„Was der Mensch sät, das wird er ernten; Gott lässt sich nicht spotten.“ Aus der politischen Geschichte unseres Volkes ist uns das deutlich. Am Beispiel von Groß Glienicke tritt uns das in diesem Gottesdienst vor Augen. Es ist das Beispiel eines überschaubaren Ortes nahe von Berlin, an dem sich die Spuren der deutschen Geschichte wie in einem Brennspiegel zeigen. Auch wenn uns jetzt zwei Generationen vom Ende des Zweiten Weltkriegs trennen, spüren wir seine Auswirkungen bis zum heutigen Tag und wissen, dass wir uns von der Verantwortung für seine Folgen nicht dispensieren können. Auch wenn uns so kurz nach dem 3. Oktober vor Augen steht, dass der große Schritt zur deutschen Einheit nun volle dreizehn Jahre zurückliegt, spüren wir die unterschiedlichen Prägungen von Ost und West noch deutlich, auch hier in Groß Glienicke.

Freilich reden wir zu wenig darüber. Was an dieser Stelle versäumt wird, taucht umso unvermittelter in merkwürdigen Formen von Ostalgie wieder auf – bis dahin, dass heutzutage wieder FDJ-Hemden getragen oder wie Kultobjekte behandelt werden.

In Groß Glienicke, einem Ort mit wachsender Einwohnerschaft aus Ost und West, lässt sich exemplarisch sehen, was es bedeutet, dass zusammenwächst, was zusammengehört. Das ist kein Naturereignis, es will gestaltet sein, vor allem im Gespräch. Auch solchen Gesprächen ist verheißen, dass der Mensch ernten wird, was er sät. Wir brauchen das nicht als Drohung zu hören, es ist eine Verheißung. Wir säen auf Hoffnung hin. Das gilt auch für die Art, in der wir miteinander umgehen.

Gemeinsam stellen sich uns heute große Aufgaben. Im Blick auf diese Aufgaben werden andere ernten, was wir heute säen. Denn die Nachhaltigkeit menschlichen Handelns beruht auf einer Hoffnung, die über die Grenzen von Generationen hinausweist. Das weiß jeder Förster und jeder Landwirt. Nachhaltigkeit in Landwirtschaft und Forst rechnet nicht in Jahren, sondern in Generationen. Vergleichbares gilt aber auch für den Umgang mit unseren kulturellen Lebensbedingungen.

Gemeinsam ist uns ein kulturelles Erbe anvertraut. Kirchengebäude oder andere Bauwerke von geschichtlicher Bedeutung sind Beispiele dafür. Wenn wir sie liebevoll erhalten und wieder in Stand setzen, tun wir das zur eigenen Freude. Wir tun es aber auch um der kommenden Generationen willen. An uns richtet sich die Frage, welches kulturelle Erbe kommende Generationen vorfinden werden. Auch dafür, dass ihnen der Zugang zum Evangelium offen steht, tragen wir die Verantwortung.

Mit dem sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist es nicht anders. An unseren Entscheidungen hängt es, ob der Sozialstaat auch für eine nächste Generation noch funktionsfähig bleibt. Darum geht es in Wahrheit, wenn in diesen Tagen über Gesundheitsreform, Arbeitsverwaltung oder Rentenreform gestritten wird.

Wir müssen uns wieder deutlich machen: Was die eine Generation sät, wird die nächste Generation ernten. Das gilt im Bösen, wie wir an der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts gelernt haben. Warum soll es nicht auch im Guten gelten? Es liegt an uns. Gott lässt sich nicht spotten. Amen.