Predigt in St. Marien zu Berlin (Lukas 17, 20-24)

09. November 2003

„Als Jesus von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes Kommt nicht so, dass man’s beobachten kann; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! Oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch. Er sprach aber zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen. Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da! Oder: Siehe hier! Geht nicht hin und lauft ihnen nicht nach! Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein.“

Lukas 17, 20-24

1.
Zum ersten Mal stehe ich auf dieser Kanzel, nachdem ich zum Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland gewählt worden bin. Diese Wahl hat mich überrascht, überrascht vor allem auch in der unausweichlichen Eindeutigkeit, in der die Synode der EKD mir diese Aufgabe übertragen hat. Mir tut es gut, so kurz nach den Ereignissen von Trier wieder in St. Marien Gottesdienst zu feiern, in dem Gotteshaus, das meine ständige Predigtstätte als berlin-brandenburgischer Bischof ist. Denn hier, in der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg bleibt meine Heimat und, so hoffe ich, meine Hauptaufgabe. Ich weiß freilich auch, dass meine Wahl zum Ratsvorsitzenden auch mit Belastungen für unsere Kirche verbunden ist. Deshalb war es sehr wichtig für mich, dass die Vertreterinnen und Vertreter unserer Kirche in Synode und Kirchenkonferenz der EKD mich in meinem Ja zu der Wahlentscheidung der Synode bestärkt haben. So ermutigt komme ich wieder zurück; ich bin froh, wieder hier zu sein und mit Ihnen, liebe Schwestern und Brüder, Gottesdienst zu feiern; mit Ihnen verbunden zu sein am Tisch des Herrn. Und es bewegt mich, diesen Gottesdienst gemeinsam mit Geschwistern aus Israel-Palästina zu feiern. Am 9. November, dem Tag der Reichspogromnacht vor 65 Jahren, vergegenwärtigen wir uns unsere Verantwortung für die gleiche Würde und das gleiche Recht jedes Menschen. Wir machen uns deutlich, dass wir schon angesichts unserer Geschichte neuen Formen antisemitischen oder rassistischen Denkens von Anbeginn an entgegentreten müssen. Am 9. November, dem Tag der Maueröffnung vor vierzehn Jahren, vergegenwärtigen wir uns unsere Verantwortung für den Frieden im größer gewordenen Europa, aber auch im Nahen Osten, wo der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern noch immer die Menschen quält. Wir bitten Gott, dass solche Qual überwunden wird und dass die Freude an einem Leben in Freiheit und Frieden dort Einzug halten kann, wo die Botschaft zuerst laut wurde: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.“

2.
In den letzten Tagen bin ich oft nach der Zukunft gefragt worden. Diese Fragen richteten sich natürlich besonders auf die Zukunft der Kirche. Aber auch nach der Zukunft unserer Gesellschaft wurde wieder und wieder gestellt. Was müssen wir tun, um zukunftsfähig zu werden? Wie machen wir unser Sozialsystem – von der Gesundheit bis zur Rente – zukunftsfest?

Aber was ist überhaupt zukunftsfest? Und woran erkennt man, was zukunftsfähig ist? In denkbar umfassender Form bildet diese Frage das Thema eines knappen Dialogs, in den Jesus von einer Gruppe seiner Gegner verwickelt wurde. Ihm musste eine solche Frage gestellt werden; denn von der entscheidenden Zukunft, von der, auf die alles ankommt, behauptete er, sie sei ganz nahe herbeigekommen. „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium.“ So hieß ja die Quintessenz seiner Predigt. Darauf bezieht sich dieser kurze Dialog. Deshalb wird er gefragt, wann das Reich Gottes denn nun wirklich kommt.

Jesu Antwort auf diese heißt so: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten – also an äußeren Zeichen erkennen – könnte. Man kann auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! oder: Da  ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist (schon) mitten unter euch.”
            
