Predigt im Universitätsgottesdienst in St. Marien zu Berlin in der Predigtreihe "Angefochtener Glauben" (Gal 6,7)

Wolfgang Huber

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

I.

Was der Mensch sät, das wird er ernten. Ein geflügeltes Wort steht am Anfang dieser Predigt. Manche werden es bei einem Dichter suchen, andere werden es in der Bibel vermuten. Dass Dichterworte in der Bibel gesucht werden oder umgekehrt, ist ja nicht selten. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sagte vor einiger Zeit jemand leichthin, wie nebenbei, in einem Fernsehgespräch und erntete dabei die Rückfrage, von wem denn dieses Wort stamme. Vermutlich von Goethe, kam die scheinbar gebildete Antwort. O nein, wurde dem entgegengehalten: von Bertolt Brecht. Der Verweis auf das Matthäusevangelium und die Versuchungsgeschichte Jesu aber kam keinem der Beteiligten in den Sinn.

Was der Mensch sät, das wird er ernten.  Durch den Apostel Paulus hat diese Aussage ihren Weg in den Schatz christlicher Weisheit gefunden. Denn er verwendet sie in dem Abschnitt des Galaterbriefs, den wir vorhin als Schriftlesung gehört haben. Doch von ihm selbst wird dieses Wort nicht stammen. In ihm spiegelt sich vielmehr antikes Erfahrungswissen. Cicero, der römische Rhetor, verwendet es beispielsweise in seiner Schrift „Vom Redner“ in einer nur leichten Abwandlung: Wie du gesät hast, so wirst du ernten. Der Mensch ist verantwortlich für seine Taten. Die Folgen hat er zu tragen. Durch unser Tun legen wir uns selbst fest. Das ist die Anfechtung des Glaubens, von der ich heute sprechen will.

II.

Dem vertrauten Sprichwort, an das er sich anschließt, gibt der Apostel sogar noch eine zusätzliche Schärfe. Jedes Missverständnis will er ausschließen, jede Ausflucht will er verbauen: „Irrt euch nicht. Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten.“ Unerbittlich wird uns vor Augen gestellt, welche Verantwortung wir tragen. Kein Zweifel soll aufkommen. Keiner kann sich wegschleichen.

Was wir ernten, ist die Frucht unserer Saat. Wenn wir auf eine menschliche Beziehung über Jahr und Tag weder Aufmerksamkeit noch Mühe verwandt haben, ist es nicht verwunderlich, wenn sie erstorben ist. Wenn wir unsere Umwelt gleichgültig nutzen, ohne sie zu erneuern, braucht es uns nicht zu erstaunen, wenn sich ihre Kraft verliert. Wenn Hühner oder Puten vor der Zeit sterben, weil sie Weizen gefressen haben, der von künstlichen Pestiziden voll war, brauchen wir uns nicht zu wundern. Wir ernten, was wir säen.

Wenn wir mit wachen Augen in Berlin leben, in der Stadt, die drei Jahrzehnte durch eine Mauer geteilt war, brauchen wir nicht erstaunt zu sein. Deutschlands Teilung war auch eine Folge der deutschen Geschichte. Sie fiel nicht vom Himmel. Wir ernten, was wir säen. Unser Volk war über Jahrzehnte geteilt. Und die Geschichte, die dahin führte, holt uns immer wieder ein. Reden in antisemitischer Tonlage, Auseinandersetzungen über das Holocaust-Mahnmal und wer daran mitbauen darf, neue Stasi-Überprüfungen: Spuren unserer Geschichte.

Und wenn die Berliner Universitäten in diesen Wochen erschüttert werden durch die Auseinandersetzung um die Folgen der Sparpläne des Berliner Senats, dann ernten wir auch an dieser Stelle, was zuvor gesät wurde. Weil es zur rechten Zeit an Rücksichtnahme auf die begrenzte Finanzkraft der Stadt fehlte, ist man nun dabei, Berlin gerade dort auf unabsehbare Zeit zu schwächen, wo es Stärken besitzt, die es weiter entwickeln sollte: nämlich in Wissenschaft und Bildung, in Forschung und Kultur. Wenn dabei unter anderem Stellung und Ausstattung der Theologischen Fakultät in Frage gestellt werden, dann zeigt dies, dass unter solchen Zwängen sowohl der Sinn für Geschichte und Gesicht der Universität insgesamt als auch der Respekt vor verbindlichen Vereinbarungen verloren gehen kann.

„Was der Mensch sät, das wird er ernten.“  In einem Jahr, in dem alles auf dem Prüfstand steht, woran wir uns gewöhnt hatten, liegt uns ein solches Wort beunruhigend nahe. Wir haben lange über unsere Verhältnisse gelebt. Jetzt wird uns die Rechnung vorgelegt. Was kostet unser Sozialsystem wirklich? Und wer soll es auf Dauer bezahlen? Wir machen Schulden bei unseren Kindern. Wenn sie die Schulden bezahlen müssen, werden wir nicht mehr leben. Was die einen säen, müssen die andern ernten, ob sie wollen oder nicht. Es sei denn, wir steuern um. Kann das gelingen? Darum geht der Streit in unserem Land. Ein notwendiger Streit.

