Predigt am Sonntag Jubilate in St. Marien zu Berlin

Wolfgang Huber

I.
In Berlin-Kaulsdorf hat sich in den letzten Jahren etwas Ungewöhnliches entwickelt. Im Jahr 1997 tat sich in Kaulsdorf eine kleine Gruppe zusammen, um etwas für die Jugendlichen auf die Beine zu stellen. Die Jugend ist unsere Zukunft, so heißt es oft. Leider bleibt dieser Satz häufig ein Lippenbekenntnis. Anders in Kaulsdorf. Mit Hilfe von acht jungen Leuten des norwegischen CVJM startete man ein Projekt. An vielen Orten wurde es vorgestellte, auch an den Kaulsdorfer Schulen. Daran schloss sich ein Wochenende in der Kaulsdorfer Jesus-Kirche an; über hundert Jugendliche nahmen Teil.

Aus diesem Beginn hat sich eine auf christlichem Fundament stehende Band-, Chor- und Theaterarbeit entwickelt. Den Jugendlichen wurden Freiräume eröffnet, die sie in beeindruckender Weise mit ihren Fähigkeiten und Begabungen füllen. Heute ist der CVJM aus Berlin-Kaulsdorf nicht mehr wegzudenken. Auf Wochenendfahrten und in der gemeinsam gestalteten Freizeit bietet sich die große Chance, in persönlichen Gesprächen Lebenshilfe zu erfahren und sich darüber auszutauschen, was die Freunde denken.

Der CVJM, der Christliche Verein Junger Menschen hat heute weltweit über dreißig Millionen Mitglieder. Als der Zusammenschluss im Jahre 1844 in London gegründet wurde, war er ursprünglich ein Verein junger Männer mit folgender Zielsetzung: „Die Vereine haben den Zweck, solche jungen Männer zu verbinden, die Jesus Christus nach der Heiligen Schrift als ihren Gott und Heiland anerkennen, im Glauben und Leben seine Jünger sein und gemeinsam danach trachten wollen, das Reich ihres Meisters unter jungen Menschen auszubreiten.“

Seit der Gründung des CVJM steht die inhaltliche Arbeit unter einem klaren christlichen Vorzeichen. Daran hat sich nichts geändert. Allerdings nahmen die jungen Männer einige Jahrzehnte später sehr gern auch junge Frauen auf. International trat neben den YMCA – die Young Mans Christian Association – der YWCA – die Young Womens Christian Association. Und im Deutschen steht das M des CVJM schon längst nicht mehr nur für Männer, sondern für Menschen.

Seit der politischen Wende von 1989 haben sich in Mittel- und Osteuropa sechzehn nationale Vereine neu gegründet, die in der Zeit davor verboten und verfolgt worden waren. Das CVJM-Ostwerk Berlin-Brandenburg, dessen Vorstand wir gerade in seinen Dienst eingeführt haben,  verbindet 27 Mitgliedsvereine mit insgesamt ca. 400 Mitgliedern.

In Kaulsdorf hat sich aus der Initiative, die ich geschildert habe, noch mehr ergeben. Die im CVJM engagierten Christen haben vor Ort damit begonnen, für die 8-12 jährigen Kinder eine Pfadfindergruppe aufzubauen. Die Kinder sind mit großer Begeisterung bei der Sache. Ich kann das gut nachvollziehen; denn ich bin in diesem Alter – nämlich mit zehn Jahren – auch Pfadfinder geworden; und später habe ich mich sehr dafür engagiert, Kindern und Jugendlichen einen Zugang zu dieser Welt zu eröffnen. Noch heute bin ich als Kreuzpfadfinder der Christlichen Pfadfinderschaft verbunden. Wie wir damals so erzählen auch die heutigen Pfadfinder von Dingen, die viele Schulkameraden nicht einmal aus dem Fernsehen oder von Computerspielen kennen. Sie lernen, bei Regen Feuer zu machen, ein Zelt aufzubauen, spezielle Knotentechniken, Kanu fahren, ein Essen kochen und das eigene Fahrrad reparieren. Die Kinder machen beglückende Erfahrungen mit einer in Christus gegründeten Gemeinschaft. Freiheit und Verantwortung werden im gemeinschaftlichen Leben miteinander verbunden. Hier wächst wie unbemerkt eine Kultur der Anerkennung, die auf dem Respekt vor der unantastbaren Würde der menschlichen Person beruht.

