Predigt im Ostersonntagsgottesdienst im Berliner Dom und in St. Matthäus zu Berlin

Wolfgang Huber

1.

Ohne Ostern gäbe es die Christenheit nicht. Kein Mensch spräche mehr von Jesus, wäre da nicht der Ostermorgen gewesen. Auf die Botschaft von der Auferstehung kommt es an. Deshalb ist das Christentum die Religion der Hoffnung.

Leid und Tod, so sagt der Osterglaube, behalten nicht das letzte Wort. So wie Gott Jesus auferweckt hat, so wird er auch die Menschen auferwecken. Von den allerersten Anfängen der Christenheit an wurde dies weitergegeben. Das älteste Zeugnis für diesen Osterglauben finden wir beim Apostel Paulus:

Als erstes habe ich euch weitergegeben, so schreibt er nach Korinth, was ich auch empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen.

Ausdrücklich unterstreicht der Apostel, dass er hier nur weitergibt, was er empfangen hat. Er weiß: Allein kann niemand glauben. Wir alle stehen auf den Schultern derer, die vor uns glaubten. Sonst wären wir zu klein – und würden nichts sehen und verstehen. Wir fassen uns mit anderen an der Hand und sind mit ihnen zusammen unterwegs. Sonst wären  wir allein – und Furcht käme über uns. Es ist gut, dass wir einander beim Glauben helfen. Schon Paulus knüpft deshalb an das an, was er von anderen gehört hat. Aber ihm wurde diese Botschaft in einer sehr persönlichen Weise bestätigt; denn auch ihm selbst erschien der Auferstandene. Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden.  Diese Gewissheit galt auch ihm. Und deshalb sagt er dankbar und selbstbewusst:  Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.

2.

Auf den dritten Tag wird dieses gewaltige Geschehen datiert, ganz genau zwei Tage nach dem Karfreitag. Warum, so will ich heute fragen, ist Christus erst am dritten Tage auferstanden, warum nicht gleich, warum nicht früher oder später? Was hat er denn gemacht seit diesem schrecklichen Karfreitag? Lag er still im Grabe? War er - im wahrsten Sinne des Wortes -  kaltgestellt, mund- und mausetot gemacht? Oder waren diese zwei Tage und zwei Nächte anders ausgefüllt, unsichtbar vielleicht, in der Tiefe, aber so ausgefüllt, dass er nicht eher zurückkehren konnte ins Leben? Was hat Christus gemacht zwischen den Zeiten?

Eine der tiefsten und gehaltvollsten Antworten auf diese Frage stammt aus unserem Glaubensbekenntnis, in dem es heißt: gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes. Im Reich des Todes hat er die Zwischenzeit zugebracht. Christus hat nach seinem Tode gerungen, gekämpft, gestritten und gesiegt – im Lande der Finsternis und der Toten. Er hat keineswegs brav still gelegen und den dritten Tag abgewartet, sondern er hat – so die Vorstellung der Väter und Mütter unseres Glaubens – Licht und Freiheit ins Reich der Toten gebracht.

Das ist in meinen Augen eine großartige österliche Vision, allein dafür kann man stolz sein auf unseren christlichen Glauben. Denn Christus hat auch die Toten nicht vergessen, auch die dunklen Seiten des Lebens, die abgründigen Dimension der Finsternis hat er bedacht und aufgesucht. Das Licht seiner Auferstehung reicht nicht nur bis zu seinen Jüngern, die nach Galiläa geflohen waren; es reicht nicht nur für die Seinen, sondern leuchtet sogar den Verstorbenen, den Vergessenen, den Namenlosen im Schattenreich des Todes. Christus macht sich nach seinem Tod auf den Weg zu den Toten, er steigt hinab in die Tiefen, in die Vergangenheiten, in die verborgenen Seelenseiten der Herkunft, weil die Toten zuerst hören sollen vom neuen Leben. Die Gefangenen erreicht zuerst die Botschaft von der Freiheit, die Verstorbenen erfüllt zuerst das neue Leben. Christus verschließt die Hölle, nicht nur vorübergehend, sondern für immer und ewig, kein Gestern und kein Vorgestern, keine Tiefe, keine Untiefe wird von ihm vergessen. Das ist ein großes, weites, reiches Evangelium!

