Predigt im Gottesdienst zum Reformationstag (1. Korintherbrief, 13. Kap.)

31. Oktober 2003, St. Matthäus zu Berlin

Das Hohelied der Liebe, vom Apostel Paulus im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefs aufgezeichnet, heißt in Martin Luthers Übersetzung folgendermaßen:

WEnn ich mit Menschen und mit Engel zungen redet / und hette der Liebe nicht / So were ich ein donend Ertz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen kündte / vnd wüste alle Geheimnis / vnd alle Erkenntnis / vnd hette allen Glauben / also / das ich Berge versetzte / und hette der Liebe nicht / So were ich nichts. Vnd wenn ich alle meine Habe den Armen gebe / vnd liesse meinen Leib brennen / vnd hette der Liebe nicht / So were mirs nichts nütze.

DJe Liebe ist langmütig und freundlich / die Liebe eiuert nicht / die Liebe treibt nicht mutwillen / sie blehet sich nicht / sie stellet nicht vngeberdig / sie süchet nicht das jre / sie lesset sich nicht erbittern / sie tracht nicht nach schaden / sie frewet sich nicht der vngerechtigkeit / sie frewet sich aber der warheit / Sie vertreget alles / sie gleubet alles / sie hoffet alles / sie duldet alles. Die Liebe wird nicht müde / Es müssen auffhören die Weissagungen / vnd auffhören die Sprachen / vnd die Erkenntnis wird auch auffhören.

DEnn vnser wissen ist stückwerck / vnd vnser Weissagen ist stückwerck. Wenn abr komen wird das volkomen / so wird das stückwerck auffhören. Da ich ein Kind war / da redet ich wie ein kind / vnd war klug wie ein kind / vnd hatte kindische anschlege. Da ich aber ein Man ward / that ich abe was kindisch war. Wir sehen jtzt durch einen Spiegel in einem tunckeln wort / Denn aber von angesicht zu angesichte. Jtzt erkenne ichs stücksweise / Denn aber werde ich erkennen gleich wie ich erkennet bin. Nu aber bleibt Glaube / Hoffnung / Liebe / diese drey / Aber die Liebe ist die grössest unter ihnen.

I.

In Martin Luthers Bibelübersetzung bildet das Hohe Lied der Liebe ein herausragendes Beispiel für die sprachschöpferische Kraft, die diese Wiedergabe der Heiligen Schrift prägt. Ich habe den Text mit Absicht in Luthers ursprünglicher Fassung gelesen, ohne alle Revisionen, die sich im Lauf der Jahrhunderte über sie gelegt haben. Auch ohne jede Veränderung erreicht uns die eindringliche Wucht dieser Übersetzung.

Wenn man an diesem wie an vielen anderen Beispielen die herausragende, Jahrhunderte überdauernde Bedeutung von Luthers Bibelübersetzung erahnt, mag man es schier für einen Segen halten, dass der verfemte und geächtete Reformator genötigt war, nach dem Wormser Reichstag von 1521 als „Junker Jörg“ sich in der Einsamkeit der Wartburg dem theologischen Nachdenken und am Ende auch dieser Übersetzungsaufgabe zuzuwenden. In Eric Tills neuem Lutherfilm, der gestern in die Kinos kam, gehört dies vielleicht zu den eindrucksvollsten Szenen: die leidenschaftliche Konzentration, in der Luther sich dieser Aufgabe hingibt. Mich jedenfalls überzeugt der Blick in die Klause auf der Wartburg mehr als das gewaltige Gemetzel, das in dem Film inszeniert wird, indem die Auseinandersetzung mit dem radikalen, bilderstürmerischen Flügel der Reformation in Wittenberg während des Jahres 1522 mit dem Bauernkrieg des Jahres 1525 ineinandergeschoben wird. Solchen gewalttätigen Bildern ziehe ich die Schilderung des Bibelübersetzers vor. Welch gewaltige Arbeit: in zweieinhalb Monaten das ganze Neue Testament zu verdeutschen – und das in einer solchen Sprache! Zu verdanken ist das der erzwungenen Einsamkeit des Reformators auf der Wartburg. Man möchte schier die biblische Josephsgeschichte zitieren, an deren Ende Joseph seinen Brüdern gegenüber die Summe seines Lebens zieht und sagt: Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.

