Predigt zum Buß- und Bettag in der Christuskirche zu Mannheim

Wolfgang Huber

1.

„Ach Herr, mich armen Sünder, straf nicht in deinem Zorn, dein’ ernsten Grimm doch linder, sonst ist’s mit mir verlorn.“ Das sind die Eingangsworte der Kantate, deren erste Hälfte wir gerade gehört haben. Sie bringen die Angst des Menschen zum Ausdruck, ob er mit seinem Leben vor Gott bestehen kann. Die Seele hat keinen Frieden. Das Herz ist in Unruhe. „Ich bin von Seufzen müde“ – so heißt es im Fortgang der Kantate –, „mein Geist hat weder Kraft noch Macht, weil ich die ganze Nacht oft ohne Seelenruh und Friede in großem Schweiß und Tränen liege. Ich gräme mich fast tot und bin vor Trauern alt, denn meine Angst ist mannigfalt.“ Der Mensch, der hier spricht, vergeht fast vor Angst. Alles kommt ins Wanken. In dieser Not sucht er Trost – und das ist ja dasselbe Wort wie das englische trust, also das, worauf ich vertrauen und worauf ich mich verlassen kann; diesen Trost sucht er bei Jesus: „Tröste mir, Jesu, mein Gemüte, sonst versink ich in den Tod.“ Und in der zweiten Hälfte der Kantate werden wir hören, wie es einem Menschen zumute ist, der sich nicht nur nach Trost ausstreckt, sondern der getröstet und von Jesus gehalten ist, weil er in ihm und mit ihm wieder Boden unter seine Füße bekommt: „Weicht, all Ihr Übeltäter, mein Jesus tröstet mich! Er lässt nach Tränen und nach Weinen die Freudensonne wieder scheinen; das Trübsalswetter ändert sich“.

So geht es zu im Leben zu, manchmal bewusst, oft unbewusst: Unser Leben ist ausgespannt zwischen Trübsal und Freude, zwischen Angst und Trost, zwischen Selbstanklage und der guten Botschaft des Evangeliums. Der Luther-Film, der seit drei Wochen in Deutschland die Kinosäle füllt, lässt uns in dramatischer Weise miterleben, wie diese Spannung in der Reformation Geschichte gemacht hat. Und sage keiner, das sei ein Thema der Vergangenheit. Die Stimmung in den Kinosälen ist dafür aufschlussreich. Wieder und wieder wird das berichtet: Die Zuschauerinnen und Zuschauer dieses Films über Martin Luther schalten nicht ab, wenn in ihm sehr existentiell über das menschliche Leben und seine theologische Deutung gesprochen wird. Man hat eher das Gefühl: Sie sehnen sich nach dem Glaubenswissen, das in solchen Passagen zum Ausdruck kommt. Denn auch wir Heutigen wissen, was es bedeutet, ob ein Leben in Angst vergeht oder vom Trost aufgefangen wird.

Jesus ist nicht die Antwort auf alle Fragen. Aber sein Name steht für die Barmherzigkeit Gottes, auf die wir uns im Leben und im Sterben verlassen können.

2.

Das ist der Hintergrund, von dem aus wir in diesem Gottesdienst auf das Evangelium des Buß- und Bettags hören:

Jesus sagte denen, die ihm zuhörten, dieses Gleichnis: Es hatte einer einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Weinberg, und er kam und suchte Frucht darauf und fand keine. Da sprach er zu dem Weingärtner: Siehe, ich bin nun drei Jahre lang gekommen und habe Frucht gesucht an diesem Feigenbaum, und finde keine. So hau ihn ab! Was nimmt er dem Boden die Kraft? Er aber antwortete und sprach zu ihm: Herr, lass ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn grabe und ihn dünge; vielleicht bringt er doch noch Frucht; wenn aber nicht, so hau ihn ab. (Lukas 13,6-9)

