Predigt am Pfingstsonntag in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu Berlin

Wolfgang Huber

„Jesus Christus spricht: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“

Ein biblisches Zitat und einen Bekenntnissatz stelle ich an den Anfang dieser Pfingstpredigt. Der Bekenntnissatz wurde vor genau siebzig Jahren ausgesprochen: als erster von sechs Sätzen, auf die sich die Bekennende Kirche angesichts der Verführung der Kirche durch die Hitler-Diktatur verständigte. Sie bekräftigte damit, was sie als biblische Wahrheit empfangen hatte: dass Jesus Christus allein der Weg, die Wahrheit und das Leben ist. Sie ließ sich an das erste Gebot erinnern: Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
 So geschah damals Pfingsten: als Scheidung der Geister, als Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Lehre. Wie sieht heute Pfingsten aus, um welche Wahrheit geht es jetzt, wo scheiden sich heute die Geister?

I.

Vor siebzig Jahren versammelten sich die Vertreter der Bekennenden Kirche im Wuppertaler Stadtteil Barmen-Gemarke zu einer Sondersynode. Man schrieb den Mai 1934. Über ein Jahr war Adolf Hitler schon an der Macht. In dieser Zeit hatte er nicht nur die Abrüstungsverpflichtungen Deutschlands aufgekündigt und sich angeschickt, Deutschland wieder zu einer potentiellen Kriegsmacht zu machen. Er hatte nicht nur die Gewerkschaften und andere Verbände aufgelöst und einer umfassenden Gleichschaltung der deutschen Gesellschaft den Weg geebnet. Er hatte nicht nur die Menschen dazu veranlasst, sich faktisch von der Demokratie zu verabschieden, weil sie auf wirtschaftlichen Aufschwung hofften. Er hatte auch unübersehbare Zeichen für die Entrechtung der Juden in Deutschland gesetzt. Und er hatte die Gleichschaltung auch auf die evangelische Kirche in Deutschland ausgedehnt. Eine starke Strömung in der evangelischen Kirche hatte dem begeistert Beifall gezollt: Die „Deutschen Christen“ hatten in bedrückender Lautstärke im Berliner Sportpalast die Abschaffung des Alten Testaments und die Einführung des Arierparagraphen in der Kirche gefordert.

 Geistesgegenwart war gefordert. Die Unterscheidung der Geister war nötig. Es waren nicht allzu viele, die diese Geistesgegenwart aufbrachten.

II.

Soweit es in der evangelischen Kirche Menschen gab, die sich zu solcher Geistesgegenwart bereit fanden, waren sie vor allem durch die Sorge um die Kirche umgetrieben. Lange Zeit versuchten sie sogar, ein Ja zu Hitler mit dem Ja zu Jesus Christus zu verbinden. Doch immer deutlicher zeigte sich, dass dies nicht ging. Wer dem Führerprinzip, das damals der Reichsbischof Ludwig Müller und andere in der Kirche einführen wollten, eine Absage erteilte, der musste sich mit dem Führerprinzip insgesamt auseinandersetzen. Wer sich dagegen wandte, dass in der Kirche andere Offenbarungswahrheiten gelten sollten als die Wahrheit in Jesus Christus, der musste auch einräumen, dass der befreiende Anspruch Jesu Christi dem ganzen Leben gilt, nicht nur dem Leben in der Kirche. Wer sich dazu bekannte, dass wir als Christen auf das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit warten, der konnte der Verheißung, dass Hitlers Diktatur ein Tausendjähriges Reich herbeiführen werde, nicht länger Glauben schenken.

Der Durchbruch zu solchen Einsichten vollzog sich, nach manchen Vorbereitungen, bei der Bekenntnissynode in Barmen. 138 Vertreter aus 18 Landeskirchen kamen am 29. Mai 1934 dort zusammen: 83 Pfarrer und 55 Laien. Drei Tage dauerten ihre Beratungen. Zu ihren Beschlüssen gehörte die „Theologische Erklärung von Barmen“. Im Wesentlichen war sie von dem Schweizer Theologen Karl Barth entworfen, der damals in Bonn lehrte. Aber auch wenn er ein reformiert geprägter Theologe war: dieses Dokument stand für das Erbe der Reformation insgesamt, für seine lutherische Seite ebenso wie für seine reformierte. Gerade darin zeigte sich seine Geistesgegenwart. Genau darin war sie ein pfingstliches Ereignis, an das wir uns zu Recht an Pfingsten erinnern, siebzig Jahre später. Zum ersten Mal seit der Reformation selbst zeigte sich die reformatorische Bewegung wieder in ihrer inneren Zusammengehörigkeit. Daran anzuknüpfen ist heute an der Zeit. Die Wahrheit des Glaubens und die Freiheit, die daraus wächst, können und müssen wir auch heute gemeinsam bezeugen.

