Predigt im Gottesdienst zum Jubiläum der tausendjährigen Spreewalddörfer in der Kirche zu Krausnick

Wolfgang Huber

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen

I.
Heute ist Palmsonntag. Das Evangelium für den Palmsonntag erzählt, dass Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem als König begrüßt wurde. Die Menschen zogen dem auf einem Esel sitzenden Friedefürsten mit Palmenzweigen entgegen und legten sie ihm zu Füßen.

Jesu Einzug in die Hauptstadt Jerusalem vollzog sich nicht als Inszenierung von Macht und Stärke. Die Evangelien schildern den Königsweg Jesu Christi als Weg der Sanftmut und der Liebe.

Der Palmsonntag vergegenwärtigt uns, von wem wir Rettung und Hilfe erwarten dürfen. Nach alter Tradition werden die Palmenwedel des Palmsonntags verbrannt. Die zurückbleibende Asche wird aufbewahrt für den Gottesdienst zum Aschermittwoch des nächsten Jahres. Mit der Asche des Palmsonntags wird dann wieder ein Kreuz auf die Stirn gezeichnet. Eine Erinnerung daran, wo der Weg der Sanftmütigkeit endete. Ein Hinweis auf unsere Vergänglichkeit: Gedenke, o Mensch, du bist Staub, und zum Staube kehrst du zurück.

An diesem Palmsonntag 2004 beginnen wir die Feierlichkeiten zur Tausendjahrfeier der Spreewalddörfer Gröditsch, Krausnick, Leibchel, Leibsch, Pretschen und Schlepzig. Die gewaltige Zeitspanne eines ganzen Jahrtausends tritt uns vor Augen. Wir staunen dankbar über dreiunddreißig Generationen, die in diesen Dörfern gelebt haben, geboren wurden und starben, Freude und Leid miteinander teilten und sich zu dem dreieinigen Gott bekannten, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. In der Erinnerung an diese dreiunddreißig Generationen, im dankbaren Rückblick auf tausend Jahre beugen wir uns vor der Ewigkeit dessen, vor dem tausend Jahre sind wie ein Tag. Wir hören auf den Predigttext für unseren Festgottesdienst aus dem 90. Psalm:

Herr, du bist unsere Zuflucht für und für.
Ehe denn die Berge wurden
Und die Erde und die Welt geschaffen wurden,
bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Der du die Menschen lässest sterben
Und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!
Denn tausend Jahre sind vor dir
Wie der Tag, der gestern vergangen ist,
und wie eine Nachtwache.

II.
Nicht nur vor tausend Jahren, sondern vor Anbeginn der Welt war Gott schon da, von Ewigkeit zu Ewigkeit. In diesen Horizont rückt mit diesem Gottesdienst das Jubiläum, das wir heute eröffnen. Sechs Spreewalddörfer, Gröditsch, Krausnick, Leibchel, Leibsch, Petschen und Schlepzig, feiern das tausendjährige Jubiläum ihrer ersten urkundlichen Erwähnung. Am 8. August des Jahres 1004 wurde die neu erbaute Kirche  des Benediktinerklosters Nienburg in Gegenwart von König Heinrich II. feierlich geweiht.

Im Namen der heiligen und unteilbaren Dreifaltigkeit übereignete König Heinrich, durch göttliche Gnade begünstigt, dem Kloster Nienburg die sechs Spreewalddörfer. Sie gingen in den Besitz der Benediktinerabtei über. Ich zitiere aus der Urkunde: zusammen mit allem rechtlichen Zubehör und allen Nutzungen, mit beweglichem und unbeweglichem Gut, mit Hofstellen, Gebäuden, Knechten und Mägden, bebauten und unbebauten Flächen, mit Wiesen, Weiden und Gemeinweiden, Wäldern, Jagden, Seen, Wasserläufen, Fischfängen, Mühlen, Wegen und Unwegen, erhobenen und noch zu fordernden Abgaben und Lasten und mit allem Übrigen, was irgendwie rechtmäßig als Nutzung oder Zubehör bezeichnet werden kann. Und weiter heißt es: damit die Kraft dieser unserer Schenkung beständig und unverletzt bleibe, haben wir, diese dort geschriebene Urkunde unserer Anordnung mit eigener Hand vollziehend, befohlen, dass sie durch Eindrücken unseres Siegels gekennzeichnet werde mit dem Zeichen des Herrn Heinrich, des unbesiegbaren Königs.