Eines der bekanntesten Gleichnisse Jesu ist es, dieses Gleichnis vom Feigenbaum. In wenigen Sekunden ist es erzählt; in wenigen Worten stellt Jesus uns dieses Bild vor Augen. Auf eine Deutung verzichtet er ganz; der Ausgang ist offen. Dieses Bildwort als ein Gleichnis für Gottes Barmherzigkeit zu hören, fällt schwer. Eher empfinden wir es als bedrohlich. Der Feigenbaum, von dem Besitzer eines Weinbergs zwischen seine Reben gestellt, soll Frucht bringen. Dafür ist er da. Andernfalls nimmt er nur Platz weg, saugt den guten Boden aus, ohne dass er zu etwas nütze ist. Die Erwartung mag hart sein, aber sie berechtigt. Der Eigentümer fragt nach dem Ertrag, den sein Weinberg bringt; er kann und will die Natur nicht einfach sich selbst überlassen. Ein unfruchtbarer Baum gehört nicht in ein landwirtschaftlich genutztes Gebiet; auf einem Weinberg ist er fehl am Platz.

Von einem Baum ist die Rede, nicht von einem Menschen. Und doch geht es bei Menschen nicht so ganz anders zu. Nicht nur andere fragen danach, was wir erbringen, welchen Ertrag unser Leben hat, ob wir den Raum nutzen, der uns zur Verfügung steht. Versagensängste kennen wir alle; die brauchen uns gar nicht von anderen eingeredet zu werden. Heute werden solche Ängste  durch die äußeren Umstände kräftig geschürt. Junge Leute finden keinen Ausbildungsplatz und fragen sich, wozu sie denn dann nütze sind. Und umgekehrt fangen sie an, den Nutzen einer Gesellschaft  zu bezweifeln, die mit ihnen nichts anfangen kann oder will. Ältere Arbeitnehmer verlieren durch Rationalisierungsmaßnahmen oder durch die schlechte Konjunktur ihren Arbeitsplatz; das weckt in ihnen das Gefühl, dass ihre ganze Lebenserfahrung und ihre persönliche Lebensleistung entwertet werden. Vor der Zeit zum alten Eisen zu zählen, ist bitter. Zuzuschauen, wie immer mehr Betriebe keinen einzigen Menschen mehr beschäftigen, der älter ist als fünfzig Jahre, weckt Zorn. Zu hören, wie über die Rente mit 67 geredet wird, und selbst schon fünfzehn Jahre vorher nicht mehr zu den Beitragszahlern zu gehören: Für die Betroffenen klingt das wie Hohn.

Aber manchmal spüren wir auch: Es liegt nicht nur an den Verhältnissen, wenn unser Leben sich als unfruchtbar erweist. In anderen Hinsichten als der, die ich gerade beschrieb, kann es auch an uns selber liegen. Frucht zu bringen, kann anstrengend sein. Wer sich einmischt, eckt an. Die Menschen, die unser Mitgefühl und unsere Hilfe in Anspruch nehmen, sind doch manchmal so mühsam. Da hält man sich lieber heraus. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Manchmal machen wir das lieber zum Grundsatz der großen Politik als des eigenen Handelns. Denn die Liebe in Gestalt sozialer Gerechtigkeit einzuklagen, ist immer noch leichter, als sie im eigenen Leben zu praktizieren.  Nicht nur die reformbedürftigen Verhältnisse um uns her, sondern auch die reformbedürftigen Verhältnisse in uns selbst spiegeln sich in diesem Feigenbaum – ohne Frucht nun schon seit Jahren.

3.

Der Eigentümer des Weinbergs ist mit seiner Geduld am Ende. Der Feigenbaum soll weg. Es gibt so viele Pflanzen, die sich nach einem solchen Platz an der Sonne sehnen. Warum soll der unfruchtbare Baum ihnen weiter den Platz wegnehmen? Er bringt nichts. Er nimmt dem Boden nur seine Kraft.