3.

In diesem umfassenden Sinn ist Ostern das Fest des Lebens, die klare Antwort Gottes auf unsere Angst vor Tod und Hölle. Auch für uns behält diese Botschaft ihre befreiende und überwältigende Kraft. Sie ist der Pulsschlag auch unseres Glaubens und der Grund einer Zukunftshoffnung, die an Tod und  Unversöhnlichkeit nicht zerbricht.

Keinen Grund also gibt es dazu, den christlichen Glauben klein zu reden, wie es auch in unseren Tagen immer wieder geschieht. Der neue SPIEGEL beispielsweise vermeldet: Noch heute bekennen sich zwei Milliarden Gläubige zur Botschaft des Evangeliums. Das klingt so, als würden es immer weniger. Richtiger würde es heißen: Noch nie in der Geschichte der Menschheit haben sich so viele Gläubige  in der ganzen Welt zur Botschaft der Evangelien bekannt. Zu Recht, wenn auch widerwillig hebt das Nachrichtenmagazin aus Hamburg das Besondere des christlichen Glaubens hervor: Auferweckung im Tod, Sieg in der Niederlage, Stärke durch Schwäche, das „Blut der Versöhnung“, die Rettung im Weltuntergang, vor allem aber: Gott als Mensch. Wer das erkennt, braucht sich nicht mehr auf die dreißig Jahre alte Frage Rudolf Augsteins, des früheren SPIEGEL-Herausgebers, zurückzuziehen: Können wir ohne Religion leben? und erst recht nicht auf seine Antwort: Wir werden es wohl müssen. Nein, wir müssen es nicht. Wer ohne Religion lebt, tut es aus freien Stücken, niemand zwingt ihn dazu. Und Rudolf Augstein selbst? Auch seine Angehörigen suchten kirchliches Geleit auf dem Weg zu seiner letzten Ruhestätte. Auch dort sollte die Botschaft von der Auferstehung laut werden.

Denn ihr Licht reicht, so weit wir denken können. Niemand ist davon ausgeschlossen. Wie weit wir uns die Strahlkraft dieses Lichtes auch immer denken, am Ende stehen sogar Teufel, Tod und Hölle nackt da. Sie haben keine Truppen mehr, niemand ist mehr da, den sie drangsalieren können. Seit Ostern gibt es drei zusätzliche Arbeitslose, die ausnahmsweise reine Freude machen. Christi Auferstehung, das Öffnen des Grabes von innen her, das wundersame Wegrollen des schweren Steines, das Erscheinen vor Kephas, danach vor den Zwölfen,  das alles gehört hinein in einen Erlösungsweg, den Christus in den Tiefen des Todes schon angetreten war. Ostern lässt nicht nur das Licht der Hoffnung in die Zukunft leuchten. Es eröffnet auch einen versöhnenden Blick in die Vergangenheit. Auch sie ist einbezogen in den Auferstehungsfrieden. Auferstehung findet nicht statt ohne die Verstorbenen, nicht ohne die Vergessenen, nicht ohne Herkunft und Vergangenheit. Beides wird neu, Zukunft und Vergangenheit. Das ist das Beste, was man hören kann.

4.

Denn, liebe Gemeinde, manchmal habe ich den Eindruck, es ist diese Versöhnung der Herkunft, diese Befriedung der Toten, diese Erleuchtung des Vergangenen, die uns heute am intensivsten fehlt. Nicht nur im Kleinen, wenn wir in den Familien, Ehen und Freundschaften immer wieder hervorholen, was wer wann wem angetan hat. Solches Aufrechnen ist schon bitter genug und macht vielen schwer zu schaffen. Aber noch viel schlimmer und schmerzhafter erkenne ich dieses Prinzip der Unversöhnlichkeit in all den Ländern und Gegenden, in denen sich Wunde an Wunde, Rache an Rache, Tote an Tote reihen. Ob nun im Kosovo, wo plötzlich wieder eine völkische Abrechnungsmentalität aufbricht, in Tschetschenien, im Irak oder in dem so tief friedlosen Heiligen Land: Immer wieder treten die Toten auf beiden Seiten auf, verlangen Strafe, fordern Revanche, erzwingen Rache. Und jeder neue Anschlag, seien es nun die wahnwitzigen Selbstmordanschläge junger Menschen auf andere junge Menschen oder die ebenso wahnsinnige, staatlich verordnete Ermordung von politisch missliebigen Führern, jeder Tod ist pures Öl auf die Feuer der Kompromisslosigkeit, jede Wunde ist Futter für die Unversöhnlichkeit, jede Wunde ist Nahrung für den morgigen Hass.

