Predigt im Gottesdienst zur Einweihung der Kirche in Horno (Hebräer 13, 12-14)

Wolfgang Huber

Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
(Hebräer 13, 12-14)

I.

Liebe Gemeinde, das ist ein großer und bewegender Tag. Ich bin dankbar dafür, dass ich ihn miterleben und mitgestalten kann. Widerstreitende Gefühle wollen jetzt ausgesprochen und gebändigt werden. Widerstreitende Stimmen in unserem Herzen müssen laut werden – aber so, dass wir dabei lernen, nicht nur auf die eigene Stimme, sondern auch auf die Stimme des andern zu hören. Trauer über Vergangenes und die Hoffnung auf Neues verbinden sich an diesem Tag. Und sie verbinden sich ganz besonders mit diesem Ort, mit der Kirche von Horno, die wir heute einweihen. Unsere evangelische Kirche begleitet diesen Tag mit herzlichen Segenswünschen. Wir haben versucht, in all den Auseinandersetzungen, für die der Name Horno zum Symbol geworden ist, den Menschen nahe zu sein. Und so bleibt es auch jetzt. Den Menschen nahe – das ist freilich nicht nur etwas, das wir Menschen einander versprechen. Den Menschen nahe – das ist vor allem etwas, was Gott uns verspricht. In Jesus kommt er uns so nahe, wie es nur geht. Im Kind in der Krippe lässt er sich ganz auf uns ein. Darum feiern wir Weihnachten und erfahren das immer wieder neu: Den Menschen nahe.

Auf diese tröstende Gewissheit des Weihnachtsfests sind wir gerade in diesem Jahr besonders angewiesen. „Wir haben hier keine bleibende Stadt“. So haben wir es gerade aus dem Hebräerbrief gehört. Das Wort trifft genau. Wenn sogar eine Kirche sich auf den Weg machen muss, dann wird die Vergänglichkeit überdeutlich. Und auch für das Gefühl der Vergeblichkeit muss heute Raum sein. Jahre- ja jahrzehntelang haben die Menschen in Horno um ihren Ort gekämpft. Denn dort waren sie zu Hause. Über Generationen hin hatten sie aufgebaut und bewahrt, was sie besaßen. Heimisch geworden waren auch die dort eine neue Heimat gefunden hatten, manche auch nach Flucht und Vertreibung. Und die Kirche war die Mitte des Orts – eine Kirche, die schon immer dort stand; keiner konnte mehr genau sagen, wann sie errichtet worden war.

„Wir haben hier keine bleibende Stadt.“ Wirtschaftliche Erfordernisse haben sich durchgesetzt; das alte Horno musste dem Tagebau weichen. Die Lebenden mussten sich auf den Weg machen; und auch die Toten wurden umgebettet. Als Ortsteil von Forst erstand ein neues Horno. Viel Mühe wurde darauf verwandt. Und auch die Kirche machte sich auf den Weg. Vieles wurde bewahrt und wieder verwandt. Der Turm grüßt wieder in seiner vertrauten Form. Die alten Emporentafeln mit den biblischen Worten der Verheißung und Mahnung wurden auch hier wieder an den Emporen angebracht. „Wie lieblich sind dein Wohnungen, Herr Zebaoth – so heißt es zu meiner Rechten, meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn.“ Und aus demselben Psalm 84 heißt es zu meiner Linken: „Ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser als sonst tausend. Ich will lieber die Tür hüten in meines Gottes Hause als wohnen in der Gottlosen Hütten. Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild; der Herr gibt Gnade und Ehre. Er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen. Herr Zebaoth, wohl dem Menschen, der sich auf dich verlässt!“ Und am Ende der Reihe zu meiner Rechten heißt es dann: „Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt.“

So ist es nicht dieses oder jenes Ausstattungsstück allein, es ist vor allem das Wort Gottes selbst, das mitgewandert ist von der alten Hornoer Kirche in dieses neu errichtete Gotteshaus. Wie am alten Ort so kann auch hier Gottes Wort uns aufrichten, uns Orientierung geben, uns den Weg zeigen, auf dem wir gehen können.

II.