Diese Antwort klingt uns zunächst fremd in den Ohren. Aber der Streit, der mit ihr geschlichtet werden soll, ist uns nicht unverständlich. Die einen sagen, die entscheidende Weichenstellung für die Zukunft sei an bestimmten Zeichen zu erkennen, sie werde von einem bestimmten Programm erfasst, mit einer bestimmten politischen Maßnahme sei die Zukunft gewonnen. Doch in der Regel handelt es sich eher um Maßnahmen, die nur begrenzte Zeit halten, auch um Maßnahmen vielleicht, von denen sich der eine oder der andere einen Vorteil erhoffen kann. Selbst wenn etwas erreicht, eine Reform verwirklicht, ein Konflikt gelöst ist, wartet das nächste Problem schon um die Ecke. Dass mit den Zeichen, die wir Menschen setzen können, wirklich die Zukunft zu gewinnen ist, wird uns darüber immer zweifelhafter.

Die letztgültige Zukunft ist also mit derartigen „Zeichen“ nicht zu erlangen. Auch wenn uns noch so sehr um verantwortliches Handeln bemühen, bewegen sich alle derartigen Bemühungen nicht im Bereich des Letzten, sondern des Vorletzten. Für unmittelbare Heilserwartungen taugen die Zeichen, die durch menschliches Handeln gesetzt werden können, nicht. Denn das Reich Gottes, die endgültige Zukunft, die Zukunft, die letztlich zählt, kommt so nicht.

3.
Wie aber dann? So, dass sie beginnt, bevor man es merkt. “Das Reich Gottes ist schon mitten unter euch.”

Manche unter Ihnen mögen noch Martin Luthers ursprüngliche Übersetzung dieser berühmten Stelle im Ohr haben: „Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden! ... Sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch“ Frühere Generationen haben das so gedeutet, als sei mit dem „inwendig in euch“ die bloße Gesinnung gemeint. Sie verlagerten das Reich Gottes, das schon begonnen hat, in die Innerlichkeit, in die Gesinnung der Einzelperson. Man kann diese Auffassung als ein „individualistisches“ Missverständnis Jesu bezeichnen.

Dagegen erhob sich ein Widerspruch, in dem der religiöse Impuls weltliche Gestalt annahm. Die Verhältnisse müssten verändert werden, nicht nur die Gesinnung der Menschen. Das Sein bestimmt das Bewusstein, nicht umgekehrt. Diese These kann man als ein „revolutionäres“ Missverständnis der Predigt Jesu vom Reich Gottes bezeichnen.

Gegen das „individualistische“ Missverständnis gilt, dass Jesus sich niemals nur auf die Gesinnung der Einzelperson bezieht. Er sieht vielmehr den Menschen immer in Beziehung. „Mitten unter euch“ meint eben nicht nur: in euren Gemütern, sondern: in euren Beziehungen. Da entscheidet sich, ob Leben gelingt – heute ebenso wie zu Jesu Zeiten.

Gegen das „revolutionäre“ Missverständnis aber lässt sich sagen: Das Bewusstsein ist mehr als die Spiegelung der ökonomischen Verhältnisse. Denn es prägt sie ebenso, wie es von ihnen geprägt wird Ohne kulturelle Kräfte entsteht kein Wandel. Und wo sie fehlen, lässt sich der Wandel, der sich vollzieht, weder verarbeiten noch verkraften. Für jede Gesellschaft, die wirklich auf die Zukunft ausgerichtet war, erweist sich das Gleichgewicht zwischen Sein und Bewusstsein, zwischen wirtschaftlich-technischer Entwicklung und kultureller Orientierung als ausschlaggebend.

