Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis in St. Marien zu Berlin

Wolfgang Huber

I.
Ohne eigenes Zutun wurde ich unlängst Zeuge eines Gesprächs zwischen zwei jungen Mädchen. So engagiert waren sie bei der Sache, dass sie kein Auge dafür hatten, wer alles mithörte. Konflikte in der Familie waren das Thema. Vor allem die eine der beiden konnte gar nicht aufhören zu erzählen, wie unmöglich ihr Vater sei. Immer hätte er seine Arbeit im Sinn; etwas anderes kenne er gar nicht. Immer wolle er bei den Mahlzeiten zuerst angeboten bekommen und rege sich auf, wenn sie sich einfach nehme und mit dem Essen beginne. Immer achte er so aufs Geld. Das Mädchen liebte den Vater und rieb sich an ihm. Sie empörte sich über ihn und suchte doch seine Nähe. Sie fand, sein Verhalten sei unbeschreiblich und beschrieb es doch in einem fort.

Ich hörte zu und malte mir aus, was wohl zur gleichen Zeit der Vater über seine unmögliche Tochter erzählen mochte. Mir war sie sympathisch. Ich war nicht betroffen und konnte mich gut in sie hineinversetzen – aber in den Vater auch.

Das ist der Stoff, aus dem Konflikte gemacht sind. An Pubertätskonflikten kommt nur besonders deutlich heraus, wie es um uns steht: Wir suchen Nähe und Selbständigkeit zugleich; wir erwarten vom andern Einfühlung und tun uns schwer damit, sie selbst aufzubringen; wir erwarten oft mehr Rücksichtnahme von andern, als wir selbst einzuräumen bereit sind.

Oft gelingt der Ausgleich; manchmal gelingt er nicht. Manchmal ist die Toleranzschwelle überschritten – sehr häufig zu Unrecht. Er wünsche sich in einem Land zu leben – so hat Bundespräsident Horst Köhler in diesen Tagen sinngemäß gesagt - , in dem das Schild „Spielen verboten“ nicht mehr existiert und keiner sich mehr über Kinderlärm beschwert. Toleranz hat er eingefordert.

Das Wort Toleranz stammt aus dem Lateinischen. Tolerare und heißt übersetzt „ertragen“ und kann auch mit „erdulden“ wiedergegeben werden. Aufs Ganze gesehen sollten wir uns mehr Toleranz abverlangen und nicht weniger. Aber es gibt gewiss auch Grenzen der Toleranz. Die Gemeinde in St. Marien gehörte in letzter Zeit zu den Gemeinden in Berlin und im Umland, die von dem Gottesdienststörer Andreas Roy und seinen Kumpanen in Mitleidenschaft gezogen wurde. Sogar den Gottesdienst am Heiligen Abend hat einer von ihnen gestört. Andreas Roy selber hat sogar auf einem Friedhof in eine Beisetzung hineingebrüllt. Das ist ein Beispiel für ein Handeln, das nicht mehr tolerabel ist. Da ist jede Toleranzschwelle überschritten. In diesem Fall haben wir die Hilfe der Polizei erbeten und hoffen darauf, dass die Gerichte die Freiheit des Gottesdienstes wirksam schützen können.

In jeder Gemeinschaft ist beides nötig: Toleranz und eine Verständigung über deren Grenzen. Die Grenzen sind dort erreicht, wo ein Verhalten, das toleriert werden soll, selbst die Bedingungen von Toleranz aufhebt. Wer für sich Meinungsfreiheit fordert und dabei die Meinungsfreiheit beseitigt, wer für sich Glaubensfreiheit fordert, aber die Glaubensfreiheit der andern nicht achtet, braucht deutliche Stoppsignale – um der Toleranz willen. Gegenwärtig wird in unserem Land am Beispiel des islamischen Kopftuchs unterschwellig diese Frage diskutiert. Ist das ein Fall für ein Stoppsignal? Oder ist es ein Fall für Toleranz?

II.
Keine Gemeinschaft ohne Konflikte, keine Gemeinschaft ohne die Frage nach dem Verhältnis von Toleranz und Stoppsignal. Schon für die frühesten christlichen Gemeinden galt das. Sie durchlebten Konflikte; sie gehörten zur noch nicht erlösten Welt. Sie standen vor der Frage, ob sie mit diesen Konflikten anders umgingen als andere.

Auch von der frühen christlichen Gemeinde im Rom, der Hauptstadt des römischen Weltreichs galt das. Auch der Apostel Paulus hatte davon gehört. Er hatte die Gemeinde nicht selbst gegründet; er kannte sie nicht. Er schreibt an eine ihm persönlich nicht bekannte Gemeinde. Aber dass dort Streit herrscht, ist ihm nicht verborgen geblieben. Er spricht die Konflikte offen an, wenn auch erst gegen Ende seines Schreibens, dort, wo es um die Frage geht, welche Konsequenzen sich aus dem christlichen Glauben für den Alltag geht. Zu diesem Alltag gehören auch die Konflikte, die sich in der Gemeinde abspielen.

Zwei Hauptthemen lassen sich unterscheiden. Die einen sind zunächst in der jüdischen Gemeinde heimisch geworden und wollen auch als Christen den Sabbat heilig halten, den Feiertag der Juden. Die andern fühlen sich frei vom Gesetz und wollen das nicht. Zu schnell sollte man über den Sabbat-Treuen nicht den Stab brechen. Denn immerhin verdanken wir ihnen, dass es zum Sonntag kam. Ohne den siebten Tag der Juden gäbe es den ersten Tag der Christen nicht. Ohne die Tradition des alttestamentlichen Sabbat wäre es nicht zum wöchentlichen Sonntag gekommen, der noch heute Tag des Gottesdienstes und der Arbeitsruhe ist – wenn auch vielfach durchlöchert und gefährdet. Das Bundesverfassungsgericht hat seinen Schutz gerade wieder eingeschärft.