So schnell konnte es gehen, dass ganze Dörfer mit allen Bewohnern über Nacht den Besitzer wechselten. Der siegreiche König Heinrich II. befand sich damals in Vorbereitung eines Feldzuges ins Slawenland. Ihm erschien es vermutlich angeraten, ein gottgefälliges Werk wie die Schenkung an das Kloster zu vollziehen. Schließlich war es nicht sicher, ob er den Feldzug gegen die Slawen überleben würde. Der König wollte sich vielleicht durch sein großzügiges Geschenk den göttlichen Beistand sichern. Die Rechnung schien aufzugehen. Er überlebte den Feldzug und im Jahre 1014 krönte ihn in Rom Papst Benedikt VIII. zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches.

Doch lenken wir unsere Aufmerksamkeit zurück in die Region: Über das Leben der Menschen in den sechs Spreewalddörfern kann man nur Vermutungen anstellen.

Aus den Chroniken erfahren wir, dass die für die Ewigkeit gebaute und im Jahre 1004 geweihte Klosterkirche bereits im Jahre 1050 abbrannte.  Der siegreiche König und Kaiser Heinrich II. war zu dieser Zeit bereits lange verstorben.

Herr, du bist unsere Zuflucht für und für.
Ehe denn die Berge wurden
Und die Erde und die Welt geschaffen wurden,
bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Der du die Menschen lässest sterben
Und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!
Tausend Jahre sind vor dir
wie der Tag, der gestern vergangen ist,
und wie eine Nachtwache.

III.
Heute, tausend Jahre später, haben wir uns in der Krausnicker Kirche versammelt, um fröhlich und dankbar vor Gott inne zu halten. Die sechs urkundlich erwähnten Dörfer gibt es auch heute noch. Und glücklicher Weise ist nicht zu befürchten, dass etwa der Ratspräsident der Europäischen Union, der Bundeskanzler, der Ministerpräsident oder die Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur auf die Idee kämen, ihre Ortschaften samt Familien, Autos und Grundstücken an wen auch immer zu verschenken. Aber erlebt haben auch wir, dass tausend Jahre, die Menschen zu machen meinen, mit Gottes Ewigkeit verwechselt werden. Auf ganz neue Weise haben wir erfahren, was geschieht, wenn tausend Jahre nicht als eine Zeitspanne erscheinen, vor der wir staunend stehen, sondern zum Projekt menschlicher Herrschaftsansprüche werden.

Tausend Jahre sind vor dir
wie der Tag, der gestern vergangen ist,
und wie eine Nachtwache.

Die Älteren von uns haben das vermessene Projekt eines tausendjährigen Reichs noch im Sinn. Manche unter uns haben selbst erlebt, wie dieses so genannte tausendjährige Reich im Frühjahr 1945 nach nur zwölf Jahren am Ende war. Trümmer, unauslotbare Verzweiflung und unendliches Leid blieben zurück. Von tausend Jahren sprach nun niemand mehr. Es ging um die nächste Mahlzeit, das Brennholz für den Ofen und um ein dringend fehlendes Medikament.

Bald freilich wurde an der Verwirklichung einer neuen und ganz anderen „Gesellschaftsformation“ gearbeitet. Die DDR wurde, wie es hieß, auf „wissenschaftlicher Grundlage“ errichtet. Die Prognose über die Dauer fiel zurückhaltend aus. Auf tausend Jahre wollte sich niemand festlegen. Aber die Abfolge der geschichtlichen Entwicklungsstufen wurde zu einer gesetzmäßigen und unabänderlichen erklärt. Aus der klassenlosen Urgesellschaft, in der alle das Gleiche gehabt hatten, sei durch eine Art Ursünde das Privateigentum entstanden. Und nun endlich sollte diese Ursünde wieder überwunden und die klassenlose Gesellschaft wieder hergestellt werden. Wenn nun die Führungskräfte des Neuen einzogen, dann rief das jubelnde Volk, das an den Straßen das Spalier bilden durfte, spontan „7,8,9,10, Klasse“ oder spendete „lang anhaltenden stürmischen Beifall“. So berichtete jedenfalls das Neue Deutschland. Es war erwünscht, die Häuser mit den einschlägigen Fahnen zu schmücken. In den ersten Jahren wurden Stalinbilder als Ikonen mitgeführt, Stalinstraßen entstanden. Selbst eine Stadt erhielt den Namen Stalinstadt.