In jedem Jahr ist deshalb der 31. Oktober dem Dank dafür gewidmet, dass Gott gedachte es gut zu machen. Es gehört zu den großen und bewegenden Veränderungen unserer Zeit, dass die Bedeutung der Reformation heute auch ökumenisch gewürdigt wird. Inzwischen hat man auch im ökumenischen Gespräch Sinn für die Erklärung, die Peter Ustinov, am neuen Lutherfilm in der Rolle des sächsischen Kurfürsten Friedrichs des Weisen beteiligt, für die Reformation gegeben hat. Das Interessante an Luther, so sagt der Skeptiker Ustinov, ist, dass er die ganze Reformation angefangen hat, weil er dachte, dass die Leute in Rom nicht katholisch genug waren. Ich danke allen Gästen, die heute abend den ökumenischen Charakter des Reformationstags durch ihre Anwesenheit unterstreichen.

II.

Der 31. Oktober ist Reformationstag. Eine gewisse Halloween-Hysterie, die in den letzten Jahren auch nach Deutschland übergeschwappt ist, soll uns darin nicht irre machen. Es wird schon so sein, dass das Wort Halloween ursprünglich Allhallows Eve heißt und in Irland damit den Vorabend des Allerheiligenfestes bezeichnet. Und der Brauch, in ausgehöhlte Kürbisse Kerzen zu stellen und die dunkle Jahreszeit mit solchen Lichtern zu beginnen, ist nicht anstößig. Aber auch wer an Kostümfesten Freude hat, wird die Einladung zu Parties, zu denen man entweder mit Kostüm kommen oder sich vor Ort zur Leiche schminken lassen kann, eher abgeschmackt finden. Eine Zeit, die auf der einen Seite die Hexenverfolgungen früherer Zeiten zu Recht brandmarkt, auf der anderen Seite aber den Hexenstrip an Halloween für das Nonplusultra hält, muss sich schon auf die Stimmigkeit ihrer Maßstäbe befragen lassen. Die Erklärung, Kostümhersteller bräuchten neben Karneval ein zweites Fest, um das Jahr über ausgelastet zu sein, trifft die Wahrheit; aber wer sich zum Instrument eines solchen Interesses macht, stellt sich selbst ein fragwürdiges Zeugnis aus. Und wenn Halloween heute zum Feiertag von Esoterikern, Neuheiden und Satanisten wird, dann sind dem Mitfeiern klare Grenzen gesetzt.

Kurzum: Gerade heute sind wir gut beraten, den 31. Oktober als einen Tag wahrzunehmen, der die Bedeutung der Reformation für den persönlichen Glauben wie für unsere Kultur im Bewusstsein hält. Und unsere Bildungseinrichtungen,  von Kindergärten und Schulen angefangen, sollten an diesen Sinn des 31. Oktober erinnern, statt sich von der Halloweenwoge allzu weit mitreißen zu lassen.

Faszinierend bleibt der Aufbruch der Reformation, auch über die Jahrhunderte hinweg. Verdienen wir uns die Anerkennung als Person durch unsere Leistungen oder empfangen wir sie als unverdientes Geschenk? Kompensieren wir unsere Mängel durch Ablasszahlungen, welcher Art auch immer, oder verankern wir unsere Würde in Gottes Gnade? Das bleibt auch am Beginn des 21. Jahrhundert eine Grundfrage der Humanität. Ob Freiheit als Fundament unseres Lebens eine selbsterworbene und selbsterfundene Leistung oder eine uns anvertraute Gabe ist, bestimmt auch den Umgang mit ihr. Ob diese Freiheit bloß ein Instrument der Selbstverwirklichung oder eine Grundlage wahrgenommener Verantwortung ist, ist für die Zukunft unserer Gesellschaft von herausragender Bedeutung. Die Wiederentdeckung der Freiheit eines Christenmenschen – das ist Luthers entscheidender Schritt. Gerade heute ist dies in die Debatte um die Gestalt einer freien Gesellschaft einzubringen. Dass die Würde dem Menschen zugesprochen und deshalb nicht an eine bestimmte Stufe in der Entwicklung menschlichen Lebens zu binden ist, bewegt immer wieder die Gemüter. Im Umgang mit Kranken und Sterbenden gewinnt dies genauso praktische Bedeutung wie im Umgang mit dem ungeborenen Leben. Es hat auch einen ganz praktischen Sinn, wenn wir am Reformationstag die Kulturbedeutung der Reformation würdigen.

III.