Gewiss: Nur von einem Baum ist die Rede. Aber kommt es nicht vor, dass wir auch über Menschen so sprechen? Nicht nur ihr unnützes Gerede, ihre ergebnislose Arbeit, ihre verkorksten Beziehungen beklagen wir. Nein, sie selbst nennen wir Versager. Wir nutzen sie als Projektionswand, auf die wir unsere eigenen Versagensängste werfen. Aber manchmal überfällt uns selbst das Gefühl: Du nimmst dem Boden seine Kraft. Du bist zu nichts nütze.

Das Handeln des Weinbergbesitzers ist uns nicht fremd. Wir kennen es. Wie befremdlich dagegen ist der Einspruch des Weingärtners. Ein kühner Widerspruch: Die drei Jahre der Unfruchtbarkeit sollen nicht reichen; noch einmal ein Jahr will er es versuchen, das Erdreich um den Baum lockern, an Dünger nicht sparen, für Wasser sorgen. Vielleicht kommt doch noch Frucht.

Und wenn nicht? Die Antwort bleibt aus. Das Gleichnis hat einen offenen Ausgang. Jesus erzählt nicht, wie es im Jahr darauf weitergeht. Hat der Baum Früchte getragen, hat er wenigstens geblüht? Oder stand er wieder wie tot da? Und wenn es so gewesen sein sollte, hat der Weingärtner dann eingewilligt, dass er abgehauen wurde? Hat der Eigentümer seinen Willen wenigstens mit Verspätung durchgesetzt? Oder hat der Weingärtner noch einmal interveniert – nun erst recht aus grundloser Güte?

Welchen Schluss wollen wir diesem Gleichnis geben? Martin Luther, von dem ich gerade schon sprach, hat eingeschärft, jeden Abschnitt der Bibel aus dem Ganzen der biblischen Botschaft heraus zu lesen und zu verstehen. Kern und Stern der biblischen Botschaft aber ist das Evangelium von der Barmherzigkeit Gottes. Und dieses Evangelium kommt auch unter der rauen Schale dieses Gleichnisses zum Vorschein.  Und deshalb ist es nicht nur erlaubt, nein es ist geboten, die Saiten des Gleichnisses zum Klingen zu bringen, die auf den Ton des Evangeliums gestimmt sind. Und das sind die Worte des Weingärtners, der zum Weinbergsbesitzer sagt: „Herr, lass ihn noch dies Jahr“. „Lass ihn“: genau das Wort wird hier verwendet, das im Neuen Testament sonst für das Erlassen, für die Vergebung der Sünden steht: ein Lassen, das in die Freiheit führt.

Sind wir offen dafür, im Gleichnis vom Feigenbaum dieses befreiende Evangelium zu hören? Prüfen Sie sich selbst: Mit welcher Figur dieses Gleichnisses haben Sie bisher Gott in Verbindung gebracht? Ausdrücklich habe ich mir die Frage lange Zeit gar nicht gestellt. Denn die Antwort schien zu eindeutig zu sein. Gott ist der Eigentümer; im gehört die Welt wie mein Leben. Er fordert Rechenschaft von mir. Ihm gegenüber habe ich die Frage zu beantworten, ob mein Leben Frucht bringt. Und vor Augen habe ich dann den strengen, unnachsichtigen, herrscherlichen Gott, der über alle zu Gericht sitzt, über die Gerechten wie über die Ungerechten.

Aber das volle biblische Gottesbild ist das nicht. Biblisch wird es erst, wenn ich vom Besitzer des Weinbergs zum Weingärtner fliehen kann, vom unnachsichtigen zum gnädigen Gott. Die große Hoffnungsgestalt des Gleichnisses ist der Weingärtner. Er gibt den Feigenbaum nicht auf; er bewahrt den Eigentümer noch einmal davor, unwiderruflich zu vollstrecken, was er in Gedanken bereits vollzogen hat: „Herr, lass ihn noch dies Jahr.“ In dieser Bitte des Weingärtners begegnet uns die Autorität des bittenden Christus, der für uns vor Gott eintritt und keine Bedingung dafür kennt. Im Weingärtner begegnet uns die grundlose Güte, die bedingungslose Liebe, Kern und Stern des Evangeliums. Er ist das Bild Gottes, an das ich mich halten kann und will.

