Predigt zum Ewigkeitssonntag im Berliner Dom (Matthäus 25, 1-13)

Wolfgang Huber

Dann wird es mit dem Reich der Himmel sein wie mit zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und ausgingen, dem Bräutigam entgegen. Fünf aber von ihnen waren klug und fünf töricht. Die, welche töricht waren, nahmen ihre Lampen und nahmen kein Öl mit sich; die Klugen aber nahmen Öl in ihren Gefäßen samt ihren Lampen. Als aber der Bräutigam auf sich warten ließ, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. Um Mitternacht aber entstand ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam! Geht hinaus, ihm entgegen! Da standen alle jene Jung-frauen auf und machten ihre Lampen fertig. Die törichten aber sprachen zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, denn unsere Lampen verlöschen. Die klugen aber antworteten und sag-ten: Nein, dann würde es für uns und für euch nicht genug sein; geht lieber zum Kaufmann und kauft für euch selbst. Als sie aber hingingen, zu kaufen, kam der Bräutigam, und die be-reit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit; und die Tür wurde verschlossen. Später aber kamen auch die übrigen Jungfrauen und sagten: Herr, Herr, tu uns auf! Er aber antwortete und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Ich kenne euch nicht. So wacht nun, denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde. (Matthäus 25, 1-13)

I.

Die kahlen Bäume strecken ihre nackten Äste in den Novemberhimmel. Auf dem Straßen-pflaster klebt das feuchte Laub. Im trüben Licht dieser Tage kreisen unsere Gedanken um Sterben und Tod. Den Totensonntag begehen wir heute und denken an unsere Toten. Den Ewigkeitssonntag begehen wir und fragen über den Tod hinaus: Was trägt uns wirklich? Un-ser Leben ist endlich – und was folgt? Wen haben wir verloren in diesem Jahr? An wessen Grab haben wir gestanden? Für viele ist solches Erleben noch ganz frisch, die Trauer noch nicht zur Ruhe gekommen.

Doch nicht eine Beerdigung, sondern eine Hochzeitsfeier wird uns im Evangelium des heutigen Sonntags vor Augen gestellt. Jesus erzählt ein Gleichnis vom Reich der Himmel. Und er fasst dieses Reich, in dem aller Abstand zwischen Gott und den Menschen überwunden ist, wie so oft in das Bild einer Hochzeitsfeier. Wie bei jedem gelungenen Fest kommt es ganz besonders auf die Vorbereitung an. Die Rede ist von zehn jungen Frauen, die im Haus der Braut auf den Bräutigam warten. Mit ihm zusammen wollen sie die Braut auf dem Weg zum Haus des Bräutigams begleiten. Dort wird das Hochzeitsfest stattfinden. Festlich soll der Zug werden. Nur diejenigen können mitgehen, die eine brennende Fackel tragen. Eine Gefäßfackel muss man sich vorstellen, an der ein mit Öl getränktes Stück Stoff brennt und Licht verbreitet. Nicht nur ein kleines Öllämpchen tragen die Begleiterinnen des Bräutigams, wie die Darstellung der zehn Jungfrauen in vielen mittelalterlichen Domen – in Magdeburg zum Beispiel – uns glauben macht. Kleine Öllämpchen taugen nämlich nur in geschlossenen Räumen. Unter freiem Himmel dagegen würde ihr Licht ohnehin vom Wind ausgeblasen. Für einen Hochzeitszug wäre das ganz ungeeignet. Nein, Fackeln sind es, die Braut und Bräutigam den Weg zeigen.

Eine peinliche Geschichte. Nun begegnet uns einmal eine biblische Erzählung, in der Frauen die Hauptrolle spielen, sogar zehn an der Zahl. Doch gleich sind sie  in kluge und törichte auseinander dividiert. Dazu Jungfrauen – welch altmodisches Wort. Gäbe es nicht Eiger, Mönch und Jungfrau, gäbe es nicht die Jungfrau unter den Tierkreiszeichen, käme nicht die Jungfrau sogar im Glaubensbekenntnis vor – wer würde heute noch von Jungfrauen sprechen? Und doch: Der Brauch, dass das Brautpaar von Brautjungfern begleitet wird, ragt irgendwie noch in unsere Gegenwart hinein. Bei Hochzeiten schaut man ganz besonders auf die jungen Frauen, denen selbst das Fest noch bevorsteht, das einen Höhepunkt im Leben bildet und an dem sich so viel entscheidet. Auch heute ist das so.