 Grundsatzpapiere waren in der evangelischen Kirche seit Hitlers Machtergreifung in großer Zahl geschrieben worden; mehr als 75 von ihnen wurden schon gleich 1934 in einer entsprechenden Sammlung verzeichnet. Sie sind alle mehr oder weniger vergessen; und das mit Recht. Die Barmer Theologische Erklärung aber führte die Menschen zusammen. Sie entwickelte klärende Kraft. Sie verhalf zur Orientierung – auch über die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft hinaus. In unserer Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz hat sie Eingang in die Bekenntnisartikel gefunden. Ausdrücklich bejahen wir „die Theologische Erklärung von Barmen als ein schriftgemäßes, für den Dienst der Kirche verbindliches Bekenntnis“. Die Evangelische Kirche in Deutschland bejaht mit ihren Gliedkirchen ausdrücklich die von der ersten  Bekenntnissynode in Barmen getroffenen Entscheidungen. „Sie weiß sich verpflichtet, als bekennende  Kirche die Erkenntnisse des Kirchenkampfes über Wesen, Auftrag und Ordnung der Kirche zur  Auswirkung zu bringen.“ In allen deutschen Landeskirchen findet sich dieser Bekenntnistext im Gesangbuch. In jedem Gottesdienst halten wir sie bewusst oder unbewusst in der Hand, wenn wir das Gesangbuch zur Hand nehmen. Und wer ein Gesangbuch besitzt – ich wünschte mir, es wären viele – , kann diesen Text auch zu Hause nachlesen, im Gesangbuch unter der Nummer 810.

III.

Es hat gute Gründe, wenn wir heute – in diesem pfingstlichen Festgottesdienst – an das pfingstliche Ereignis von Barmen erinnern. Die Barmer Thesen sind ein markanter und starker Text. Was hat dazu geführt, dass sie bis heute eine so hervorragende Quelle evangelischer Orientierung geblieben sind? Es hängt zunächst damit zusammen, dass sich damals in der Bekennenden Kirche Gemeindefrömmigkeit, theologisches Lehren an Universitäten und kirchenleitendes Handeln zu einer besonderen Einheit verbanden. Die Sätze von Barmen, ihre Entstehung und ihre Wirkung sind ohne diese Einheit undenkbar. Karl Barth sprach von einem „Akt der Geistesgegenwart“. Das ist auch das erste, was man sich heute erneut wünschen möchte: dass sich christliches Leben in Alltag und Gemeinde möglichst nah mit den nötigen theologischen Klärungen und der Verantwortung für die Leitung der Kirche verbindet.

 Zustande gekommen ist diese Einheit durch den doppelten Ruf, der in Barmen laut wurde. Er ergab sich aus der Orientierung an der Heiligen Schrift, aus der Begegnung mit dem lebendigen Gott: Wenn die Kirche vor ihrem Richter steht, dann wird der Ruf zur Umkehr, zur Buße, zum neuen Hören auf das Wort der Schrift laut. Dies geschah in Barmen. In deutlichen Buß- und Verwerfungssätzen wurde dieser Ruf zur Umkehr laut: weg von der Verführung durch falsche Offenbarungen, weg von der Unterwerfung unter den Götzendienst von damals oder heute, weg von der Unterordnung des Evangeliums unter den Geist der Zeit.

 Und der andere Ruf war ein „Ruf nach vorwärts“ (Karl Barth). Die Freiheit des Evangeliums wurde wieder laut. Sie befreit zu freiem, dankbarem Dienst in der Welt Gottes. Sie hilft dabei, dass die Kirche Kirche bleibt. Sie ermutigt uns zur politischen und gesellschaftlichen Mitverantwortung, ohne dass wir als Kirche selbst Staat sein wollen und staatliche Aufgaben anmaßen, aber auch ohne dass wir Staat, Gesellschaft oder Wirtschaft vergöttern. Sie hält uns als Kirche dazu an, die Botschaft von Gottes freier Gnade auszurichten an alles Volk. Man spürt es auch heute: Es geht ein frischer Luftzug durch jeden Raum, in dem diese Worte laut werden.

IV.

Dabei versteht sich von selbst, dass Bekenntnistexte dieser Art immer an ihre Zeit gebunden sind. Sie nehmen uns das eigene Bekennen nicht ab. Sie können uns dabei helfen, einen eigenen Standort zu finden; aber sie machen das eigene Bemühen nicht überflüssig. Sie zeigen ihre Bedeutung immer in bestimmten existentiellen Situationen.

 Die kräftigen Worte des Christusbekenntnisses von damals fallen ganz besonders auf: Allein Christus ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Ich kann das nachvollziehen: In auswegloser oder schwieriger Situation  ist die Konzentration auf das Christusbekenntnis ein heilsamer Halt. Persönlich wird der Glaube immer dann, wenn er sich an die Person Jesu hält: an den menschgewordenen, gekreuzigten, auferstandenen Herrn, an den, dessen Nähe uns durch den Pfingstgeist verbürgt wird, durch den Tröster, der bleibt.