4.

Kann also alles beim Alten bleiben? Der Feigenbaum ruht sich entspannt aus, verzichtet auch in den Folgejahren darauf, Früchte zu bringen und nimmt an, der Weingärtner werde schon wieder ein gutes Wort für ihn einlegen? Wer so denkt, nimmt den offenen Ausgang des Gleichnisses gerade nicht ernst. Die Mühe des Weingärtners soll nicht ohne Folgen bleiben; auch noch seine Güte zur Fruchtlosigkeit zu verurteilen, wäre vollends unbegreiflich.

Güte führt zur Umkehr, Barmherzigkeit bringt Frucht: das ist die Richtung, in die uns dieses Gleichnis lenken will. Es droht nicht, sondern es lockt. Es verurteilt nicht, sondern es richtet auf.

Die Frage nach den Früchten wird also nicht gleichgültig, sondern sie wird neu gestellt. Hat die Güte des Weingärtners Folgen, findet die Barmherzigkeit Gottes ein Echo?

Ob wir selbst Frucht bringen, also produktiv sind, so wird heute vielfach gefragt. Dass wir verstärkt für uns selber sorgen müssen, ist der Grundsatz aller Reformvorhaben, von denen dieser Herbst so voll ist. Die Eigenverantwortung, zu der wir in allen denkbaren Hinsichten ermahnt werden, hat ja auch einen guten Sinn. Denn zur Solidarität wird unsere Gesellschaft nur fähig bleiben, wenn jeder von uns das, wofür er selber sorgen kann, auch selbst in Angriff nimmt. Aber auch das Umgekehrte gilt: Zutrauen zu uns selbst haben wir nur, so lange wir uns auf eine Solidarität verlassen können, die uns auch in Schwäche und Hilflosigkeit  nicht allein lässt. Dem Beispiel des Weingärtners folgen wir nur, wenn wir einander die Gewissheit geben, dass die Eigensucht nicht das letzte Wort hat. Die Menschlichkeit behält nur Raum, wenn wir uns auch im Verhältnis zu unseren Mitmenschen an diesen Satz halten: „Herr, lass ihm noch dies Jahr.“ Dann werden wir auch in unsere Mitmenschen etwas „investieren“, das Erdreich um sie lockern, den Boden düngen und für Wasser sorgen. Die Geduld für Menschen, die es schwerer haben, die unbeirrbare Bereitschaft, ihnen etwas zuzutrauen, sind eben nicht nur Eigenschaften Gottes. Es handelt sich auch um mögliche menschliche Eigenschaften, ja um nötige Eigenschaften einer menschenfreundlichen Gesellschaft.

Von dir wird nicht nur etwas gefordert, dir wird auch etwas zugetraut. Du brauchst keine Angst vor dem Versagen zu haben; denn du wirst gebraucht. Vieles verändert sich, wenn Menschen eine solche Erfahrung machen. Auch die Bereitschaft, Reformen anzunehmen, die Unsicherheit zu akzeptieren, die sich mit ihnen verbindet – auch diese Bereitschaft wächst, wenn die Atmosphäre in der Gesellschaft von einem solchen Geist geprägt ist: dem Geist der Anerkennung und nicht der Versagensangst, dem Geist des Zutrauens und nicht des Alleingelassenwerdens.  Der Mut zu neuen Schritten, der heute nötig ist, er braucht auch einen solchen Geist. Wenn der Buß- und Bettag 2003 einen guten Sinn hat, dann liegt er darin. Wir leben alle aus grundloser Güte. Es wird Zeit, dass wir sie miteinander teilen. „Herr, lass ihm noch dies Jahr“. Amen.