Predigt im Gottesdienst - Mein Psalm 2004 in der Kirche am Hohenzollernplatz

Wolfgang Huber

Der junge und ehrgeizige Absalom wollte König in Israel werden. Der Sohn Davids ging dabei geschickt zu Werk. Um jedermanns Gunst wusste er zu werben, besonders um die Gunst der einflussreichen Stammesfürsten. Wenn jemand in einen Rechtsstreit verwickelt war und diese Angelegenheit vor König David bringen wollte, fing er ihn ab und sprach ihn an: Siehe, deine Sache ist gut und recht; aber du hast keinen beim König, der dich hört. Wäre ich nur Richter im Land, dann würde sich alles ändern. In der Bibel heißt es dazu: Absalom stahl sich die Herzen der Männer Israels.

Absalom besorgte sich einen Streitwagen, Rosse  und eine zuverlässige Leibgarde. Die Verschwörung war gut vorbereitet und stark ausgestattet. In Hebron ließ sich der junge Aufrührer zum König ausrufen und zog gegen seinen Vater nach Jerusalem.

Der in die Jahre gekommene David war überrascht. Mit Mühe und Not gelang ihm gerade noch rechtzeitig die Flucht aus Jerusalem. Von dieser Flucht sind folgende Worte des enttäuschten Vaters überliefert:“ Siehe, mein Sohn, der von meinem Leibe gekommen ist, trachtet mir nach dem Leben..“ [!Sam16,11] Der Kampf zwischen dem jungen, aufstrebenden Sohn und dem ergrauten Vater war eröffnet. Es ging auf Leben und Tod. Es ging um Macht und Einfluss. Die Waffen wurden erbarmungslos geführt.

Der Psalm, den wir heute ins Zentrum stellen und miteinander bedenken, wird als ein Gebet König Davids in dieser Situation verstanden und ist mit einer entsprechenden Einleitung versehen:

Ein Psalm Davids, als er vor seinem Sohn floh:
Ach Herr wie sind meiner Feinde so viel
Und erheben sich so viele gegen mich!
Viele sagen von mir: Er hat keine Hilfe bei Gott.
Aber du, Herr, bist der Schild für mich,
du bist meine Ehre und hebst mein Haupt empor.
Ich rufe mit meiner Stimme zum Herrn,
so erhört er mich von seinem heiligen Berge.
Ich liege und schlafe und erwache;
denn der Herr hält mich.
Ich fürchte mich nicht vor vielen Tausenden,
die sich ringsum wider mich legen.
Auf, Herr, und hilf mir, mein Gott!
Denn du schlägst alle meine Feinde auf die Backe
Und zerschmetterst der Gottlosen Zähne.
Bei dem Herrn findet man Hilfe.
Dein Segen komme über dein Volk.

Das Gebet des Königs wurde erhört. Im Walde Ephraim kam es zur großen Schlacht, bei der Absalom mit den Haaren in einer Astgabel hängen blieb. Joab von Zeruja, Davids Feldherr, stieß Absalom drei Stäbe ins Herz. Damit war die Revolte beendet. David, der schlaue Fuchs, blieb König von Israel.

Die Bibel erzählt den Kampf um die Thronnachfolge als eine Geschichte von der Bewahrung des gefährdeten Königtums. Das große Projekt von der angestrebten Einheit Israels konnte weiter verfolgt werden.  

Denn du schlägst alle meine Feinde auf die Backe
Und zerschmetterst der Gottlosen Zähne.
Bei dem Herrn findet man Hilfe.
Dein Segen komme über dein Volk.

Liebe Gemeinde, Deutschland ist den Kampf um Macht und Einfluss wechselnder Koalitionen gewöhnt und mit den dazugehörigen Ritualen vertraut. Daran ist nichts neu. Insofern befindet sich unser Land derzeit nicht in der Angst vor einem Absalom-Komplott. Vor uns stehen ganz andere Herausforderungen. Sie verbinden sich derzeit mit dem Stichwort vom Methusalem-Komplott. Nicht von einer Verschwörung der Jungen, ungeduldig auf Einfluss Wartenden ist die Rede, sondern von einer Verschwörung der Alten, die immer größere Anteile des verfügbaren Wohlstands in Anspruch nehmen.