Die jungen Frauen wissen das und bereiten sich darauf vor. Der Bräutigam lässt auf sich warten, aber die Fackeln brennen schon. Allmählich ist das Öl in den Gefäßen aufgebraucht. Die einen haben vorgesorgt, die anderen nicht. Die einen können nachfüllen, die andern schauen ins Leere. Jetzt wäre Teilen angesagt. Doch Teilen hilft hier nichts. Wenn das Öl nicht für alle reicht, würden beim Teilen alle Fackeln zu kurz brennen. Dann wären am Ende alle Fackeln finster, bevor der Hochzeitszug am Ziel ist. Das wäre ein schlechtes Zeichen, ein böses Omen für die junge Ehe. Es mag ja möglich sein, fünftausend hungrige Münder zu sättigen, indem man ein paar Brote und einige Fische unter ihnen teilt. Aber wo das Fest erleuchtet werden soll, hilft es nichts, wenn alle Fackeln vor der Zeit zum Erlöschen kommen. Die klugen Jungfrauen haben Recht, wenn sie nicht teilen. Wer nicht vorgesorgt hat, muss selbst für Nachschub sorgen. Der Ölverkäufer muss aus dem Bett geklingelt werden, die Sache ist dringlich.  Jeder ist sich selbst der Nächste. Wer nicht vorsorgt, zieht den Kürzeren. Dazu gibt es manchmal keine Alternative. Teilen hilft nicht.

II.

Natürlich stellen wir uns schnell auf die Seite der klugen Jungfrauen. Wir wollen dazu gehören. Wir sorgen rechtzeitig vor. Wir wollen das Entscheidende nicht verpassen. Auch in Glaubensdingen soll das gelten. Auch wir wollen gemeint sein, wenn es im Lied heißt: Zion hört die Wächter singen, das Herz tut ihr vor Freude springen, sie wachet und steht eilend auf. Ihr Freund kommt vom Himmel prächtig. ...“

Aber so einfach ist es nicht. So wach sind wir nicht immer. Das Novembergrau und die auf dem feuchten Boden klebenden Blätter erinnern uns daran. Wir kennen das Gefühl, die Tür zum Festsaal sei längst zugefallen, das Leben sei an uns vorbeigegangen. Wir sehen die Lichter und hören die Musik, aber das spielt sich hinter den Fenstern ab – und wir sind draußen. Es geht uns so, wie Meister Eckhart, einer der großen Mystiker der Christenheit, es beschrieben hat: Gott ist allezeit bereit, wir aber sind sehr unbereit; Gott ist uns nahe, wir aber sind ihm fern; Gott ist drinnen, wir aber sind draußen.

Unser Mitgefühl mit den törichten Jungfrauen, denen das Öl fehlt, ist nicht gespielt. Wir kennen die Rolle. Wie oft fehlt es uns am Öl. Wir wollen brennen, aber wir können nicht. Wir sollen leuchten, aber es will nicht gelingen. Wir sollen andern den Weg zeigen, aber kennen ihn selbst nicht. Wir wissen, dass wir besser auf die Ölvorräte unseres Lebens achten müssen. Wir brauchen Zeiten, in denen wir wieder lernen, die Hoffnung zu hüten und mit dem Gott des Lebens zu rechnen. Diese Novembertage sind solche Zeiten. Es sind Zeiten, in denen wir an die denken, deren Leben zu Ende ging. Es sind Tage, an denen uns die eigene Sterblichkeit bewusst wird.

Der Beter des 90. Psalms sagt: Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. So klug wie die fünf Jungfrauen, die nicht wissen, wie lange die Zeit währt, sich aber auf das Kommen ihres Bräutigams einrichten. Wann es so weit sein wird, bleibt uns verborgen. Wachet, denn ihr wisst weder Tag noch Stunde, heißt es in unserem Gleichnis.

III.