Heute sind die Uniformmützen der Rotarmisten und die der NVA-Angehörigen nur noch als Souvenirs in Gebrauch. Bald werden sie wohl in Berlin restlos an Touristen verkauft sein – es sei denn, man produziert neue. Und die in den ehemaligen Bezirkshauptstädten der DDR gebauten Aufmarschstraßen werden nach und nach auf ein menschliches Maß zurückgebaut. Doch was machen wir aus der neuen Freiheit? Folgt auf das tausendjährige Reich und die klassenlose Gesellschaft das Diktat eines weltweit agierenden Finanzkapitals?

Herr, du bist unsere Zuflucht für und für.
Ehe denn die Berge wurden
Und die Erde und die Welt geschaffen wurden,
bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Der du die Menschen lässest sterben
Und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!
Denn tausend Jahre sind vor dir
Wie der Tag, der gestern vergangen ist,
und wie eine Nachtwache.

IV.
Es gibt gute Gründe, uns an unsere Vergänglichkeit zu erinnern. Aber das löscht den Wert der Zeit nicht aus, die uns anvertraut ist. Heute steht sie uns vor Augen: Tausend Jahre gewährte Zeit, trotz aller menschlichen Anmaßung, trotz aller Verblendung der Macht. Gewährte Zeit ist ein großes Geschenk, im Leben der einzelnen, in der Gemeinschaft von Menschen, die einander anvertraut sind, wie im gemeinsamen Leben eines Dorfes. Wir verstehen dieses Geschenk erst, wenn wir es hineinstellen in Gottes Ewigkeit. Dass Gott Gott ist, dass seine Herrschaft gilt, dass er bei uns einzieht wie Jesus in Jerusalem, darauf kommt es an.

Aber wir feiern dieses Jubiläum in einer Zeit, in der viele verlernt haben, von Gott zu reden und an Gott zu glauben. Gottvergessenheit hat sich ausgebreitet – sogar bis in den Spreewald hinein. Nicht nur in einer von Menschen gemachten Krise leben wir heute, sondern in einer Gotteskrise. Sie besteht darin, dass vielen Menschen Gott abhanden gekommen ist. Wie sollen wir denn noch von Gott reden können, so fragen sie. Die Antwort ist einfach: Wir lernen von Gott zu reden, indem wir zu Gott reden: Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen. Das ist der Ton, in dem dieses Jubiläum gefeiert werden kann. Wenn wir Gott Gott sein lassen, können wir auch stolz sein auf das, was Menschen geleistet haben, dreiunddreißig Generationen in tausend Jahren. Von Menschen, die Gott danken, muss niemand befürchten, sie wollten ein neues tausendjähriges Reich errichten. Die nächsten tausend Jahre können wir Gott anvertrauen. Auch sie sind vor ihm wie ein Tag und wie die Nachtwache, die gerade vergangen ist. Das ist heilsam und befreiend. Wir feiern dieses Jubiläum nicht als einen Triumph der Macht, sondern der Liebe. Wir beginnen dieses Jubiläum am Palmsonntag, am ersten Tag der Karwoche. Jesus Christus ist für uns den Königsweg gegangen, den Weg der Sanftmut und der Liebe. An ihn können wir uns halten, an ihm wollen wir uns ausrichten.

Heerzüge der Stärke und Macht kommen und gehen. Sein Königsweg bleibt, der Königsweg der Sanftmut und der Liebe.

V.
Möge Gott uns befreien von den Irrwegen,
auf die wir wie blind drängen,
zu selbst gemachten tausend Jahren,
die am Abgrund enden.
Möge Gott uns erlösen von der Verstrickung in Sachzwänge,
damit das Leben, das er schenkt,
auch weiter bleibt in diesen Spreewalddörfern,
eines wie das andere ein Kleinod vor Gottes Augen.
Und für uns lasse Gott neu wachsen den Baum des Glaubens,
wurzelnd in ihm entfalte sich seine Krone:
Sein Reich, unsere Freiheit,
Seine Kraft, ohne Gewalttat,
Seine Herrlichkeit, an deren Glanz wir teilhaben
im Gelingen wie an den Grenzen unseres Lebens.
Ja, Gott geleite uns in Zeit und Ewigkeit.
Amen.