4.
Heute meinen manche, auf einen wichtigen Teil kultureller Orientierung leichthin verzichten zu können. Sie erklären dann die Religion zur bloßen Privatsache und schlagen vor, sie aus dem öffentlichen Raum herauszuhalten. In den letzten Wochen wurde der Streit um das Kopftuch muslimischer Lehrerinnen in öffentlichen Schulen in diesem Sinn benutzt. Lasst uns doch gleich alle religiösen Symbole aus den Schulen und anderen öffentlichen Orten verbannen, das kleine Kreuz an der Jacke – zum Beispiel des Bischofs – eingeschlossen. So wurde gesagt. Ich halte das für kurzsichtig. Weiter blickt, wer für sich selbst wie für die Gesellschaft im Ganzen den Zugang zu solchen Quellen persönlicher wie gesellschaftlicher Orientierung offen hält. Nicht als religiöses Symbol ist das Kopftuch problematisch. Problematisch ist es, sofern es auf eine Vorstellung vom Verhältnis zwischen Mann und Frau hindeutet, die mit der bei uns Gott sei Dank – denn schwer genug war es – gewachsenen Überzeugung von der Gleichberechtigung der Geschlechter unvereinbar ist. Nicht darum geht es, die Religionsfreiheit der Muslimin zu beeinträchtigen. Sondern es geht darum, dass eine Lehrerin für die Grundregeln unserer Verfassung eintreten muss – auch dann, wenn sie Muslimin ist.

Die offene und freimütige Debatte über solche Fragen ist notwendig. Es geht darum, eine Integration unter den Regeln unserer Verfassung möglich zu machen. Und es geht zugleich darum, die Quellen zugänglich zu halten, aus denen Menschen eine Beheimatung im Glauben und klare Grundlagen für die Gestaltung ihres Lebens gewinnen können.

5.
„Das Reich Gottes ist schon mitten unter euch.“ Das ist die Gewissheit, mit der wir unsere tägliche Arbeit tun können. Dass Gott am Ende der Zeiten „abwischen wird alle Tränen und Tod, Leid, Geschrei oder Schmerz nicht mehr sein werden“, wie es in der Offenbarung des Johannes ganz am Ende der Bibel heißt, das begegnet schon jetzt. Dass die ganze Schöpfung „frei werden wird von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“, wie der Apostel Paulus sagt, das drückt sich schon jetzt in einem neuen Verhältnis der Menschen zu ihrer natürlichen Mitwelt aus.

Aber warum lassen wir uns jetzt schon auf diese Nähe Gottes ein? Dass Gott Mensch wurde, ist dafür der entscheidende Grund. Ernst Lange, ein prophetischer und reformfreudiger Pfarrer aus und in Berlin, der zu den wichtigen Lehrern unserer Kirche gehört, hat diesen entscheidenden Grund für christliche Zuversicht vor bald vierzig Jahren so ausgedrückt: „Gott hat seinen Sohn ausgesandt, geboren aus einer Frau, dem Gesetz untergeben! Das heißt, man kann und braucht ... Gott und die Verhältnisse nicht mehr gegeneinander auszuspielen. Das ist völlig unnötig. Wir brauchen uns für das, was wir tun, weder vor uns selbst noch vor anderen Menschen noch vor Christus und Gott zu entschuldigen, indem wir etwas verlegen auf die Verhältnisse hinweisen. Gott kennt nämlich diese Verhältnisse. Und er kennt sie eben grade nicht aus der Vogelschau, sondern von unten herauf.“ Dass Gott Mensch wird, heißt für uns, „dass Gott sich eingelassen hat mit Haut und Haar auf unsere Verhältnisse, auf unsere Realität, mit Haut und Haar und unwiderruflich. ... Gott kennt sich aus.”

Dass Gott sich in unseren Verhältnissen auskennt, bedeutet ja nicht, dass an ihnen nichts zu ändern wäre. Im Gegenteil. Aber wir brauchen uns nicht erst von der Wirklichkeit zu verabschieden, um dann zu erklären, was an ihr geändert werden soll. Wir können an unserem Ort, unter unseren Verhältnissen tun, was den Menschen zugute kommt, und ändern, was sie an einem Leben in Freiheit und Frieden hindert.

“Das Reich Gottes ist schon mitten unter euch.” Der christliche Glaube meint nicht die Flucht in eine jenseitige Zukunft, sondern die Zuwendung zu den Aufgaben der Gegenwart. Aus der Zukunft weht der Wind, der zur Veränderung die Kraft gibt. Christen bestimmt nicht nur ein Mut zur Zukunft, sondern auch ein Mut aus der Zukunft. Denn das Reich Gottes ist schon mitten unter uns. Amen.