Predigt im Karfreitagsgottesdienst in St. Marien zu Berlin (2. Korinther 5, 19-21)

Wolfgang Huber

„Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.“ (2. Korinther 5, 19-21)

1.

Das Kreuz – ein "zeitloser Klassiker, unabhängig von allen Anlässen und Moden". Mit dieser Werbung wurde mir ein Kreuz aus 750er Gold angeboten, inklusive zierlicher  40cm-Ankerkette.  Eine Lehrerin in Berlin würde es künftig noch tragen können, vorausgesetzt, sie ist keine Christin und verbindet mit dem Kreuz keinerlei persönliches Bekenntnis. Meiner Frau dagegen dürfte ich es nicht schenken. Sie würde es vielleicht in der Schule tragen; für sie aber wäre es verboten, wenn verwirklicht wird, was als Gesetz in Berlin angekündigt ist: ein Verbot für Kreuze wie für Kopftücher - jedenfalls bei denen, die damit einen Inhalt verbinden.

Das Kreuz – von Blut überströmt wie schon der Platz, auf dem Jesus gegeißelt wurde, oder die via dolorosa, auf der er sein Kreuz trug. Dieses Bild hat der Film von Mel Gibson denen eingeprägt, die sich der Flut von Gewaltszenen ausgesetzt haben, in denen dieser Film die „Passion Christi“ darstellt. Gewiss: Am Karfreitag war Jesus von Nazareth das Opfer einer schrecklichen Hinrichtung; die grausamste Art von Todesstrafe, die man in jener Zeit kannte, wurde an ihm vollzogen. Aber er teilte dieses Schicksal mit ungezählten anderen, die derselben Strafe ausgesetzt waren. Zwei starben so wie er, rechts und links von ihm: Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein. Ist das Blut, das dabei floss, das Besondere an Jesu Kreuzestod?

Das Kreuz – das Zeichen der Versöhnung. So deutet es der Apostel Paulus, der erste Theologe des Kreuzes: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“  So heißt das Wort vom Kreuz: kein Schmuckstück, keine Gewaltorgie, sondern das Wort von der Versöhnung.

2.

In lateinischer Sprache werden in dem Film von Mel Gibson die Schläge gezählt, die auf Jesu Rücken klatschen. Jede Zahl ein Schlag. Nie hatte ich bedacht, wie viele Zahlen zwischen 1 und 50 Platz haben. Duodequinquaginta, undequinquaginta, quinquaginta. Endlich wendet sich in Mel Gibsons Passionsfilm die Kamera von den unermüdlich prügelnden römischen Soldaten und von dem furchtbar misshandelten Jesus ab. Der Blick wendet sich seiner Mutter zu, Maria. Für einen kurzen Moment kann man in das abgründig kummervolle Gesicht einer Mutter sehen, die entsetzt um ihr Kind weinen muss. Man ahnt die Tiefe, die diesen Film eigentlich hätte bestimmen sollen statt aller lateinisch mitgezählten Schläge. Denn im Blick der Mutter sieht man beides, das Leiden an der unendlichen Zwietracht der Menschen und die Hoffnung auf Versöhnung.  Mit dem Blick auf die weinende Mutter schleichen sich Bilder eines ewigen Schlagens in die Phantasie ein: Man hört das monotone Zählen und sieht die Schläge Kains auf seinen Bruder Abel, man sieht die Schläge ungezählter Soldaten in ungezählten Schlachten, man sieht die Schläge gewalttätiger Männer auf missbrauchte Frauen, man sieht die harten Schläge auf wehrlose Kinder, man sieht die Anschläge auf hilflose Menschen und unbeteiligte  Alte. Jede laut mitgezählte lateinische Zahl ist ein neuer Abgrund, ein weiterer Tiefpunkt unsäglicher Quälerei, zu denen wir Menschen untereinander fähig sind. Aber mitten in solchen Erinnerungen erahnt man zugleich: Dieser eine Mensch steht für viel mehr als für einen Sklaventod vor fast zweitausend Jahren; diese eine Mutter weint um viel mehr als allein um diesen einen Sohn aus Nazareth. Da nimmt einer das Leiden der Welt auf sich und trägt es vor Gott – in der Hoffnung, dass Gott das Leiden in Versöhnung verwandelt. Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.

3.