III.

Aber zugleich bäumen wir uns gegen den behaupteten Zusammenhang auf. Die Verbindung zwischen unseren Taten und ihren Folgen, erst recht die Verbindung zwischen den Taten früherer Generationen und unserer Verantwortung will uns nicht einleuchten. Wir wollen nicht einstehen für die Folgen vergangenen Tuns. Die einen machen dafür den Grundsatz der menschlichen Autonomie geltend: Ich habe ein Recht, mein Leben neu zu entwerfen; zurückliegende Taten dürfen mich daran nicht hindern. Die anderen machen dafür Gründe des Glaubens geltend. Sie berufen sich auf die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.

Von dieser Gerechtigkeit sagt der Apostel Paulus in seinem Brief an die Römer, dass sie ohne Zutun des Gesetzes gilt. Durch unsere Taten lässt sie sich nicht erlangen. Denn sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. Kann denn der Zusammenhang zwischen dem, was wir durch unser Tun säen, und dem, was wir ernten, klarer durchbrochen werden als so: Gottes Gnade, wie sie in der Erlösungstat Christi anschaulich wird, löst diesen Zusammenhang auf. Sie zieht uns alle in den Machtbereich der Gerechtigkeit Gottes hinein, unabhängig von unseren Taten und unabhängig von dem Maß, in dem sie gerechtfertigt werden können.

Und nun tritt dieser Vorstellung von einem Ende des Gesetzes die Aufforderung zu seiner Erfüllung entgegen: Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Nun tritt der Überzeugung, dass im Licht der göttlichen Gnade die Person von ihren Taten unterschieden ist, die Aufforderung entgegen, in Person einzustehen für das, was wir tun. Denn Gott lässt sich nicht spotten. Jetzt wandelt sich der Indikativ der Gnadenzusage doch wieder in einen Imperativ: Jeder prüfe sein eigenes Werk; und dann wird er seinen Ruhm bei sich selbst haben und nicht gegenüber einem andern. Zu welch abgründiger Ironie Paulus hier greift! Wer wird schon bei sich selbst Ruhm haben, wenn er nur sein eigenes Tun prüft und dabei auf jeden abwägenden oder gar abschätzigen Vergleich mit anderen verzichtet? Wer wird bei einer solchen Selbstbetrachtung ohne Wenn und Aber schon bestehen können?

Aber diese Selbstprüfung ist unvermeidlich. Denn andernfalls würde Gottes Gnade zur billigen Gnade, seine Verheißung zu einer Vertröstung, die nichts mehr wert ist. Die in der evangelischen Tradition so beliebte Auskunft, der Christ sei eben gerecht und Sünder zugleich – diese große Formel Martin Luthers kann eben nicht als Ausflucht benutzt werden. Vielmehr muss sich jeder Christ fragen lassen, welche Gestalt die Gnade Gottes in seinem Leben annimmt. Welche Folgen hat es, wenn ich mich von der barmherzigen Nähe Gottes in der Tiefe habe anrühren lassen? Ohne Folgen kann es jedenfalls nicht bleiben. Paulus scheut nicht davor zurück, das in drastischer Form zu schildern. Wer sich an den Gekreuzigten hält, muss auch dazu bereit sein, das eigene Fleisch zu kreuzigen. So schroff kann er sich ausdrücken. Die Vergebung der Sünden wird verleugnet, wenn sie nicht zur Absage an die Sünde führt. Die tiefste Anfechtung unseres Glaubens besteht eben darin, dass wir uns dem entziehen wollen. Wir wollen glauben, ohne umkehren zu müssen. Wir wollen ein neuer Mensch sein und doch so bleiben, wie wir sind. Die Anfechtung unseres Glaubens sind wir selbst.

Paulus dagegen sieht uns Christen als Menschen, die durch ihre Taufe in ein neues Sein versetzt sind. Es liegt an uns, dieses neue Sein in der Gestalt unseres Lebens zu bewahren und immer wieder neu zu gewinnen. Die Grundform, in der dies geschieht, beschreibt das Gesetz Christi: Einer trage des anderen Last. Die vorbehaltlose Zuwendung zueinander, die Teilhabe an den Lasten der anderen, die gelebte Achtung des anderen Menschen in seinem Anderssein, die Liebe zu unseren Nächsten, auch zu den fernen Nächsten, den Feinden nämlich: all das bildet die Form, in der sich das neue Sein in Christus dokumentiert.

