Predigt im Ordinationsgottesdienst in St. Marien zu Berlin (Römer 13,11-14)

Wolfgang Huber

Bedenkt die gegenwärtige Zeit, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So lasst uns nun ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Eifersucht; sondern zieht an den Herrn Jesus Christus und sorgt für den Leib nicht so, dass ihr den Begierden verfallt.“
(Römer 13,11-14)

I.

Das ist die richtige Zeit, um anzufangen: der Erste Advent. Alles wird neu. Gottes Heil ist uns nahe, so nahe wie bei unserer Taufe. Wir meinen schier, wir könnten das Reich Gottes mit Händen fassen. So nahe ist es. Eine Zeit zum Jubeln.

Kann es ein schöneres Datum geben als dieses, um Gott für das zu danken, was er uns anvertraut? Den schönsten Auftrag, den er zu vergeben hat, vertraut er uns an: die Weitergabe des Evangeliums. Gewiss ist dieser Auftrag mit der Taufe allen Christinnen und Christen übertragen. Das allgemeine Priestertum aller Getauften ist uns wichtig. Und es gewinnt an Bedeutung. Denn die Zeit der Pastorenkirche ist vorbei. Aber es gibt ein besonderes Amt, das die öffentliche Verkündigung des Evangeliums verantwortet. Im Reichtum der Gaben, die in der Kirche versammelt sind, gibt es ein Amt, das diese Gaben bündelt, fördert und koordiniert. Die Leitung der Sakramente – Taufe und Abendmahl – ist gerade in unserer offenen und pluralen Kirche klar geregelt. Im Blick auf diese Aufgaben werden Frauen und Männer ordiniert, nach langer Ausbildung, auf Grund persönlicher Entscheidung, mit einer Verpflichtung, die sich auf das ganze Leben richtet.

Sieben Frauen und vier Männer ordinieren wir in diesem Gottesdienst. Das ist ein unübersehbarer Beleg für den gleichen Zugang von Frauen und Männern zum ordinierten Amt. Auch das gehört zu dem besonderen Profil, das wir als evangelische Kirche in die ökumenische Gemeinschaft unserer Tage einbringen. Eine Gemeindepädagogin wird heute ordiniert. Sie wird besondere gemeindepädagogische Akzente mit dem ordinierten Amt in unserer Kirche verbinden. Zwei der Ordinanden gehen auf den ehrenamtlichen pastoralen Dienst zu. Darin liegt ein besonderer Reichtum unserer Kirche: das ordinierte Amt ist nicht in jedem Fall mit einem besoldeten  Dienstverhältnis verknüpft; es kann sich auch mit einem anderen Beruf oder besonderen Lebensverhältnissen verbinden.

Gott wählt sich unsere individuellen Lebensschicksale; in ihnen vertraut er uns die Zusage seiner Gnade an. Wir können ihn nur bitten, dass er sich zu Eigen macht, womit wir ihm zu dienen bereit sind. Das ist der doppelte Sinn der Ordination: Gott ruft uns; und wir bitten ihn, sich unseren Dienst zu Eigen zu machen. Wir sind bereit zu hören; und wir vertrauen darauf, dass er uns hört. Das ist ein Grund zum Jubeln. Wir erleben einen Tag der Gnade, eine Stunde des Heils. Wir erleben Advent.

II.

Denn das ist die Botschaft des Advent: Steh auf vom Schlaf, dein Heil ist nahe. Mit allem, was wir in der Adventszeit planen und gestalten, wollen wir diesen Sinn der Adventszeit zur Geltung bringen. Wir tun es, auch wenn wir uns damit in Widerspruch zu manchem setzen, was uns umgibt. Denn die Adventsstimmung, die sich um uns her ausbreitet, spricht zum Teil eine andere Sprache. Einschläfern will sie, nicht aufwecken.

„Schlafe in himmlischer Ruh’“. Das ist die Stimmung, die uns in diesen Tagen ins Ohr gedudelt wird. Mehr als vierzig Weihnachtsmärkte zählt unsere Stadt zwischen Spandau und Neukölln, zwischen Zehlendorf und Marzahn. Auch darin ist Berlin Spitze; ich vermute, das ist die größte Weihnachtsmarktdichte in der ganzen Welt. Heute kommen diese Märkte auf volle Touren. Sie wollen uns träumen machen: „Schlafe in himmlischer Ruh’ “.