Über die Passion Christi wird wieder geredet, nicht nur am Karfreitag. Uns in den Kirchen wurde in den letzten Wochen vorgehalten, in unserer vermeintlich lau gewordenen Frömmigkeit hätten wir eine derart abstrakte, sinnenleere, leidensferne Vorstellung vom Kreuzestod Jesu Christi entwickelt, dass Qual, Leid und Blut sich aufgelöst hätten und aufgestiegen seien in die Wohlklänge einer Matthäuspassion. Doch schon unsere Passionslieder sprechen eine andere Sprache: O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn, o Haupt, zum Spott gebunden mit einer Dornenkron, o Haupt, sonst schön gezieret mit höchster Ehr und Zier, jetzt aber hoch schimpfieret, gegrüßet seist du mir.


Wichtiger aber als solche Rechtfertigungen aus unserer Glaubenstradition ist es, dass wir heute darüber nachdenken und Auskunft geben, was eigentlich das besondere Leid dieses Menschen Jesus aus Nazareth war. Er erlitt den Sklaventod der damaligen Zeit, einen qualvollen und schrecklichen Tod. Er wurde gefoltert, wie es seinerzeit vielen widerfuhr und danach auch vielen Menschen bis zum heutigen Tag. Sein Sterben war qualvoll; aber diese Qualen selbst waren, Gott sei’s geklagt, gerade nicht einzigartig. Das Besondere dieses Sterbens liegt nicht in der Grausamkeit seines Todes, auch nicht in der Menge der ertragenen Schläge oder der durchgestandenen Quälerein. Jesus ist kein Held des Ertragens, kein Superman der Duldung, kein Schwarzenegger des Hinnehmens. Denn nicht auf das Äußerliche kommt es an, sondern dass Gott in Christus die Welt mit sich selber versöhnte und unter uns aufgerichtet hat das Wort von der Versöhnung, darauf kommt es an. Entscheidend und bis heute zu unserem Heil zu erinnern ist nicht die Menge, sondern die Art seines Leidens, das er stellvertretend für uns am Kreuz ertragen hat.

Jesus selbst hat gewiss am meisten darunter gelitten, dass er sich selbst von Gott verlassen fühlte am Kreuz. Sein Glaube an Gott wurde mit ihm gekreuzigt, geschlagen und gemartert, seine Hoffnung auf Gott wurde gedemütigt und aufgespießt, sein Vertrauen zu Gott wurde bespöttelt und verhöhnt. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Warum haben mich alle verlassen, meine Freunde, mein Glaube, mein Gott? Müssen wir nicht befürchten, dass Jesus seinen göttlichen Auftrag für gescheitert hielt, als er starb? Wieder und wieder wurde so gefragt.

Nicht wie ich will, sondern wie du willst – so hatte Jesus im Garten Gethsemane gebetet.

Der Karfreitag verlangt von uns, dass wir uns den Tod Jesu in dieser Tiefe zu eigen machen. Auch unsere eigene Hoffnung stellt er in Frage, auch unseren eigenen Glauben ficht er an. Nur über diesen Abgrund hinweg finden wir zum Wort von der Versöhnung, nur über diese Schlucht der Zweifel hinweg finden wir zu den Säulen des Sinnes in der Passionsgeschichte. Weil Jesus diesen Tod eines heillos angefochtenen Menschen gestorben ist, weil sein Glaube an Gott am Kreuz gekreuzigt wurde, weil seine Hoffnung auf Gott unerlöst am Kreuz hing, kann seine Auferstehung uns befreien aus aller Gottesferne.

Mit der Auferstehung wird dieser so elendig gestorbene Jesus aus Nazareth ins Licht gerufen und ins Recht gesetzt. Nur deshalb können und dürfen wir glauben: Einen solchen angefochtenen, verzweifelten, gottfernen Tod muss niemand mehr sterben; einen solchen unendlich einsamen Tod fern von Gott muss niemand mehr erleiden. Christus ist auch für mich gestorben, obwohl ich natürlich auch sterben muss wie jeder Mensch und möglicherweise auch - was Gott verhüten möge - durch schwere Schmerzen und Qualen hindurch. Aber niemals mehr muss ich diesen Weg alleine, ohne Glauben, ohne Hoffnung, ohne Gott antreten. Seit Christi Auferstehung können wir glauben, dass Gott stärker ist als der Tod und dass er selbst die scheinbar vollkommene Gottesfinsternis des Todes durchleuchtet. Mit dem Blick auf den Auferstandenen können wir glauben, dass Gott bei uns bleibt auch an dem Ort, der Gott am fernsten ist. Er geht mit uns; er begleitet uns auch dort, wo unser Leben vom Licht abgewandt ist. Kein Schatten ist zu dunkel für ihn. Eben so hat Gott den, der von keiner Sünde, keiner Gottesferne, keinem Gotteszweifel wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt (2. Kor, 5, 21).