II.
Der Predigttext für den heutigen Sonntag liest sich vor diesem Hintergrund wie ein Kommentar dazu, warum eine christliche Gemeinschaft eine derart positive Prägekraft ausübt. Hören wir noch einmal auf die Verse aus dem 5. Kapitel des 1. Johannesbriefes:

Wer glaubt, dass Jesus der Christus ist, der ist von Gott geboren; und wer den liebt, der ihn geboren hat, der liebt auch den, der von ihm geboren ist. Daran erkennen wir, dass wir Gottes Kinder lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote halten. Denn das ist die Liebe zu Gott, dass wir seine Gebote halten; und seine Gebote sind nicht schwer. Denn alles, was von Gott geboren ist, überwindet die Welt; und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.

Liebe Gemeinde, es ist die eigene Erfahrung, geliebt zu sein, die sich als tragende Kraft in unserem Leben erweist. Das neutestamentliche Sendschreiben, aus dem unser Predigttext stammt, entfaltet den Zusammenhang zwischen der Zuwendung, die unser Leben trägt, und den eigenen Kräften, die dadurch freigesetzt werden. Wir alle wissen: Auf die Zuwendung Gottes kommt es an. Nicht die finanziellen Zuwendungen zählen, um die sich so vieles dreht. Es zählt nur die Zuwendung Gottes, für die man gar keine Summe nennen kann Sie hat einen Namen. In Jesus hat sich Gott uns allen zugewandt. Das macht er nicht mehr rückgängig. Auf Gottes Treue können wir uns verlassen. Sie ist keine Treue auf Vorbehalt – wie es menschliche Treue leider so oft ist – sie gilt in jedem Fall. Und sie gibt unserem Leben eine neue Kraft.

Diese neue Kraft wird als eine Kraft zum Siegen beschrieben. Das ist außerordentlich befremdlich. Aber es ist so. Mit großer Direktheit wird es gesagt: Alles, was von Gott geboren ist, überwindet die Welt; und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.

Man braucht ja, wenn man das Wort Sieg hört, nicht gleich an den Krieg zu denken. Auch im Sport geht es um Sieg oder Niederlage. Und manchmal tun Niederlagen besonders weh; die deutsche Fußball-Nationalmannschaft hat das beim 1:5 gegen Rumänien am vergangenen Mittwoch gerade erlebt. Aber auch wenn man nicht an den Krieg, sondern nur an den Sport denkt: sich Glaubende als Siegertypen vorzustellen, bleibt befremdlich.

Diese befremdliche Aussage wird uns heute zugemutet. Glaubende haben das Zeug zum Siegen: allerdings nicht über andere Menschen, sondern über sich selbst, nicht über den Gegner, sondern über die „Welt“, nicht über zweitklassige Gegner, sondern über den erstklassigen Feind: nämlich die Eigensucht. Ein Sieg ist das, der sich nicht auf Gewalt stützt, sondern auf Gottvertrauen. Er braucht auch kein Doping; denn die Begeisterung kommt von selbst. Das Geheimnis dieses Sieges besteht nicht darin, dass man sich gegen andere durchsetzt. Das Geheimnis dieses Sieges besteht vielmehr in der Gewissheit zusammenzugehören. Das Training für diesen Sieg ist nicht ätzend. Denn Gottes Gebote sind ein „sanftes Joch“; sie richten auf und schaffen Klarheit. Sie verhelfen zum aufrechten Gang und zum klaren Blick.

III.
Aufrechter Gang und klarer Blick: darauf kommt es auch heute an.

Am 1. Mai um Mitternacht standen meine Frau und ich auf der Oderbrücke zwischen Frankfurt und Slubice. Das war ein unvergessliches Erlebnis. Nicht nur wegen des Feuerwerks, das wir nach Mitternacht bestaunten. Nicht nur wegen Beethovens Ode „An die Freude“, die vor Mitternacht ertönte; immer mehr Menschen um uns her sangen mit. Unvergesslich war diese Nacht, weil Europa zusammenwuchs. Unter denen, die da feierten, hatten manche Tränen in den Augen. Denn vor fünfzehn Jahren hatten sie sich nicht vorstellen können, was wir jetzt erleben.

Vor fünfzehn Jahren haben die Menschen in den Ländern Ost- und Mitteleuropas  ebenso wie die Ostdeutschen durch mutige Demonstrationen, durch zivilen Ungehorsam und mit bürgerschaftlichem Engagement den Eisernen Vorhang zerrissen. Sie waren es, die die Unterdrückung abschüttelten und die Freiheit herbeisehnten. Sie nahmen dafür große Entbehrungen auf sich. Seitdem mussten sie in vielen Bereichen umlernen und viel Mut zu unausweichlichen Reformen aufbringen. Viel war seitdem von den „Mühen der Ebene“ die Rede.

