Predigt zum Kapitelstag

12. Oktober 2003, Dom zu Brandenburg

„Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ So ruft eine Frau in äußerster Not. Ihr Ruf ist an Jesus gerichtet. Aber er stellt sich taub. Da wendet sich eine Frau mit einem Hilferuf an Jesus. Aber er lässt sie abblitzen.

Unerwartet ist diese Härte. Befremdlich erscheint der Jesus dieser Geschichte. Nichts von der Barmherzigkeit, die wir sonst an ihm so lieben, nichts von der Güte, mit der er sich den Mühseligen und Beladenen zuwendet. „Christus ist nirgend so hart gemalet im ganzen Evangelium als hie!“ Von Martin Luther stammt der erstaunte Ausruf über diesen Jesus, der die Heidin mit den Hunden vergleicht und die Güte Gottes für die Glieder des Volkes Israel reserviert.

Aber der mustergültig gütige Heiland, den wir uns zurechtlegen, der vorbildlich vorurteilsfreie und nach allen Seiten hin tolerante Jesus ist vielleicht ja zu weich gezeichnet. Kennt er denn wirklich keine Grenzen? Oder weichen wir nur seinen Grenzziehungen aus? Er sei nicht gekommen, Frieden zu bringen, sagt er, sondern das Schwert. Solche Aussagen tilgen wir lieber aus seinem Bild. „Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich“: jede derartige Ausschließlichkeitsformel halten wir doch heute für unzeitgemäß.

Aber ist es wirklich so befremdlich, dass Jesus auch Grenzen kennt? Im Evangelium für den heutigen Sonntag geht es um die Grenze zwischen dem Volk Gottes und der Heidenwelt – genauer zwischen Kanaan und Israel. Um den Grundkonflikt geht es, der schon das ganze Alte Testament durchzieht. Gott oder Baal – darum geht es doch schon bei dem Gottesurteil auf dem Karmel. Gottesfurcht oder Götzendienst – darum geht es im Gegeneinander dieser beiden Völker. Kanaan steht für einen Götzendienst, der Fruchtbarkeitsgötter verehrt und vor heiligen Bäumen betet. Israel steht für das Volk, mit dem Gott einen ewigen Bund schließt, für das Volk, das sich zu ihm bekennt, dem Schöpfer des Himmels und der Erde.

Jesus schärft Gottes Bund mit seinem Volk ein – befremdlich ist das am ehesten deshalb, weil es so konsequent ist. Gottes Bund mit seinem Volk Israel ist nicht aufgekündigt. Deshalb ist auch Jesus zu diesem Volk gesandt. Unter den Evangelisten schärft keiner das so nachdrücklich ein wie Matthäus: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“. So hält Jesus der kanaanäischen Frau entgegen. Dem Haus Israel gilt Jesu Sendung; wieder und wieder weist das Matthäusevangelium darauf hin.

Gottesglaube oder Götzendienst – gibt es einen wichtigeren Unterschied? Mit dieser Art von Unterschieden kämpft doch in Wahrheit jede Zeit. Keine Forderung nach Toleranz kann sie verdunkeln. Verharmlosungen können sich rächen. In Deutschland ist in diesen Tagen das Kopftuch zum Symbol für solche Unterschiede geworden. Daran, dass muslimische Frauen es auf unseren Straßen tragen, haben wir uns gewöhnt. Wir Christen sehen uns in der Pflicht, für ein solches Zeichen einer fremden Kultur Verständnis zu haben und der fremden religiösen Überzeugung mit Toleranz zu begegnen. Wenn jedoch eine Frau mit Kopftuch unsere eigenen Kinder unterrichten soll, kommen uns Zweifel. Eine allgemeine Toleranzforderung, die solche Unterschiede einfach für gleichgültig erklärt, hilft offenbar nicht weiter. Vielmehr spüren wir: Eine allgemeine Gleichgültigkeit, in der alle Unterschiede verschwimmen, ist in Wahrheit gar keine Toleranz. Da ist es eine Hilfe, festzustellen: Auch Jesus hat solche Unterschiede nicht einfach für gleichgültig erklärt.