Tatsächlich ist unsere Kultur in den letzten Jahrzehnten von zwei biologischen Urbedürfnissen geprägt, ja verwandelt worden. Zum einen wollten die Menschen älter werden, aber dabei ihr sichtbares Altwerden verzögern oder verdecken, durch Kosmetik, Sport, Medizin, Ernährung. Zum anderen erlaubte die moderne Medizin ein Ausleben der Sexualität ohne das Risiko einer Fortpflanzung. Kosmetik- und Lifestylefabriken wie auch Pharma- und Medizinindustrie haben neue Weltbilder entworfen und durchgesetzt. Die neuen Weltbilder konkurrieren mit denen der Religion. Jetzt aber wird das Zwangssystem von Jugend, Schönheit und Sexualität für die neue Mehrheit der Menschen zur Bedrohung. Ein wachsender Teil der Menschen muss zugeben, dass er nicht mehr dazugehört. Schon zerspringt das Glas; in wenigen Jahren stehen wir vor den Scherben dieses Weltbilds wie vor einem zerbrochenen Spiegel, in dem wir uns nicht mehr wiedererkennen.

Es ist ein Bild von starker Symbolik: Die Alterung der alten Industrienationen wird wie eine Sinuskurve in den nächsten 30 Jahren durch die gewaltige Jugendwelle insbesondere der islamischen Länder überdeckt. In dem historischen Moment, da in den islamischen Ländern der Anteil der Jugend auf 20 % Prozent der Bevölkerung steigt, werden die meisten europäischen Länder eine gegenläufige Entwicklung erfahren haben. In einer unglaublichen Dynamik wird im Jahr 2050 der Anteil der Personen mit einem Lebensalter von über 60  Jahren etwa in Spanien auf über 43 % hinaufgeschnellt sein.

Die Weltgeschichte kennt viele Kriege. Der durch die Bevölkerungsentwicklung auf uns zukommende Konflikt der Generationen sollte nicht zum Krieg stilisiert werden. Doch die Konfliktfelder sind erheblich. Es gibt Verletzungen durch Worte und Demütigungen durch die Tat. Eine Firma muss Insolvenz anmelden und entlässt ihre Mitarbeiter von einem Tag auf den anderen; auch der 55 Jahre alte hochspezialisierte Mathematiker ist von heute auf morgen arbeitslos. Bei der Agentur für Arbeit wird ihm signalisiert, dass  eigentlich nur Menschen bis 40 gefördert werden. Dass der Mann vielen Dreißigjährigen beim Joggen davonlaufen kann, zählt ebenso wenig wie seine berufliche Kompetenz und seine Lebenserfahrung. Bei seinem Alter wird ihm einfach keine Chance eingeräumt, in den Beruf zurückzukehren. Zugleich wird ihm bescheinigt, dass er damit zum Sozialhilfefall wird. So wird auch noch noch nachträglich die Zeit entwertet, in der er Arbeit hatte. Wann wird die Grenze zum Rassismus gegen ältere Menschen überschritten?

Ach Herr, wie sind meiner Feinde so viel
und erheben sich gegen mich!
Viele sagen von mir: Er hat keine Hilfe bei Gott.
Aber du, Herr, bist der Schild für mich,
du bist meine Ehre und hebst mein Haupt empor.
Ich rufe mit meiner Stimme zum Herrn.

Der gesellschaftliche Jugendwahn hat dazu beigetragen, dass weniger Kinder geboren wurden und werden. Der Lebensstau im Alter zwischen zwanzig und vierzig trägt das Seine dazu bei. In dieser Zeit einer besonderen Gegenwartsschrumpfung soll alles gleichzeitig gelingen: Ausbildung, Beruf, Familie. Dabei ist die Familie oft das schwächste Glied. Und plötzlich ist es zu spät. Vierzig Prozent der jungen Akademikerinnen bringen in Deutschland derzeit keine Kinder mehr zur Welt. Das geschieht nicht aus Mutwillen, aber oft auch nicht aus freiem Willen. Die Ideologie publiziert und veröffentlicht jugendliche, allseits erfolgreiche Menschen und kaschiert die Tatsache, dass wir uns kaum fortgepflanzt haben. Die Ideologie zerstört das Selbstbewusstsein der Menschen, die am eigenen Leib den normalen Alterungsprozess erfahren. Sie verstoßen gegen das gesellschaftliche Leitbild und empfinden darüber große Scham. Sie überdecken das Älterwerden durch Traurigkeit und Melancholie. Der gesellschaftliche Jugendwahn zerstört die Identität der Alten. Das geschieht mit den Mitteln der Sprache und der Bilder, aber auch durch harte Fakten, zum Beispiel durch frühe Arbeitslosigkeit oder unfreiwilligen Vorruhestand.

