Predigt im Ordinationsgottesdienst in der Erlöserkirche zu Potsdam (1.Petr.2, 21b-25)

Wolfgang Huber

Christus hat für euch gelitten und euch ein Beispiel gegeben, damit ihr seinen Spuren folgt. Er hat keine Sünde begangen, und in seinem Mund war kein trügerisches Wort. Er wurde geschmäht, schmähte aber nicht; er litt, drohte aber nicht, sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter. Er hat unsere Sünden mit seinem Leib auf das Holz des Kreuzes getragen, damit wir tot seien für die Sünden und für die Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr geheilt. Denn ihr hattet euch verirrt wie Schafe, jetzt aber seid ihr heimgekehrt zum Hirten und Bischof eurer Seelen.

(1.Petr.2, 21b-25)

1.
Daran, liebe Gemeinde, müssen die Menschen gedacht haben, die dieser Kirche den Namen Erlöserkirche gaben: an die Sehnsucht nach dem Erlöser, nach dem Hirten und Bischof unserer Seelen. Die Hoffnung auf den, durch dessen Wunden wir jetzt schon geheilt sind, hat den christlichen Glauben immer wieder bestimmt. Jede Erlöserkirche ist ein steinernes Monument dieser Hoffnung: der Hoffnung, dass unser Leben heil wird. Jede Erlöserkirche ist ein Ausdruck für diese Gewissheit: wir kennen den Hirten und Bischof unserer Seelen.

Es gibt manche derartige Kirchen. Mir geht am heutigen Tag die Erlöserkirche in Jerusalem nicht aus dem Sinn. Sie stammt aus derselben Zeit wie diese Kirche in Potsdam, aus der Zeit vor einem Jahrhundert, als Kaiser Wilhelm II. so viel eigenen Prunk entfalten wollte und doch zugleich durch seine Kirchenbauten darauf hinwies, wer allein der Erlöser ist, der Hirte und Bischof unserer Seelen: Jesus Christus, von dem der erste Petrusbrief sagt, dass er unsere Sünden mit seinem Leib auf das Holz des Kreuzes trug, damit wir tot seien für die Sünden und für die Gerechtigkeit leben.

Im Blick auf ihn, im Blick auf Christus begegnet uns heute, am Hirtensonntag, das uralte Bild vom Hirten und der Schafherde. Es galt und gilt als große Wohltat, wenn eine Schafherde unter der Obhut eines treuen Hirten steht. Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.

Nachts, in der Stunde der Gefahr, wenn die Wölfe in die Herde einzubrechen versuchen, ist er da. Er verteidigt seine Herde und lässt nicht zu, dass die Wölfe die Schwächsten aus der Herde reißen.

2.
Auch der frühen Christenheit ist das Bild von den Schafen und dem Hirten geläufig. So findet es sich auch im 1. Petrusbrief, einem Sendschreiben aus dem Ende des ersten christlichen Jahrhunderts. Die Empfänger dieses Briefes kennen wir nicht; eine ganze Region in Kleinasien wird als Adressat genannt. Und nicht einmal der Absender dieses Briefes ist uns bekannt. Denn mit dem Verfassernamen des Petrus wird nur die Autorität des Apostels in Anspruch genommen. Niedergeschrieben ist dieser Brief aber erst lange Zeit nach dem Märtyrertod des Petrus. Er will die Kraft wachrufen, die in der Überlieferung der Apostel verbürgt ist: die Kraft des Glaubens. Der Name des Petrus wird in Anspruch genommen, um die unmittelbare Verbindung mit den Zeitzeugen des irdischen Jesus zu halten. Die christliche Gemeinde der dritten Generation versteht sich in der Nachfolge der Apostel.