Wollen wir vor all dem nicht kapitulieren, dann brauchen wir einen Glauben, der nicht im Sichtbaren gefangen ist, der unabhängig bleibt von den täglichen Erfahrungen, der gegen allen Augenschein daran glaubt, dass Gott die ganze Welt in seinen Händen hält und Menschenherzen verändern kann. Das ist im Kern ein österlicher Glaube, eine verwegene Hoffnung auf Befriedung auch dort, wo Tod und Hölle und Grauen scheinbar Sieg an Sieg reihen.

Ostern weist einen Weg heraus aus dem Hinterhof der Hölle, weil Gott selber von sich aus den ewigen Kreislauf des Rechthabens durchbricht. Diese weltumspannende Befreiungstat Gottes verbietet kleinliches Abrechnen und engherziges Denken. Es ist nicht unsere Aufgabe, die Reichweite der Gnade Gottes zu beschränken. Muss jemand für immer im Dunkeln bleiben? Gott sei Dank müssen wir das nicht entscheiden, wir sind nicht Richter, sondern selbst hoffentlich Erhellte und Erleuchtete.  Das ist die österliche Freiheit der Kinder Gottes, die aus jenen drei Tagen zwischen Karfreitag und Ostern folgt: Die dankbare Gewissheit, dass der Auferstandene auch dort Licht und Leben zu schaffen vermag, wo wir außer zerstörten Leiber, schweren Steinen und dunklen Gräbern gar nichts anderes erkennen können. Daran wollen wir uns halten. Gott sei Dank und Halleluja!

Wenn heute die österliche Zeit der Freude in uns und um uns anbricht, wenn die ökumenische Christenheit in aller Welt in diesem Jahr zum gleichen Datum Ostern feiert, dann erreicht uns das Licht des Ostermorgens. Die Sorgen auf dem Weg zu diesem Osterfest werden nun zurechtgerückt. Persönliche Zukunftsängste, wirtschaftliche Sorgen, der Streit um die Reformfähigkeit unseres Landes, die Angst vor Terror und Krieg sind keine Gründe zur Verzagtheit. Wer dem Gott vertraut, der neues Leben schafft, kann auch sich selbst etwas zutrauen. Wer vom Licht des Ostermorgens herkommt, braucht nicht alles grau zu malen. Wer den Neubeginn dieses Tages wahrnimmt, kann gar nicht darauf beharren, dass alles so bleibt, wie es ist. Als Kirche treten wir deshalb dafür ein, dass die Zuversicht wieder an Boden gewinnt.

Ostern ermutigt dazu, mit dem Auferstandenen Erfahrungen zu machen und über sie zu sprechen. Heute bringen Menschen ihre Stimme ein – zum Beispiel in die Frage nach der Zukunftsgestalt unserer Gesellschaft, die eben nicht eine Gesellschaft ohne Religion, eine Gesellschaft ohne Gott sein soll. Es ist kein sinnvolles Vorhaben, Gott kurzerhand abschaffen zu wollen. Keine Stadt ohne Gott! In den verschiedenen Bereichen des Lebens, der Arbeit, der Politik ist er mitten unter uns! Denen, die sich mühen, steht er bei in ihrem Einsatz für verlässliche Menschlichkeit, für die Achtung vor der menschlichen Würde im Leben und auch im Sterben. Uns allen eröffnet dieser Tag Hoffnung – eine Hoffnung über diesen Tag hinaus. Der Herr ist auferstanden – er ist wahrhaftig auferstanden.

Amen.