2.
Doch sogar der Evangelist Matthäus, der solche Unterschiede besonders wichtig nimmt, kennt Ausnahmen. Nicht nur der kanaanäischen Frau, sondern auch dem Hauptmann von Kapernaum, einem Heiden, hilft Jesus aus seiner Not und sagt erstaunt, einen Glauben wie bei ihm habe er bei niemandem in Israel gefunden. Und während er zu seinen Lebzeiten seine Jünger nur zu den verlorenen Schafen Israels sendet, revidiert der Auferstandene diese Aussage und sendet seine Jünger  zu allen Völkern. Die bleibende Erwählung Israels ist dadurch nicht aufgehoben, aber sie wird eingebettet in Gottes Zuwendung zu allen Menschen. Im Licht von Gottes Barmherzigkeit zählt der Glaube mehr als die Herkunft, die Güte Gottes mehr als die Abgrenzungen, die uns so wichtig sind.

Diese Güte Gottes begegnet uns im heutigen Evangelium im Spiegel einer wirklich erstaunlichen Frau. Keinen Namen hat sie, nichts wird von ihrer Familie erzählt. Sie heißt nicht die Frau des Sowieso oder die Tochter von Demunddem. Ob sie verheiratet oder alleinstehend ist, wissen wir nicht. In jedem Fall ist sie Mutter und verantwortlich für eine kranke Tochter.

In der Sorge für die Tochter tut sie alles. Das ist bewundernswert. Deshalb zieht es uns beim Hören dieser Geschichte unweigerlich auf ihre Seite. Sie ist ein Urbild der Mutterliebe. Um sich daran zu freuen, braucht man keinen Mythos von der immer liebenden Mutter aufzurichten. Es gibt auch Väter, die sich für ihre Kinder einsetzen. Und Frauen soll man ganz gewiss nicht nur über ihre Kinder definieren. Es gibt Frauen, die auf Kinder verzichten wollen oder verzichten müssen. Es gibt auch Mütter, die mit ihren Kindern nachlässig umgehen oder sie gar misshandeln. Und dennoch ist das Bild der Mutter, das uns hier begegnet, in uns allen tief verankert. Das Beispiel dieser Mutter rührt an etwas, das wir alle kennen: die vorbehaltlose Liebe von Müttern für ihre Kinder, auf die wir mit dankbarer Bewunderung reagieren. Ja es gibt sie, diese Liebe. Sie vertreibt die Kälte aus unserem Dasein. Durch sie fällt ein Glanz auf unsere Welt. Ganz unabhängig davon, woher sie stammt, gewinnt diese Frau unser Herz; denn sie zeigt, welche Kraft in der Liebe steckt. Wenn wir auf sie schauen und wenn wir in ihrem Bild die Mutterliebe erkennen, die uns allen vertraut ist, dann wagen wir es zu sagen: In der Mutterliebe spiegelt sich etwas von der Liebe Gottes. Deshalb beten wir zu Gott nicht nur als dem, der für uns sorgt wie ein Vater; wir beten zu Gott auch als dem, der uns liebt wie eine Mutter.

Diese Frau ist von der Liebe getrieben; darum schreit sie. Sie schreit ihren Glauben heraus. Sie schreit nach Gott. Sie wiederholt den Schrei, mit dem alles Leben beginnt. Denn mit dem ersten Schrei zeigt ein Kind, dass es atmet, dass es sich behaupten kann auf dieser Welt. Sie wiederholt den Schrei, mit dem das Volk Israel den Weg in die Freiheit beginnt. „und schrie zu dem Herrn, dem Gott unser Väter. Und der Herr hörte unser Schreien und sah unser Elend, unsere Angst und unsere Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm ...“ „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“: So singen wir noch heute mit der Sprache der Psalmen. Genau so schreit diese Frau: aus tiefer Not.

Sie hat von dem Lehrer aus Nazareth gehört, der jenseits der Grenze die Menschen bewegt. Und sie hat vertraut darauf, dass bei ihm Rettung und Heil zu finden sind. Auch als kanaanäische Frau kennt sie die Sprache der Psalmen. Sie nennt Jesus „Sohn Davids“; sie teilt die Hoffnung des jüdischen Volkes darauf, dass das Leben gelingt und heil wird.