Dieser Brief spiegelt das Leben einer Christengemeinde in der Minderheit. Die kleinen Gemeinden hören im Gottesdienst von ihrer Berufung zum königlichen Priestertum und werden als heiliges Volk angesprochen. Im Alltag bekommen ihre Mitglieder deutlich zu spüren, dass ihr Verhalten als sperrig und fremd gilt. Teilweise werden sie schikaniert und diffamiert. Im Gottesdienst bekennen sie sich zu Christus und feiern die geschenkte Gemeinschaft. Im Alltag leiden sie als Sklaven unter der Willkür ihrer Herren, als Ehefrauen unter verständnislosen Männern und als Bürger unter einer zunehmend feindlich gesinnten Obrigkeit. Hoffnungslosigkeit und Trauer überkommen sie; sie fürchten sich vor den Übergriffen einer ungläubigen Umwelt. Die heidnische Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Glauben empfinden sie als aggressiv. Sie fragen sich, wie sie als Minderheit in einer glaubensfernen Gesellschaft bestehen sollen.

Die Antwort ist eindeutig: Bleibt eurem Glauben treu. Wenn ihr deshalb Spott auf euch zieht, dann ehrt euch das. Denn wenn ihr um guter Taten willen leidet und es ertragt, das ist Gnade bei Gott. Für diese Glaubensgewissheit wird Christus in Anspruch genommen, der geschmäht wurde, aber selbst nicht schmähte, der litt aber nicht drohte. Nicht nur als Vorbild und Modell gilt dieser Christus, sondern als die Kraftquelle, die auch uns zum aufrechten Gang befähigt. So ist er der Hirte: er zeigt uns einen Weg, den wir selber gehen können. Dann werden wir auch für andere zu Hirten.

3.
Gestern und vorgestern hat unsere Landessynode getagt. Gestern vormittag hörten wir ergreifende und beeindruckende Berichte aus unseren östlichen Partnerkirchen. Die Osterweiterung war dazu der Anlass. Sie ist ja nicht nur eine Osterweiterung der Europäischen Union, sondern hoffentlich vor allem eine Osterweiterung unseres Bewusstseins und unserer Wahrnehmung. Zu den Berichtenden gehörte auch die Synodalpräsidentin der Evangelisch-Lutherischen Kirche im Europäischen Russland, Frau Olga Temirbulatowa aus Samara. In bewegenden Worten sprach sie von der schrecklichen Verfolgung ihrer Kirche in der Sowjetzeit. Sie begann 1924. Im Jahr 1938 war die Evangelisch-Lutherische Kirche völlig ausgelöscht. Erst nach Stalins Tod wagten es die Gläubigen, sich wieder heimlich zu versammeln. Alle Absolventen des Predigerseminars in Leningrad wurden bis 1934 verhaftet. Nur vier Pfarrer unserer Partnerkirche überlebten diese Zeit.

Dieses dunkle Kapitel des Leids und der Verfolgung ist Gott sei Dank beendet. Im Jahre 1997 eröffnete unsere Partnerkirche ein eigenes theologisches Seminar. Die dort ausgebildeten Geistlichen werden von den Gemeinden regelrecht herbeigesehnt. Die Situation ist bis heute so, dass ein frisch ordinierter Pfarrer nicht weiß, ob er eine Wohnung erhält und ob es ein Gehalt geben wird. Weder die Gesamtkirche noch die Gemeinden können dies verlässlich zusichern. Der Dienst in den Gemeinden wird auch nach wie vor von Pfarrerinnen und Pfarrern aus Deutschland wahrgenommen. Manche widmen sich in ihrem Ruhestand ganz dieser Aufgabe. Sie werden als Hirten wahrgenommen; denn sie sammeln eine verstreute Schar und zeigen ihr einen Weg.

4.
Solche Berichte aus unseren Partnerkirchen helfen auch beim Wahrnehmen und Verstehen der eigenen Situation. Vor dem Hintergrund solcher Schilderungen erhält der Tag noch einmal eine besondere Strahlkraft, den wir heute hier in der Erlöserkirche miteinander begehen. Elf Pfarrerinnen und Pfarrer werden in diesem Festgottesdienst für den Dienst der öffentlichen Verkündigung des Evangeliums in unserer Kirche ordiniert. Sie alle, liebe Ordiandinnen und Ordinanden, wurden mit vielen Erwartungen und großer Freude in ihren Arbeitsfeldern erwartet und willkommen geheißen.

