Predigt im Neujahrsgottesdienst im Berliner Dom (Markus; Kap. 13, Vers 31)

Wolfgang Huber

„Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen“
(Jahreslosung für das Jahr 2004 aus dem Evangelium nach Markus, Kap. 13, Vers 31)

I.
Manchmal gewinnt man den Eindruck, bei der Auswahl der Jahreslosungen herrsche eine höhere Regie. Schon vor Jahren wurde dieses biblische Wort ausgewählt; nun soll es uns durch das Jahr 2004 begleiten. Damals konnte niemand ahnen, dass der Übergang in dieses Jahr von Bildern geprägt ist, in denen für viele Menschen wirklich die Erde unter den Füßen wankt und der Himmel einzustürzen droht. Wir alle haben das Erdbeben im Süden des Irak vor Augen. Das Leid der Hunderttausende, die am frühen Morgen des Zweiten Weihnachtstags von der Erschütterung der Erde überrascht wurden, steht übermächtig vor uns. Der Tod von Zehntausenden, das weithin vergebliche Suchen nach Überlebenden, die Klagen der Hinterbliebenen, die Schreie der Verletzten: all das tönt in diesem Jahr lauter als die Feuerwerkskörper, die in die vergangene Nacht hineingeschossen wurden. Viele haben das auch so empfunden und sind meinem Appell gefolgt, in diesem Jahr nicht Feuerwerkskörper in die Luft zu jagen sondern Hilfe in den Iran zu schicken. Natürlich würde ich mir wünschen, dass noch mehr von den Millionen Euros, die in der vergangenen Nacht in wenigen Minuten verpulvert wurden, der Katastrophenhilfe im Iran zu Gute kommen könnten. Denn an diesem ersten Tag im neuen Jahr gelten unsere Gedanken den Menschen, die in den letzten Tagen in solches Leid gestürzt wurden, mehr als unseren Silvestererlebnissen.

II.

Naturereignisse wie dieses Erdbeben erinnern uns daran, dass menschliche Vorsorge niemals eine absolute Sicherheit zustande bringt. Die Grundfesten der Erde können sich so gegeneinander verschieben, dass die Trutzburgen unserer Sicherheit wie Kartenhäuser zusammenstürzen.

Dabei neigen wir dazu, den Himmel schon einstürzen und die Erde schon wanken zu sehen, wenn weit Harmloseres geschieht als ein lebensbedrohliches Erdbeben. Allzu schnell sind unsere Erwartungen auf Katastrophentöne gestimmt. Alles wird schlechter, vor der Zukunft kann man sich nur fürchten. Die politische Einigung im letzten Augenblick vor Weihnachten, die den Namen der Reform kaum verdient und deshalb auch schnell zum bloßen Zwischenschritt erklärt wurde, ändert daran nichts. Die Zukunft gilt als furchterregend, für die Jungen genauso wie für die Alten. Veränderungen werden diskutiert, bis zum letzten Tag des alten Jahres, die nicht von der Hoffnung diktiert sind, sondern von der Furcht. Politische Schritte werden erwogen, die die Dinge nicht zum Besseren wenden, sondern das Schlechtere abwenden sollen.

Im Grunde ist dies eine erwartungslose Erwartung. Sie prägt gerade in Deutschland das Verhältnis zur Zukunft. Aber wir sollten nicht vergessen: Von Weihnachten her gehen wir auf das neue Jahr zu. Die Weihnachtsbotschaft will uns dazu helfen, dass wir anspruchsvolle Erwartungen haben. Sie verpflichten uns auf eine Zukunft, vor der weder Junge noch Alte sich fürchten müssen. Weder ängstliches Zurückzucken noch Katastrophenstimmung, sondern Zuversicht bestimmt diese Haltung zur Zukunft. Für sie lohnt sich der Einsatz, auch im neuen Jahr. Ich hoffe in diesem Jahr 2004 auf Reformen, die den Namen wirklich verdienen – Reformen, mit deren Hilfe Junge wie Alte sich nicht vor der Zukunft fürchten, sondern sich darauf freuen, sie mit zugestalten. Und so auch Sie und ich.

Gewiss wird dabei von uns allen etwas gefordert, was wir seit rund fünfzig Jahren nicht mehr lernen mussten. Wir müssen einen kleiner werdenden Kuchen fair verteilen; wir sollen zugunsten späterer Generationen kürzer treten; wir haben soziale Errungenschaften einzuschränken, wenn wir sie erhalten wollen. Veränderungen stehen an, die bei manchen wirkliche Existenzangst auslösen können – wenn sie fürchten, dass ihre Alterssicherung nicht reicht oder dass Arbeitslosigkeit sie zu Sozialhilfeempfängern macht. Da kann es zu unvertretbaren sozialen Gegensätzen kommen, wenn wir nicht bewusst gegensteuern – mit Fairness und Solidarität. Doch trotzdem sollten wir nicht behaupten, dass bei uns gleich Himmel und Erde ins Wanken geraten. Denn wie das ist, mussten gerade andere erleben, nicht wir.

III.

Im Neuen Testament aber ist bei dem „Vergehen von Himmel und Erde“ noch etwas anderes im Blick; es geht um die sichtbare Ankunft Gottes in der Welt, die Himmel und Erde vergehen lässt. Es geht um die für alle sichtbar aufgerichtete Gottesherrschaft, in der Gott sich mitten im Diesseits endgültig durchsetzt. Für Jesus und seine Jünger wie für die ersten Christen war es bis dahin nur noch eine kurze Zeit. So wie sie sich dieses unmittelbar bevorstehende Ereignis vorstellten, ist es nicht gekommen. Doch die Mahnung, sich an das zu halten, was bleibt, verliert dadurch nichts von ihrer Kraft. Denn im Kern wollen Jesu Worte nicht Angst vor der Zukunft wecken oder Schrecken verbreiten, sondern Vertrauen stiften. Nicht die Drohung steht im Mittelpunkt, sondern die unbedingte Verlässlichkeit seines Worts.