Doch Schreien stört. Wer kennt das nicht? Das Kind, das im Gottesdienst auf sich aufmerksam macht, der Mann, der in der Öffentlichkeit herumschreit – für viele sprengen sie den Rahmen. Es ist verständlich, dass Jesu Jünger die Frau lästig finden. Jesus will sich in die Ruhe zurückziehen – und dann dies. Er will mit dem Geschrei nichts zu tun haben. Doch seine Jünger zwingen ihn zu einem Machtwort. „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“. So entfährt es ihm schließlich. Ein richtiger Satz. Doch die Frau gibt sich nicht zufrieden. Da steigert er sich noch. Das Brot des Lebens soll doch nicht vor die Hunde geworfen werden.

Das klingt verletzend und hart. Die meisten hätten auf eine solche Abfuhr hin aufgegeben. Doch diese Frau lässt sich nicht abweisen. Sie gibt nicht nach: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“

3.
Ja, es gibt nur eine biblische Szene, die sich der Hartnäckigkeit dieser Frau wirklich vergleichen lässt. Es ist die Begegnung Jakobs mit Gott am Jabbok. In der Dunkelheit der Nacht ringen sie miteinander. So stark hält Jakob an Gott fest, dass dieser ihn nicht überwältigen kann. Auf die Hüfte schlägt ihn Gott, so dass er sich hinkend immer an diesen Kampf erinnern wird. In der Morgenröte fordert Gott ihn dazu auf, von ihm zu lassen. Doch Jakob antwortet: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“

Der Glaubensmut Jakobs begegnet uns wieder in dieser namenlosen Frau. Sie löst in Jesus eine Wandlung aus. Er, der Sohn Gottes, wird von dieser Frau bekehrt. Er bleibt nicht bei seiner klaren, wohl begründeten Position. Er lässt sich erweichen. Ihre feste Überzeugung, dass Gottes Heil auch ihr zugesprochen ist, über alle Grenzen hinweg, erweicht ihn: „Frau, dein Glaube ist groß, dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.“

Das Wunder liegt in dem Glauben dieser Frau. Sie beruft sich auf das Heil Gottes, das auch ihr gilt. Davon lässt Jesus sich bewegen. Das ist die Sensation. Nicht Jesus bekehrt eine Frau, sondern eine Frau bekehrt Jesus. Und er lässt sich bekehren. Er setzt ein Zeichen für die Wandlungsfähigkeit Gottes. Seine Güte macht an keiner Grenze Halt, nicht einmal an der Grenze zwischen Gottesfurcht und Götzendienst, zwischen Glaube und Unglaube. Denn Gott kann auch dort Glauben wecken, wo niemand ihn erwartet hätte.

Und dieser Glaube kann Kranke heilen und Tote zum Leben erwecken. Die Tochter wird gesund. Auch für die Mutter beginnt dadurch ein neues Leben. Denn für die Tochter hatte sie alles in die Wagschale geworfen, ihre ganze Liebe. Diese Liebe erfährt ein Echo.

Unser Glaube erfährt ein Echo. Unser Warten auf Gottes Antwort ist nicht umsonst. Auch wenn unser Schreien nicht so laut und unser Vertrauen nicht so gewaltig ist, wie wir es an dieser Frau sehen: Gott lässt sich erweichen. Unser Leben ist in ihm geborgen. Die Sorge für unsere Liebsten ist bei ihm gut aufgehoben.

Das gibt auch all dem einen guten Sinn, was wir anpacken und worum wir uns bemühen. Auch das, was wir hier am Dom zu Brandenburg tun und heute wie jedes Jahr am Kapitelstag bedenken, ist bei Gott geborgen. Auch die Sorge für unsere Lieblingsvorhaben ist bei ihm gut aufgehoben.

Einmal im Jahr ist Kapitelstag. Einmal im Jahr zieht das Domstift Brandenburg Bilanz. Das Domkapitel nimmt wahr, was sich verändert und entwickelt hat. Sorgen werden ausgetauscht; Dankbarkeit kommt zum Ausdruck. Doch dieser Tag mündet in einen Gottesdienst. Die Bilanz dessen, was wir selber zu Wege gebracht haben, zählt nicht allein. Und die Sorge über die Fragen, die offen bleiben, kann nicht das letzte Wort behalten. Das eine wie das andere bringen wir vor Gott. Dank und Sorge bleiben bei ihm. Denn wir wissen: Unser Leben ist in ihm geborgen. Unsere offenen Fragen sind bei ihm gut aufgehoben. Unser Vertrauen findet bei ihm ein Echo. Unser schwacher Glaube stößt bei ihm auf eine starke Antwort: „Dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst.“ Amen.