Welch eine Aufgabe! Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie von einzelnen allein gelöst werden kann – selbst wenn es sich um religiöse Virtuosen handelt. Ich weiß dafür keinen anderen Weg als die Gemeinschaft der Christen, in der wir uns wechselseitig stützen, aufrichten und ermahnen. Eine Gemeinschaft müsste das sein, die dem neuen Leben in Christus erkennbare Gestalt gibt – nach innen in wechselseitiger Stärkung, nach außen in solidarischer Hilfe. Ja, man möchte eine solche Gemeinschaft gern Kirche nennen und weiß doch, dass unsere real existierenden Kirchen hinter einer solchen Erwartung oft genauso weit zurückbleiben wie die real existierenden Christen. Auch im Blick auf die Kirche gilt: Die Anfechtung unseres Glaubens sind wir selbst.

IV.

Aus dieser Anfechtung heraus rufen wir: Maranatha, komm Herr Jesus. Wir bitten um eine Erneuerung unseres Glaubens, den wir nicht wieder verstecken oder verspielen, sondern mit dem wir wuchern und fruchtbar sein wollen. „Was der Mensch sät, das wird er ernten.“ So soll es mit unserem Glauben sein.

Wir stehen auf der Schwelle vom alten zum neuen Kirchenjahr. Heute, am Ewigkeitssonntag, denken viele Menschen an abgebrochenes Leben und jähen Tod. Viele, auch ich selbst, denken an Gespräche, die geführt werden sollten und für die es nun zu spät ist, nach menschlichem Maßstab unwiederbringlich zu spät. Von dem erlebten und erlittenen Tod flüchten wir uns zu Gott und vertrauen unser endliches, sterbliches Leben seiner Ewigkeit an. Das ist der Sinn dieser Tage im November, ein wichtiger, unentbehrlicher Sinn.

Wir brauchen die Novembertage, die kahlen Bäume, die Blätter am Boden. Es ist töricht, das Empfinden dieser Tage durch voreiligen Weihnachtsglanz zu überdecken. Unter den Linden wie an vielen anderen Stellen dieser Stadt konnte man mit dem Adventsschmuck nicht warten. Die kahlen Bäume mussten überkleidet werden mit Tausenden von Glühbirnen. Bis Weihnachten kommt, ist der Glanz dieser Birnen verbraucht. Wenn das Fest anfängt, ist das Geheimnis dieses Lichts erloschen. Ich will mich damit nicht abfinden. Ich bin dafür, jeder Zeit ihre eigene Würde zu lassen: den dunklen Novemberwochen wie dem leuchtenden Advent. Deshalb haben wir in den Kirchen auch und gerade in diesem Jahr dazu aufgerufen, den unterschiedlichen Charakter der Zeiten im Kirchenjahr zu achten: Alles hat seine Zeit – rettet den Advent. Bei vielen haben wir damit Resonanz gefunden, auch im Einzelhandel. Alles hat seine Zeit – rettet den Advent. Daraus ist eine gemeinsame Aktion entstanden. Und sie zieht weitere Kreise. An vielen Orten in Deutschland sind mir in den letzten Wochen vergleichbare Bemühungen begegnet. Man braucht nicht zu kapitulieren. Bewusstsein kann wieder wachsen. Nur wer die Erfahrung der Endlichkeit aushält, kann sich am Licht des Gottesfriedens freuen. Nur wer vor der Dunkelheit nicht flieht, kann die Helle des Lichts schauen.

Heute geben wir der Erfahrung Raum, dass Tod unser Leben umgibt. Einige von Ihnen haben diese Wahrheit im zu Ende gehenden Jahr schmerzlich erlebt, weil ein naher Angehöriger oder ein guter Freund starb. Todesfälle sind uns nahe gegangen, gerade auch in diesem dunklen November selbst. Der Tod trat uns entgegen auf Friedhöfen, in Krankenhäusern oder auf Fahrten über brandenburgische Landstraßen, an denen Kreuze und Blumen an die Verkehrstoten erinnern.

Mitten im Leben bin ich vom Tod umgeben. Aber mitten im Tod weiß ich mich vom Leben umfangen. In seinem Licht ist jeder Tag kostbar, der uns geschenkt wird. Der Tod lähmt nicht mehr. Die Trauer bindet uns nicht mehr die Hände. Mit offenen Händen nehmen wir unsere Tage als kostbares Geschenk, weil wir von ihrer Begrenztheit wissen. Nur ein Herz, dem der Tod nichts Unbekanntes ist, kann das Geschenk des Lebens mit einem so tiefen Gefühl der Freude würdigen, sagt Daniela Tausch-Flammers, eines todeserfahrene Autorin. Und sie zitiert Hermann Hesse: Atmen in vollkommener Gegenwart. Mitsingen im Chor der Sphären. Mitlachen im ewigen Lachen Gottes. Das ist unsere Teilhabe am Glück.

Dass uns dieses Glück geschenkt wird, ist die große Freude des Glaubens. Dass wir es nicht wieder loslassen, ist sein Ernst. Amen.