Denn Jesu wichtigste Botschaft lässt sich so beschreiben: Barmherzigkeit hält länger als Furcht, Güte trägt weiter als Drohung, Gnade ist stabiler als Anklage. Diese Grundaussage hat er nicht nur gepredigt, sondern mit seinem Leben bezeugt. Diese Wahrheit schlägt die Brücke von der Krippe ans Kreuz. Sein Leben bezeugt die Verlässlichkeit seines Worts. Auch heute, auch für das Jahr 2004 bewährt sich dieses Gewissheit: Barmherzigkeit hält länger als Furcht, Güte trägt weiter als Drohung, Gnade ist stabiler als Anklage.

Wir haben Grund, an dieser Gewissheit festzuhalten. Denn wohl geraten wir manchmal in Situationen, in denen uns der Himmel entschwindet und der Boden unter unseren Füssen wankt. Aber gerade dann muss eine tragende Gewissheit das letzte Wort behalten - auch gegen den Augenschein. Unser Leben bleibt von Gott gehalten - auch wenn es Erfahrungen gibt, die dem entgegenstehen. Gottes Wort bringt die Freude erst richtig zum Leuchten, aber es trägt auch durch allen Kummer hindurch - auch gegen unsere momentane Skepsis. Denn Kummer und Angst verdienen Widerrede in unserer Seele, sie sollen nicht das Feld unserer Seele beherrschen dürfen. Denn ohne eine solche Widerrede, ohne den Einspruch des Glaubens hätten die dunklen Erfahrungen ein leichtes Spiel mit uns. Unsere Seele würde dann ein Spielball der Enttäuschungen.

IV.

Barmherzigkeit hält länger als Furcht, Güte trägt weiter als Drohung, Gnade ist stabiler als Anklage. Wenn diese Gewissheit unsere Herzen erreicht, dann wird sie auch unser Verhältnis zu unserer Lebenszeit verändern. Wir treten in ein neues Jahr ein. Werden wir es wirklich mit dem ungläubigen Kleinmut betrachten, der in diesen Tagen an so vielen Stellen zu beobachten ist? Werden wir kapitulieren vor den Sorgen unserer Zeit?

Vor einigen Wochen wurde mir die Fotografie einer Turmuhr geschickt. Fremd mutete mich das Ziffernblatt an, zweimal musste ich hinschauen, um das Besondere an ihm zu erkennen. Die zwölf Stunden waren nicht durch Ziffern angegeben. Weder mit römischen noch mit arabischen Ziffern wurden die Stunden auf diesem Ziffernblatt gezeigt. Stattdessen fand ich dort zwölf Buchstaben. Diese zwölf Buchstaben fügten sich zu einem kurzen Satz: „Zeit ist Gnade“, so war da zu lesen. Mir wurde diese Uhr zu einem Sinnbild. „Zeit ist Gnade“: Wenn wir jede Stunde des vor uns liegenden Jahres, jede Stunde unseres Lebens so annehmen, dann verändert sich viel. „Zeit ist Gnade“: Wenn dies die Botschaft jedes Stundenschlages ist, dann hat tatsächlich eine neue Stunde geschlagen. Weil wir unsere Zeit so verstehen dürfen, tragen unsere Kirchtürme Uhren und zeigen so die Zeit der Gnade an.

Die Schrecken unserer Zeit werden dadurch nicht einfach ausgelöscht. Den gnädigen Gott dürfen wir uns nicht als einen allmächtigen Chirurgen denken, der aus dem Weltgeschehen alle Bosheit und alles Unglück im vorhinein herausschneidet. Nein, nicht von oben her beherrscht er das Geschehen, sondern er schaut darauf von unten, mit den Augen des Kindes in der Krippe, mit den Augen der Liebe. Diese Augen geben uns die Gewissheit: Barmherzigkeit hält länger als Furcht, Güte trägt weiter als Drohung, Gnade ist stabiler als Anklage.

Wenn wir uns den Blick dieser Augen zu Eigen machen, wissen wir, worauf wir zu achten haben, auch in diesem neuen Jahr. Das Leiden unter dem Erdbeben im Iran werden wir anschauen mit den Augen der Barmherzigkeit und auf die uns gegebenen Möglichkeiten zur Hilfe sinnen. Die Verunsicherung durch anstehende Einschnitte in unsere Sozialsysteme werden wir anschauen mit den Augen der Güte und darauf drängen, dass die Lasten gerecht verteilt werden. An den Auseinandersetzungen um den richtigen Weg unserer Gesellschaft werden wir uns beteiligen, aber so, dass wir auch dem gerecht werden, der eine andere Meinung vertritt als wir selbst. Denn wenn wir nur auf der Suche nach Sündenböcken sind, finden wir den richtigen Weg nicht.

„Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen.“ Gerade dort wird diese Zusage ihre Wahrheit zeigen, wo sich für uns der Himmel verdunkelt und die Erde ins Wanken gerät. In den Schönheiten wie in den Schwierigkeiten dieses Jahres wird sich die Zeitansage bewähren: Zeit ist Gnade. Und deshalb: Ein gnädiges Jahr des Herrn 2004! Amen.