In einer Übersetzung zeigt sich Luthers herausragende Bedeutung auf besonders eindrucksvolle Weise, ausgerechnet in einer Übersetzung. Nicht seine eigenen Einfälle und Einsichten wollte er vermitteln, sondern das biblische Wort zu Gehör bringen. Dass er ein Doktor der Heiligen Schrift sei, war seine liebste Berufsbezeichnung. Sein Wirken als theologischer Lehrer äußerte sich vor allem anderen in der Auslegung biblischer Texte – vom Römerbrief bis zu den Psalmen. Er hat auf seine Weise dazu beigetragen, dass die biblische Botschaft im Bewusstsein lebendig blieb und immer wieder neu lebendig wird. Die biblische Botschaft als Weltkulturerbe – auch so lässt sich Luthers Beitrag beschreiben. Worin dieses Weltkulturerbe besteht, bringt das 13. Kapitel des 1. Korintherbriefs auf eine denkbar kurze Formel: Nu aber bleibt Glaube / Hoffnung / Liebe / diese drey / Aber die Liebe ist die grössest vnter jnen.

Glaube, Hoffnung, Liebe als Weltkulturerbe? Als Weltkulturerbe ebenso wie die Pyramiden von Gizeh oder der Grand Canyon, der Mont Saint-Michel oder der Tadsch Mahal? Die UNESCO, die Kulturorganisation der Vereinten Nationen, definiert Weltkulturerbe so: Es sind Zeugnisse vergangener Kulturen und einzigartige Naturlandschaften, deren Untergang ein unersetzlicher Verlust für die gesamte Menschheit wäre. Sie zu schützen liegt deshalb nicht allein in der Verantwortung eines einzelnen Staates, sondern ist Aufgabe der Völkergemeinschaft. Ganz offenkundig geht es beim Umgang mit dem Weltkulturerbe nicht nur um konservierendes Bewahren; es geht vielmehr darum, Überliefertes für Gegenwart und Zukunft fruchtbar zu machen. Weltkulturerbe in diesem Sinn ist vielleicht mit den anvertrauten Talenten zu vergleichen, die richtig gebraucht werden, wenn man mit ihnen wuchert, die aber missbraucht werden, wenn man sie vergräbt.

In diesem Sinn kann man auch Glaube, Hoffnung, Liebe als ein Stück Weltkulturerbe betrachten: als eine Überlieferung, die wir weder vergessen noch lediglich konservieren sollen. Dass Glaube, Hoffnung, Liebe bleiben, darauf kommt es schon Paulus an; und dafür hat Luther sich eingesetzt. Dass sie erneuert werden, ist aber die einzige Form, in der sie bleiben können. Denn der Glaube bleibt nur als eine Macht, die unser gegenwärtiges Leben prägt und unsere Zukunft bestimmt – sogar über den Tod hinaus. Solcher Glaube ist ja in erster Linie nicht ein Fürwahrhalten von Lehrsätzen oder eine Kenntnisnahme von Sachverhalten. Er ist unsere Antwort auf das schöpferische Ja Gottes, das jedem einzelnen Leben wie unserer Welt im Ganzen gilt. Er ist der Dank für Gottes Selbsthingabe, wie sie im Geschick des Jesus von Nazareth uns allen vor Augen tritt. Er begründet eine Hoffnung, in der unsere Sehnsucht nach Heil und gelingendem Leben nicht mehr davon abhängt, dass wir diese Sehnsucht selber stillen können. Denn diese Hoffnung beruft sich auf den Gott, der die Toten lebendig macht und ruft das, was nicht ist, dass es sei. Ein angstfreies Verhältnis zur Zukunft wird uns eröffnet, das an der Endlichkeit unseres eigenen Lebens und an der Zerbrechlichkeit unserer eigenen Lebensverhältnisse nicht zerschellen muss. Und dieser Glaube ermutigt zu einer Liebe, in der wir uns auf unsere Mitmenschen einlassen, weil wir es in ihnen mit Gott selbst zu tun bekommen. Denn Gott selbst ist Liebe; wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Trotzdem behält diese Liebe ein menschliches und menschenmögliches Maß; sie schließt die Liebe zu sich selbst mit der Liebe zum Nächsten zusammen. Gerade so wird sie zu einer Kraft, die sich dem Kältestrom in unserer Gesellschaft entgegenstellt.

So betrachtet ist die Reformation nicht ein Ereignis der Vergangenheit. Sie lädt dazu ein, dieses Weltkulturerbe zu unserer eigenen Sache zu machen. Nu aber bleibt Glaube / Hoffnung / Liebe / diese drey / Aber die Liebe ist die grössest vnter jnen. Amen.