Es ist eben etwas wert, wenn es einen Pfarrer gibt, der bei der Beerdigung  auf dem schweren Weg zum Grab vorangeht und die Trauernden nicht allein lässt. Es ist erleichternd, wenn das Pfarrhaus wieder bewohnt ist. Und das gemeinsame Singen bereitet mit der neuen Pfarrerin noch mehr Freude. Gottesdienst und Unterricht, Seelsorge und Gemeindeaufbau, Diakonie und missionarischer Aufbruch, Leitung und Verwaltung: vielfältig sind die Aufgaben, die auf sie warten.

Sie sind kompetent dafür ausgebildet, das befreiende und orientierende Wort des Evangeliums weiterzusagen. Sie haben sich mit großem Engagement darin geübt, seelsorgerlich zu begleiten. Pädagogisches Rüstzeug konnten sie erwerben. Nun können Sie sich mit ihren Kompetenzen selbständig einbringen. Es tut unserer Kirche gut, dass Sie da sind. Sie werden gebraucht. Jede Gemeinde und unsere Kirche insgesamt freuen sich auf Ihren Dienst.

Das frühchristliche Sendschreiben, das unser Nachdenken an diesem Morgen leitet, kann Ihnen dabei die Richtung weisen. Nicht nur auf Christus wendet es das Bild vom Hirten an, sondern auch auf die Ältesten, wie es in der Sprache dieser frühen Zeit heißt, auf die Diener am Wort Christi. Sorgt als Hirten für die euch anvertraute Herde Gottes, nicht aus Zwang, sondern freiwillig, wie Gott es will; auch nicht aus Gewinnsucht, sondern aus Neigung; seid nicht Beherrscher eurer Gemeinden, sondern Vorbilder für die Herde (1.Petrus 5, 2-3)! Aber ebenso klar, wie in diesem neutestamentlichen Brief die Bedeutung des kirchlichen Amts beschrieben wird, genauso deutlich wird die gemeinsame Verantwortung der Gemeinde hervorgehoben. Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen, zu einer heiligen Priesterschaft, um durch Jesus Christus geistige Opfer darzubringen, die Gott gefallen (1.Petrus 2, 5). Hier hat es seine Wurzel, wenn wir in der evangelischen Kirche wieder und wieder vom allgemeinen Priestertum der Glaubenden sprechen. Jede Ordination ist beides zugleich: die Beauftragung zum besonderen Dienst im ordinierten Amt und die Freude über das allgemeine Priestertum aller Getauften.

Vorbilder sollt ihr sein, Vorbilder im Glauben. Dieser hohe Anspruch könnte kleinlaut machen. Aber ihr könnt euch diesem Anspruch stellen. Denn ihr selbst könnt und dürft euch immer wieder zu dem Vorbild flüchten, das uns Kraft gibt und auch noch unsere Schwächen in seinen Dienst stellt: Jesus Christus.

In der Zeit des Neuen Testaments gab es Schreibvorlagen mit vorgezeichneten Buchstaben, die von den Lernenden übend nachgeahmt werden konnten. Jesus Christus wird im Predigttext mit solchen Schreibvorlagen zum Nachahmen verglichen. Christus hat für euch gelitten und euch ein Beispiel gegeben, damit ihr seinen Spuren folgt. Jesus Christus wird als  die lebendige Wegweisung verstanden, deren Buchstaben sich uns im Nachzeichnen Stück für Stück erschließen.

Ungewohnte Perspektiven tun sich dabei auf. Denn Christus hat die gewohnten Maßstäbe ver-rückt. Der Stein vor dem Grab ist weggerückt und die Teufelskreise unserer Welt sind durchkreuzt. Christus verzichtete auf Vergeltung und überließ sein Schicksal Gott, dem gerechten Richter. Seine Treue zu Gott hat die Gottesferne unserer Welt für uns überwunden. Auch im Leid muss niemand mehr sagen: „Ich bin allein!“ Niemand gaukelt uns vor, alles sei schon jetzt in bester Ordnung, es gehe immer nur bergauf. Aber wir müssen nicht umherirren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Denn unser guter Hirte begleitet uns in den Tiefen ebenso wie auf den Höhen mit dem weiten Blick. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir. Christus ist der Hirte und Bischof unserer Seelen. Er geht uns voran. Bei ihm dürfen wir uns geborgen wissen.
Amen.