4.

Seit diesem stellvertretenden Tod am Kreuz gibt es keinen denkbaren Ort im Leben und im Sterben, in den Gottes Trost nicht reichen könnte. Deswegen erzählen wir Christen von diesem Tod Jahr für Jahr, Passion für Passion, Karfreitag für Karfreitag. Deswegen hängen wir Kreuze und Kruzifixe in unseren Kirchen auf; deswegen können wir bis heute mit ganzem Herzen singen und sagen, dass weder Tod noch Leben, weder Engel, Fürstentümer oder Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes oder Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn (Römer 8, 38f.).

Das Wort von der Versöhnung leitet uns. Deshalb kann die Antwort auf die Grausamkeit, die Menschen einander antun, nicht lauten: mehr Grausamkeit. Sie muss lauten: Lasst euch versöhnen. Mit Jesus gehen wir in die Tiefen des Leidens, damit wir lernen, den Karfreitag als Anfang einer umstürzenden Befreiung mitten in unserer Welt wahrzunehmen. Wir missverstehen das Wort vom Kreuz, wenn wir den grausamen Tod Jesu nur als eine Bestätigung für die Unveränderlichkeit der Welt, und für die Unabänderlichkeit der Gewalt in ihr ansehen. Auch wenn neuerdings wieder die Schrecklichkeit des Leidens und Sterbens Jesu ganz in den Vordergrund gerückt wird, so ist dieser stellvertretende Tod doch mehr, nämlich eine Wende zum Leben, deren Tragweite bis heute noch nicht ausgeschöpft ist. Das Leiden und der Tod dieses Unschuldigen ist ein für allemal das Ende sinnloser Opfer und der Beginn der Versöhnung Gottes mit uns Menschen. Bilder, die sich nur auf das grausige Leiden Jesu konzentrieren, verkürzen das Geschehen und trennen das Leben Jesu von seinem Tod und die Kreuzigung von seiner Auferweckung. Darin liegt nichts anderes als eine weitere Steigerung medial vermittelter Gewalt. Sie löst Ohnmachtsgefühle aus; sie erschreckt und lähmt die Menschen, statt sie zur Versöhnung zu rufen und zu ihr bereit zu machen. Was wir aber brauchen, sind feine Sinne und starke Worte für Versöhnung und Gerechtigkeit. Wir lassen uns vom leidenden Jesus hineinnehmen in das Leiden von Menschen, deren Ohnmacht er sich zu eigen macht. Wir verstehen sein Leiden als Befreiung aus den Teufelskreisen menschlicher Schuld und als Ermutigung zur Versöhnung, für die auch kleine Schritte eine große Bedeutung haben können. Denn überall da, wo die Fähigkeit zu solchen Schritten abhanden gekommen ist – wie beispielsweise im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern – , werden Gnadenlosigkeit und Versöhnungsferne die engsten Verbündeten.

Die Botschaft vom Kreuz lässt nicht zu, dass wir uns von den schrecklichen Ereignissen der vergangenen Tage und Wochen in Spanien, im Nahen Osten und im Irak, in Afrika und auf dem Balkan kopfschüttelnd abwenden. Denn seit diesem stellvertretenden Tod am Kreuz gibt es keinen denkbaren Ort im Leben und im Sterben, in den Gottes Verheißung nicht reichen könnte. Deshalb können wir Schritte der Versöhnung gehen und kapitulieren nicht, wo Fundamentalismus zum Terror greift und ideologischer Starrsinn das Denken einengt. Gerade jetzt wollen wir den Gedemütigten beistehen, auf Versöhnung hoffen, die Chancen gewaltfreier Lösungen wahrnehmen und Vertrauen neu einüben. Denn unter uns ist aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. Mitten unter uns steht das Kreuz, das Zeichen der Versöhnung.

Amen