 Aber, so mögen Sie fragen, ist diese Konzentration auf Christus allein überhaupt noch möglich in einer Zeit wie der unseren, die durch religiöse Vielfalt geprägt ist? Müssen wir da nicht eine ungleich größere Weite walten lassen, als sie in diesem Bekenntnis zum Ausdruck kommt? Meine Antwort ist eindeutig: Zum Dialog sind wir überhaupt nur dann fähig, wenn wir wissen, wo wir selbst stehen. Die Konzentration auf Christus hat keineswegs eine Isolierung gegenüber der Weite religiöser Erfahrung zur Folge. In  der Pluralität von religiösen und weltanschaulichen Einstellungen, mit denen wir heute konfrontiert sind, ist unser Bekenntnis zu Christus als dem lebendigen Herrn und zu seinem Geist, der uns zur Klarheit hilft, neu herausgefordert. Wenn wir uns darauf einlassen, dann merken wir: Aus dem einen Wort Gottes, das den Namen Jesu Christi trägt, leuchtet ein Licht, in dem das Wirken des Schöpfers und die Bedeutung seiner Gebote ebenso zu erkennen sind wie die bleibende Erwählung Israels.

 Das Christusbekenntnis der Barmer Theologischen Erklärung kann uns das Verhältnis zum Alten Testament, zum jüdischen Glauben, zur bleibenden Erwählung Israels neu erschließen – obwohl die Synode von Barmen, Gott sei’s geklagt, die Verfolgung der Juden nicht ausdrücklich zum Thema machte. Einzelne haben zwar schon damals ein deutliches Wort gewagt. Aber die Kirche als Ganze ist in Barmen eine entsprechend klare Aussage schuldig geblieben. Erst später hat die Bekennende Kirche versucht, das Versäumte nachzuholen. Doch es blieb ohne Wirkung.

 Das Christusbekenntnis von Barmen kann uns dabei helfen, Wahrheit und Irrtum in anderen Religionen deutlich zu unterscheiden. Es verschafft uns auch Zugang zu anderen Formen, Wahrheit zu bezeugen und sich – zum Beispiel mit den Mitteln der Kunst – der Gottesfrage zuzuwenden. Doch diese anderen Formen werden dadurch nicht zu einer eigenen Quelle der Offenbarung. Die Wahrheitsmomente in anderen Religionen werden nicht zur Quelle eines eigenen Gottesbildes. Die Geltung des einen Wortes Gottes wird nicht zur Disposition gestellt.

V.

Ein Letztes: Die Barmer Theologische Erklärung sieht gerade den säkularen Staat im Wort Gottes begründet. Das Wort Gottes will einen Staat, der „nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden“ sorgt. Die positive weltanschauliche Neutralität des Staates wird ausdrücklich bejaht, nicht aber eine Feindlichkeit gegenüber dem Glauben, in der Religionsfreiheit nur noch als Freiheit von der Religion, nicht aber als Freiheit zur Religion verstanden wird. Und vor allem: Eine Überhöhung des Staates, die ihn zur „einzigen und totalen Ordnung menschlichen Lebens“ machen würde, wird ausdrücklich abgelehnt. Entsprechendes muss dann ohne Zweifel gelten, wenn beispielsweise die Wirtschaft zur „einzigen und totalen Ordnung menschlichen Lebens“ erklärt oder faktisch so behandelt wird. Im einen wie im andern Fall gilt vielmehr, dass solche Ordnungen des menschlichen Zusammenlebens nur einen begrenzten Auftrag haben.

 Gewiss standen wichtige Dimensionen der modernen Welt der Synode in Barmen vor siebzig Jahren nicht deutlich vor Augen. Heute sehen wir deutlicher, dass es sich bei Menschenrechten und Demokratie – recht verstanden und auch gegen ideologischen Missbrauch verteidigt – um Konsequenzen handelt, die sich aus dem reformatorischen Impuls ergeben: aus der Anerkennung der Freiheit eines Christenmenschen, aus der Betonung der Gewissensfreiheit, aus dem Beharren auf den Grenzen staatlicher Macht.

 Solche Einsichten werden auch heute verletzt: überall dort beispielsweise, wo der persönliche Besitz oder der wirtschaftliche Erfolg wie Götzen verehrt werden. Um dem entgegenzutreten, braucht man nicht unbedingt ein neues Bekenntnis. Die Erinnerung an das Erste Gebot kann bereits zur nötigen Klarheit verhelfen. Luthers Katechismus-Einsicht erweist ebenfalls ihre Aktualität: Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott. Insofern haben wir viel Grund dazu, den Götzendienst unserer vermeintlich so säkularen Gesellschaft aufzudecken und ihm entgegenzutreten. Und wir haben viel Grund dazu, uns dankbar und mit Glaubensmut an die Barmer Theologische Erklärung zu erinnern und mit ihr zu bekennen: Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.

Amen.