Aber der Blick richtet sich nicht nur rückwärts, er richtet sich auch nach vorn. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ So heißt es im Hebräerbrief. Diese zukünftige Stadt, das verheißene Jerusalem bestimmt den Eindruck dieser Kirche. Die künstlerische Gestaltung des Altarraums durch den Glaskünstler Helge Warme ist ganz und gar von diesem Gedanken bestimmt. Der Altar ist hineingenommen in das warme Licht der Gottesherrschaft. In diesem Gotteshaus kann man die Nähe Gottes spüren, von dem es in der Offenbarung des Johannes heißt: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß: Siehe, ich mache alles neu.“

Nicht als Vertröstung ist das gesagt, sondern als Verheißung. Nicht von einer anderen Welt wird hier gesprochen, sondern von unserer Welt. Eine Verheißung ist das, die in unserem irdischen Leben niemals voll eingelöst wird, die aber doch hineinleuchtet in unsere Zeit. Von einem Leben ist die Rede, das unser begrenztes, sterbliches Leben übersteigt, es aber doch jetzt schon verwandelt.

Diese Verbindung zwischen Zukunft und Gegenwart, zwischen der Verheißung und ihrer Vorwegnahme, zwischen dem himmlischen Jerusalem, in dem nur noch Licht sein wird, und unseren Dörfern und Städten, in denen Licht und Schatten sich mischen – diese Verbindung ist in der erneuerten Hornoer Kirche Gestalt geworden. Das weckt Mut zur Zukunft. Es öffnet den Horizont. Es stellt unser ganzes Leben in ein neues Licht: das Licht der Hoffnung.

Aus dem Osten kommt dieses Licht. Im irdischen Jerusalem nimmt es seinen Anfang, draußen vor dem Tor, wie es im Hebräerbrief heißt. Das Licht trägt einen Namen: Jesus von Nazareth, in Bethlehem geboren, auf Golgatha vor den Toren Jerusalems ans Kreuz geschlagen. Auf ihn kommt es an, das Kind in der Krippe, den Geschundenen am Kreuz. Er verbindet das irdische und das himmlische Jerusalem. Er steht dafür ein, dass das Licht der Hoffnung jetzt leuchtet. Um seinetwillen gibt es einen Zusammenhang zwischen der verheißenen Stadt, in der es immer licht ist, und unseren Dörfern und Städten, in denen Licht und Dunkel wechseln. Er, dieser Jesus von Nazareth, ist das Maß aller Dinge nicht nur in der zukünftigen, sondern auch schon in jeder jetzigen Stadt, in jedem heutigen Dorf.

Von ihm selbst galt ganz besonders, dass er keine bleibende Stadt hatte. Nicht einmal eine Notunterkunft hatte man in Bethlehem für ihn; in einem Stall kam er zur Welt, an einem Ort also, an dem kein Mensch bleiben kann. Denn in einen Stall gehen Menschen nur, weil die Arbeit sie dorthin ruft, die Fürsorge für das Vieh, das Füttern, Melken und Reinigen. Aber im Stall kann keiner bleiben. Doch dorthin in den Stall werden sie nun gerufen. Denn dort ist der Heiland geboren. Dort eilen sie hin: die Hirten zuerst und später die Könige, die Ärmsten zuerst und dann erst die Mächtigen. Dort finden sie den, der hier keine bleibende Stadt hat und gerade dadurch zum Boten der zukünftigen Stadt wird. Wer sich an ihn hält, braucht diese zukünftige Stadt nicht erst zu suchen. Er kennt schon den, der auch in ihr die Herrschaft hat: den, der in aller Demut Einzug hält: Auf einem Esel flieht er vor dem Zugriff des Herodes, auf einem Esel hält er Einzug in Jerusalem. Um den handelt es sich, der in Person zur „Hütte Gottes bei den Menschen“ wird. Denn an ihre Tische bringt er die Gemeinschaft mit Gott für die, die sich von Gott getrennt hatten. Den Sündern spricht er Gottes Gnade zu. Den Gelähmten und Gebeugten sagt er, dass ihr Glaube ihnen hilft. Schon jetzt wischt er vielen die Tränen ab. Und schließlich nimmt er selbst Leid, Geschrei und Schmerz, ja den Tod auf sich, draußen vor dem Tor. Von ihm, der sein eigenes Leben einsetzt, uns Menschen zu Gute, heißt es, er sei das Lamm. Und auch im künftigen Jerusalem, das unter seiner Herrschaft steht, so sagt es die Offenbarung des Johannes, bleibt er das Lamm. Und deshalb entfaltet er auch jetzt schon, in all seiner Demut und Ohnmacht, unter uns Macht, stellt uns unter seinen Einfluss. Ohne Zwang ist dieser Einfluss, so zart aber bestimmt wie das Licht, das durch diese Gläser flutet. Es ist gerade diese Freiheit von allem Zwang, die uns in ihren Bann zieht und unser Leben erneuert. Es wird zu einem Leben, das von der Hoffnung bestimmt ist, im Glauben gründet und sich in der Liebe bewährt.