Wir brauchen die Novembertage, die kahlen Bäume, die nassen Blätter am Boden. Es ist töricht, das Empfinden dieser Tage durch voreiligen Weihnachtsglanz zu überdecken. Unter den Linden wie an vielen anderen Stellen dieser Stadt konnte man mit dem Adventsschmuck nicht warten. Die kahlen Bäume mussten überkleidet werden mit Tausenden von Glühbirnen. Bis Weihnachten kommt, ist der Glanz dieser Birnen verbraucht. Wenn das Fest anfängt, ist das Geheimnis dieses Lichts erloschen. Ich will mich damit nicht abfinden. Ich bin dafür, jeder Zeit ihre eigene Würde zu lassen: den dunklen Novemberwochen wie dem leuchtenden Advent. Deshalb haben wir in den Kirchen auch und gerade in diesem Jahr dazu aufgerufen, den verschiedenen Charakter der Zeiten im Kirchenjahr zu achten: Alles hat seine Zeit – rettet den Advent. Bei vielen haben wir damit Resonanz gefunden, auch im Einzelhandel. Alles hat seine Zeit – rettet den Advent. Daraus ist eine gemeinsame Aktion entstanden. Und sie zieht weitere Kreise. An vielen Orten in Deutschland sind mir in den letzten Wochen vergleichbare Bemühungen begegnet. Man braucht nicht zu kapitulieren. Bewusstsein kann wieder wachsen. Nur wer die Erfahrung der Endlichkeit aushält, kann sich am Licht des Gottesfriedens freuen. Nur wer vor der Dunkelheit nicht flieht, kann die Helle des Lichts schauen.

Heute geben wir der Erfahrung Raum, dass Tod unser Leben umgibt. Einige von Ihnen haben diese Wahrheit im zu Ende gehenden Jahr schmerzlich erlebt, als ein naher Angehöriger, der Ehemann, die Mutter, der Lebenspartner oder gar ein Kind verstorben ist. Todesfälle sind uns nahe gegangen, gerade auch in diesem dunklen November selbst. Der Tod trat uns entgegen auf Friedhöfen, in Krankenhäusern oder auf der Fahrt über die Brandenburgischen Landstraßen, an denen viele Kreuze und Blumen an die Verkehrstoten erinnern.

Mitten im Leben bin ich vom Tod umgeben. Aber mitten im Tod weiß ich mich vom Leben umfangen. Denn der Bräutigam kommt. In seinem Licht ist jeder Tag kostbar, der uns geschenkt wird. Der Tod lähmt nicht mehr. Die Trauer bindet uns nicht mehr die Hände. Mit offenen Händen nehmen wir unsere Tage als kostbares Geschenk, weil wir von ihrer Begrenztheit wissen. Nur ein Herz, dem der Tod nichts Unbekanntes ist, kann das Geschenk des Lebens mit einem so tiefen Gefühl der Freude würdigen, sagt Daniela Tausch-Flammers, eines todeserfahrene Autorin. Und sie zitiert Hermann Hesse: Atmen in vollkom-mener Gegenwart. Mitsingen im Chor der Sphären. Mitlachen im ewigen Lachen Gottes. Das ist unsere Teilhabe am Glück.

Dieser Sonntag stellt uns alle vor die Vertrauensfrage. Was ist unser wichtigster Halt im Leben und im Sterben? Dem Tod halte ich nur stand, wenn ich mich auf eine Kraft verlasse, die mir meine Lebens- und Todesangst gemeinsam überwinden hilft. Es geht um einen Glauben auf Leben und Tod. Meiner Angst vor dem Sterben tritt ein Vertrauen auf Gott entgegen, der mein ganzes Dasein, mein Leben und mein Sterben hält und trägt.

Unser Glaube gibt angesichts des Todes die Antwort auf die Vertrauensfrage: Auch wenn ein Mensch aufhört, sich zu sich selbst verhalten zu können - kraftlos am Ende seiner eigenen Möglichkeiten - , auch dann verhält sich Gott weiterhin zu ihm. Das stärke und bewahre dich im Glauben zum ewigen Leben. Das ist die Antwort auf die Vertrauensfrage: Auch im Tod fallen wir nicht in die Verhältnislosigkeit. Wir fallen in Gottes Hand.

Wohin der Tod auch kommt - Gott ist immer schon da. Und wo Gott ist, da ist das Leben. Deshalb ist der Tod kein „hoffnungsloser Fall“, weil ich immer in der Liebe Gottes geborgen bleibe. Auch ohne mein Zutun. Und so sind auch unsere Verstorbenen durch Jesus Christus - durch sein Sterben und Auferstehen - in der selben Liebe Gottes geborgen, die auch uns Lebende umfängt.

Mag kommen, was will: Gott wird bei uns sein: mit seiner Hilfe, auf die wir trauen können, mit seiner Zusage, in Christus verbürgt, mit seinem Wort, das nicht vergeht. Aber dennoch: Seid wachsam und bereitet euch auch darauf vor. Denn ihr wisst weder Zeit noch Stunde. Amen.