Dabei ist das die absolut falsche Zeitansage: Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber ist nahe herbeigekommen. Das ist die Zeitansage des Advent. Sie gilt am Morgen wie am Abend. Sie ist unabhängig von der konkreten Tageszeit. Denn in jedem Fall gilt: Es wird nicht Nacht, sondern Tag. Gottes Uhr zeigt nicht fünf vor zwölf, sondern fünf vor sieben. Es wird nicht dunkel bleiben. Wir sind nicht einer unausweichlichen Götterdämmerung ausgesetzt. Wir leben in der Morgendämmerung einer neuen Welt. Uns schlägt nicht die letzte Stunde, uns schlägt ein neuer Tag. Als Christen sind wir nicht Nachtwächter, die mit der Laterne in der Hand die Nachtstunden ansagen: „Hört ihr Herrn und lasst euch sagen: Unsre Stund hat zwölf geschlagen.“ Nein wir sollen wie Hähne sein, die mit ihrem Ruf den Tag verkünden.

Von Martin Luther stammt dieser kühne Vergleich. Mit all seiner Sprachgewalt stemmt er sich dagegen, dass Christen sich schlafen legen, und sei es in himmlischer Ruh: „Heute wollen sie aus diesem Morgenevangelium ein Nachtevangelium machen, dass sie faul sind und sich schlafen legen müssen. Unter dem Papst musste einer sich das Heil etwas kosten lassen. Jetzt haben wir’s umsonst. Und was tun wir nun? O wir schlafen, wir schnarchen, dass die Balken krachen!“

III.

Dagegen protestiert Luther mit Paulus. Warum legen sie beide Einspruch ein gegen unsere Sehnsucht nach Schlaf? Die Frage drängt sich auf. Nicht nur für die liegt sie nahe, denen das Schlafen schwer fällt. Wer so manche schlaflose Nacht verbracht hat, hört auf, über verschlafene Menschen zu spotten. Vielmehr wünscht er sich manchmal, dazu zu gehören. Aber auch für alle anderen gilt: Schlaf erquickt. Schlafentzug kann wie Folter sein. Und trotzdem: Jetzt heißt es aufzustehen vom Schlaf. Warum denn nur? Wer jetzt schläft, so sagt der Apostel, verweigert sich der Liebe. Liebe und Schlaf schließen einander aus.

Stimmt das denn? Wer schläft, liebt nicht? Johannes Elias Adler, die Hauptfigur in Robert Schneiders Roman „Schlafes Bruder“, glaubt das. Aus dem Mund eines selbsternannten Wanderpredigers hat Johannes Elias, ein musikalisches Naturtalent, diesen Satz zum ersten Mal gehört: Wer schläft, liebt nicht. Auf Schrecken erregende Weise setzt er diesen Satz um. Durch totalen Schlafentzug will er ganz und gar der Liebe zu seiner Kusine Elsbeth leben. Auf dem Gipfel des Romans heißt es: „Er befand, dass es gut sei, sich für die Liebe zu entscheiden, Geist und Kraft eines ganzen Menschenlebens daran zu geben. Mit dem letzten Quentchen seines begrenzten Willens entschied er sich für Elsbeth und somit gegen sein musikalisches Genie. Weil ihm aber das Genie von Gott gegeben war, entschied er sich gegen Gott.“

Neun Jahre nach seinem Tod versucht Elsbeth, die geliebte Kusine, ihren Kindern zu erzählen, was geschehen ist. Eine märchenhafte Welt baut sie vor ihnen auf. Doch mitten in diese Erzählung hinein unterbricht sie Cosmas, der Älteste, mit verstellt erwachsener Stimme: „Frau Mutter, was meint Liebe?“ „Was heißt Liebe? lachte sie, küsste ihm sein glänzendes Knollennäschen und zog ihm die Kapuze über den Kopf. Denn der Regen hatte wieder eingesetzt.“

„Was heißt Liebe?“ Vom biblischen Gott heißt es: Er schläft und schlummert nicht. Denn er, der Vater Jesu Christi und auch unser Vater, ist die Liebe ohne Unterlass. Für uns Menschen ist eine solche Liebe nicht möglich. Wir brauchen nicht Gott zu werden; wir bleiben im Rhythmus von Nacht und Tag.