III.

Denn das Licht dieses Lammes will in all die Dunkelheiten des heutigen Tages eindringen und sie verwandeln. Es findet sich nicht ab mit den unversöhnten Verhältnissen in unseren Herzen. Es belässt es nicht bei der aufgestauten Enttäuschung, die wir vielleicht noch in diese Kirche mitgebracht haben, sondern zeigt uns einen Weg der Versöhnung und des Neubeginns. Wo wir auch immer Verantwortung tragen, in Stadt und Land, in Wirtschaft oder Medien, in Gesellschaft und Kirche: wir werden danach gefragt, wie wir es mit dem Maß des Menschlichen halten, das Jesus uns vorgibt: das Kind in der Krippe, der Geschundene am Kreuz. Wir werden gefragt, ob wir nur die eigene Unverletzlichkeit zur Schau stellen oder ob wir uns selbst verletzlich machen: empfindsam für das Leiden und Suchen anderer, interessiert an ihrem Geschick, darauf aus, dass sie ihre Würde bewahren und dass Glanz in ihr Leben zurückkehrt.

Dieser Jesus ist der Bote Gottes, ein Bürge für eine gute Zukunft. Er richtet uns auf; und er hilft uns so zur Aufrichtigkeit: Menschen, die durch ihn aufgerichtet werden, gehen aufrichtig mit der Vergangenheit um. Was an ihr schmerzlich war und bleibt, wird nicht verdrängt. Aber es behält nicht das letzte Wort. Denn Menschen, die Jesus aufrichtet, können sich der Zukunft zuwenden, offenen Blicks – so wie uns der Blick geöffnet wird durch diesen Kirchenraum. Dieser besondere Tag gibt uns allen Mut: „Nun aufwärts froh den Blick gewandt und vorwärts fest den Schritt! Wir gehen an unsers Meisters Hand, und unser Herr geht mit.“ Diese Zuversicht kann uns niemand rauben.

In abgelegenen afrikanischen Dörfern, so wird berichtet, kann man Menschen finden, die ihre Zeit nicht zählen. Von ihnen kennt niemand das Datum seiner Geburt. Kinder, Junge und Alte leben im wiederkehrenden Rhythmus der Tage und Nächte, im Gleichmaß der Märkte, die alle vier Tage stattfinden, im Wechsel von Regen und Trockenheit, von Saat und Ernte. Aber sie wissen nicht, wie oft sie diesen Rhythmus schon durchlebt haben. Ohne Anfang und Ende verschmelzen Vergangenheit und Zukunft ineinander. In ihrer Sprache verwenden sie für Gestern und Morgen dasselbe Wort.

Wir sollten nicht denken, sie seien der Ewigkeit näher. Denn die Ewigkeit Gottes ist nicht immer gleich, sondern sie ist neu. In ihr herrscht nicht der gleich bleibende Wechsel von Tag und Nacht, von Leben und Tod. In ihr herrschen Licht und Leben. Es ist das Neue an Gottes Ewigkeit, das uns anzieht. Daraus wächst unser Mut zur Zukunft. Daraus entsteht die Kraft, miteinander neu anzufangen. Diese Kraft schenke euch allen der gnädige Gott, um Jesu willen. Amen.