Ach Herr wie sind meiner Feinde so viel
Und erheben sich gegen mich!
Sie sagen mir: Du bist zu alt.

Ich rufe mit meiner Stimme zu Gott.
Mein Gebet kommt aus tiefstem Herzen.
Ich liege und schlafe und erwache;
Gott kannte mich, ehe ich im Mutterleib gebildet war.
Er hält mir die Treue auch im hohen Alter.
Gott führt den Streit der Schwachen.

Ich fürchte mich nicht vor dem Wahn,
der sich rings um mich ausbreitet.
Auf, Herr, und hilf mir, mein Gott!

Liebe Gemeinde, die Bibel erzählt immer wieder Geschichten von der Rettung und Bewahrung des Lebens. Das Buch der Bücher ist ein Hort der Ermutigung. Ich möchte mit drei Erinnerungen schließen.

Erste Erinnerung: Abraham und Sarah werden die Hoffnungsträger eines Volkes – zahlreicher als die Sandkörner am Meeresstrand. Die Agentur für Arbeit hätte nicht einmal die Daten der beiden Alten in ihre Datei aufgenommen. Bei Gott hängt die Zukunft an Abraham und Sarah.

Zweite Erinnerung: Die Schriften des Alten und Neuen Testaments schildern uns Gott als denjenigen, der die Sache der Witwen, der Waisen und der Fremdlinge befördert. Der Sinn dieser Trias erschließt sich im Licht unserer demographischen Entwicklung auf neue Weise: Als geliebte Geschöpfe Gottes dürfen alte Menschen nicht diskriminiert werden, auch und gerade nicht die Einsamen unter ihnen: die Witwen der Bibel, die alt gewordenen Singles unserer Zeit. Keine Generation darf gegen die andere ausgespielt werden. Gott ist ein Gott, der die Alten und die Jungen gleichermaßen schützt. Und die von Gott uns anempfohlenen Fremdlinge werden unter Umständen in Deutschland dringend benötigt, damit die Bevölkerung unseres Landes nicht zu sehr abnimmt. Diese Einsicht setzt sich jetzt möglicherweise sogar in einen Konsens über das Zuwanderungsgesetz um. So betrachtet, könnte die plötzlich wieder gewonnene politische Handlungsbereitschaft einen sogar zynisch stimmen – wenn die Aufgabe nicht zu wichtig und die Lage nicht zu ernst wäre.

Und schließlich eine dritte Erinnerung: Unsere Bibel enthält 150 Psalmen. Die Betenden müssen, um zu den Psalmgebeten zu gelangen, durch das Tor zum Psalter treten. Der erste Psalm bildet dieser Tor, durch das sich die Menschen Gott annähern. Wer Lust hat am Gesetz des Herrn, so heißt es dort, „der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht.“ Beim Durchschreiten dieses Tores kann man also den vorherrschenden Ideologien standhalten, ohne sich ihnen zu unterwerfen. Denn wer an diesen Wasserbächen gepflanzt ist, braucht das Altwerden nicht zu fürchten. War also die Intrige gegen den alternden König David doch nicht der einzige Weg? Und welche Möglichkeiten der Umkehr gibt es  für uns im Angesicht des zerspringenden Jugendwahns? Wozu ist unsere Kirche und wozu sind wir gerufen?

Dazu offenbar, immer wieder durch dieses Tor zu gehen, durch das Tor des Psalters, durch das Tor des Glaubens: Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen, noch tritt auf den Weg der Sünder, noch sitzt, wo die Spötter sitzen, sondern hat Lust am Gesetz des Herrn und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht. Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht.

Das ist noch eine Hoffnung, besser als ein Methusalem-Komplott. Amen