Doch umso mehr kommt es darauf an, dass wir den Tag nicht verschlafen und die Zeit der Liebe nicht verpassen. Jetzt ist fünf vor sieben, nicht fünf vor zwölf. Was das bedeutet, schildert der Apostel im Gegenbild zur Erlebnisgesellschaft seiner Zeit, zu den ausschweifenden Gelagen in der Weltstadt Rom, zum Partyschnickschnack unserer lieben und liebenswerten Weltstadt Berlin. Mit unbestechlichem Blick beschreibt er, wohin es führt, wenn wir vor lauter Verlangen nach Selbstverwirklichung die Herrschaft über uns selbst verlieren. Der Alkohol übernimmt das Kommando; die Esslust kennt keine Grenzen mehr; wir wollen zeigen, was wir uns alles leisten können; und alle menschlichen Beziehungen werden sexualisiert. Wo es dahin kommt, lauern Streit und Hader um die nächste Ecke. Wir alle wissen, wie Recht der Apostel damit hat. Auch seine Warnung trifft, wie wir ganz genau wissen: Ihr schläfert euch dadurch wechselseitig ein, so gibt er zu bedenken; ihr verpasst, worauf es ankommt: die Gegenwart der Liebe.

IV.

Nach alter Tradition ist die Adventszeit eine Fastenzeit. Violett, die Farbe der Buße, ist die liturgische Farbe für diese Zeit. Selbstdisziplin will diese Zeit einüben, nicht Zügellosigkeit. Zum Maß will sie einladen, nicht zur Maßlosigkeit. Ohne Maß im Umgang mit den Sachen gibt es auch kein Maß im Menschlichen. Die Rückkehr zum Maß ist deshalb eine Wohltat: zum menschlichen Maß in dem, was wir schenken, und in dem, was wir erwarten; zum menschlichen Maß beim Essen und Trinken und auch im Umgang mit der eigenen Sexualität. Und das alles, damit wir es nicht verschlafen, wenn Gott unter uns ist, bei uns, ganz nah, mit seiner Liebe.

„Alle Jahre wieder“: noch so ein Ohrwurm, der uns entgegenschallen wird von den über vierzig Weihnachtsmärkten dieser Stadt. Dabei führt dieser Liedanfang nun wirklich in die Irre. Advent und Weihnachten feiern wir nicht alle Jahre wieder, weil doch damals, „vor zweitausend Jahren“, das Kind in der Krippe geboren wurde. Nein, Advent und Weihnachten feiern wir, weil Gott jetzt kommt. „Euch ist heute der Heiland geboren.“ Dieses Heute ist gerade jetzt. Es geht um den Weg, den Gott jetzt mit uns gehen will. Denn niemand kann vom Glauben des vorigen Jahres heute leben. Niemand wird heute satt vom Gedanken an das gute Essen vom vergangenen Sonntag.

Darum: Seid wach. Merkt, jetzt ist fünf vor sieben. Tut ab, was euch beschwert. Werft von euch, was euch bequem macht. Sagt der Sünde ab, die uns ständig umstrickt. Lasst euch ein auf den Lauf des Glaubens und der Liebe. Es lohnt sich. Denn Gott hat Großes mit euch vor.

Menschen dabei zu helfen, dass sie sich diesem Großen stellen, ist der Sinn des ordinierten Amtes in der Kirche. Denn alle sollen wissen: Wir können auf Gott hören, wach und gespannt. Und wir können ihm antworten, mit offenem Blick und aufrichtigem Herzen. Aber dabei müssen wir uns wechselseitig helfen. Denn keiner von uns kann das allein. Deshalb sind Pfarrerinnen und Pfarrer Gehilfen des Glaubens. Das ist ein wunderbares Amt. Es stellt die Menschen in die Gegenwart Gottes. Denn Gottes Heute ist gerade jetzt. Jetzt ist es Zeit, aufzustehen; denn unser Heil ist nahe. Amen.