In der Nacht vom 30. April zum 1. Mai erfolgte wieder ein großer Schritt. Die Teilung Europas wurde überwunden. Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Slowenien, der griechische Teil Zyperns und der Inselstaat Malta gehören nun zur Europäischen Union mit ihren 25 Mitgliedsstaaten. Und wir feiern den Sonntag Jubilate: „Jauchzet Gott, alle Lande“.

Das ist eigentlich der richtige Ton für diesen Tag. Er ist auch von Sorgen umgeben. Aber sie gehören an den zweiten Platz. Zuerst haben wir Grund zur Dankbarkeit für den Frieden, auf den wir uns in Europa verlassen können, für die gemeinsame Kultur, die uns verbindet, für die Quellen des christlichen Glaubens, aus denen wir auch in Zukunft schöpfen können.

Aber gewiss: Neben die Dankbarkeit für diesen bedeutsamen historischen Schritt treten auch neue Herausforderungen. Das durch die Ost-Erweiterung größer gewordene Europa bedarf der Vertiefung. Wir dürfen uns nicht damit begnügen, Europa als eine wirtschaftliche Einheit zu verstehen. Wir müssen auch neu nach der kulturellen und religiösen Verankerung Europas fragen. Gewiss wird man dabei auf den europäischen Pluralismus zu achten haben. Das romantische Bild einer religiösen Einheitskultur taugt nicht als Leitbild für die Zukunft. Doch der gleichgültige Verzicht auf verbindliche Werte, der sich häufig mit einem rein technokratischen Bild Europas verbindet, versagt erst recht vor der Aufgabe, den Europäern eine Identität zu geben. Die Arbeit an der religiösen und kulturellen Identität Europas ist eine große Herausforderung. Wir müssen mit unserem Erbe –  ganz biblisch gesprochen –  wuchern,: wir müssen diese Aufgabe  anpacken – so wie die Europa der griechischen Sage den Stier bei den Hörnern nahm.

Dabei brauchen wir als erstes den Mut, wie der von Gott zu reden. Wir dürfen nicht zulassen, dass im größer gewordenen Europa der Name Gottes verschwiegen oder vergessen wird. Dass das Seinwollen wie Gott eine Grundverkehrung menschlicher Existenz bildet, tritt uns gerade in den Maßlosigkeiten unserer Gegenwart wieder deutlich vor Augen: in dem vermessenen Anspruch darauf, menschliches Leben selbst herstellen zu können, in den neuen Tendenzen, menschliches Leben aus eigenem Entschluss zu beenden, oder in einer neuen Neigung zum gewaltsamen Austrag von Konflikten. Nur wenn der Name Gottes wieder laut wird, wenn ihm allein die Ehre gegeben wird, lässt sich zusammendenken, was sonst unausweichlich auseinandertritt: die Endlichkeit des Menschen und die Unantastbarkeit seiner Würde. Nur wenn die Würde des Menschen in seinem Angesprochensein durch Gott und nicht in seinen eigenen Leistungen gründet, zerbricht sie nicht an Fehlleistung und Schuld. Nur wenn menschlichem Leben eine Verheißung mitgegeben ist, die an der Endlichkeit dieses Lebens nicht zerschellt, kann von der Würde des Menschen in einem strengen Sinn die Rede sein. Die Würde des Menschen ist unverfügbar – dies ist ein Erbe, das der christliche Glaube an die Welt und die Menschen weitergibt und das einen Niederschlag bis in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und hoffentlich auch in die Europäische Verfassung findet. Ein Erbe ist dies, das um des Wohls der Menschen willen unverzichtbar ist.

Die christlichen Wurzeln Europas sind in gewisser Weise ein „Weltkulturerbe“, auf das wir ruhig stolz sein dürfen. Heute und auch zukünftig wird es darauf ankommen, dieses Erbe zu bewahren und gestaltend einzubringen. Jede Kirchengemeinde, jede christliche Familie, aber auch jede christliche Jugendgruppe trägt zur Weitergabe unseres wertvollen Erbes bei.

Mir liegt der Gedanke fern, dass die Religion allein für die europäische Identität maßgeblich ist. Aber genauso fern liegt mir die Vorstellung, dass diese Identität ohne die Quellen der Religion auskommt. Auch im Blick auf die Zukunft Europas können, ja müssen wir uns an den Satz halten: Das ist die Liebe zu Gott, dass wir seine Gebote halten; und seine Gebote sind nicht schwer. Denn alles, was von Gott geboren ist, überwindet die Welt; und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.  Amen