Der andere Streit handelt vom Essen. Die einen essen Fleisch, die andern sind Vegetarier. Die einen kaufen ihr Fleisch auf dem römischen Markt, auch dann wenn es von Opfertieren des heidnischen Opferkults stammt – den Reinen ist alles rein - , die andern halten sich davon fern; wenn überhaupt, dürften sie allenfalls koscheres Fleisch essen, so sagen sie. Die einen halten sich für stark; sie berufen sich auf die christliche Freiheit. Die andern werden für schwach erklärt; denn sie brauchen noch immer die Krücke alttestamentlicher Speisevorschriften, über die sie doch erhaben sein sollten. Und umgekehrt werfen sie, die für schwach Erklärten, den Starken Gleichgültigkeit vor, ein allgemeines Laisser-faire, das unvertretbar sei.

So ungefähr verlaufen die Konfliktlinien. Ein richtiger Alltagskonflikt. Denn wo es um Essen und Trinken geht, um das tägliche Brot, da steht der Alltag auf dem Spiel. Wie schlichtet der Apostel Paulus diesen Streit? Seine Stellungnahme heißt so:

DEN SCHWACHEN  IM GLAUBEN NEHMT AN UND STREITET NICHT ÜBER MEINUNGEN. DER EINE GLAUBT, ER DÜRFE ALLES  ESSEN; WER ABER SCHWACH IST, DER IST KEIN FLEISCH. WER IßT, DER VERACHTE DEN NICHT, DER NICHT IßT; UND WER NICHT IßT, DER RICHTE NICHT DEN, DER IßT; DENN GOTT HAT IHN ANGENOMMEN. WER BIST DU, DASS DU EINEN FREMDEN KNECHT RICHTEST. ER STEHT ODER FÄLLT SEINEM HERRN. ER WIRD ABER STEHEN BLEIBEN; DENN DER HERR KANN IHN AUFRECHT HALTEN. DER EINE HÄLT EINEN TAG FÜR HÖHER ALS DEN ANDERN; DER ANDERE ABBER HÄLT ALLE TAGE FÜR GLEICH. EIN JEDER SEI IN SEINER MEINUNG GEWIß. WER AUF DEN TAG ACHTET, DER TUT ES IM BLICK AUF DEN HERRN; WER IßT, DER IßT IM BLICK AUF DEN HERRN, DENN ER DANKT GOTT; UND WER NICHT IßT, DER IßT IM BLICK AUF DEN HERRN NICHT UND DANKT GOTT AUCH. DENN UNSER KEINER LEBT SICH SELBER, UND KEINER STIRBT SICH SELBER. LEBEN WIR, SO LEBEN WIR DEM HERRN; STERBEN WIR, SO STERBEN WIR DEM HERRN. DARUM: WIR LEBEN ODER STERBEN, SO SIND WIR DES HERRN. DENN DAZU IST CHRISTUS GESTORBEN UND WIEDER LEBENDIG GEWORDEN, DASS  ER ÜBER TOTE UND LEBENDE HERR SEI. DU ABER, WAS RICHTEST DU DEINEN BRUDER? ODER DU, WAS VERACHTETST DU DEINEN BRUDER? WIR WERDEN ALLE VOR DEN RICHTERSTUHL GOTTES GESTELLT WERDEN. DENN ES STEHT GESCHRIEBEN: SO WAHR ICH LEBE, SPRICHT DER HERR, MIR SOLLEN SICH ALLE KNIE BEUGEN, UND ALLE ZUNGEN SOLLEN GOTT BEKENNEN. SO WIRD NUN JEDER VON UNS FÜR SICH SELBST GOTT RECHENSCHAFT GEBEN. DARUM LASST UNS NICHT MEHR EINER DEN ANDERN RICHTEN; SONDERN RICHTET VIELMEHR DARAUF  EUREN SINN, DASS NIEMAND SEINEM BRUDER EINEN ANSTOß ODER ÄRGERNIS BEREITE.

III.
Die Botschaft ist klar. Die unterschiedliche Lebensweise der Schwachen und der Starken braucht die Gemeinde nicht zu zerreißen. Die Voraussetzung ist, dass er weder zu einer Diktatur der Starken noch zu einer Diktatur der Schwachen kommt. Weder die Mehrheit noch die Minderheit soll den andern einfach ihre Verhaltensweise aufzwingen. Jede Gruppe soll sich selbst fragen, ob sie eigentlich sich selbst lebt oder Christus, ob es um die eigenen Maßstäbe geht oder um das, was die Zugehörigkeit zu Christus deutlich macht. Leben wir, so leben wir dem Herrn; hier hat dieses oft verwendete Bibelwort seinen ursprünglichen Ort.  Dass diejenigen, die in den Einzelfragen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, gemeinsam an Christus glauben, darauf kommt es an. Sie können sich als Geschwister in ihrer Verschiedenheit wahrnehmen. Sie können sich gegenseitig die besten Motive im Glauben an Gott zugestehen.  Christus, so Paulus, ist für uns alle gestorben, als wir noch schwach im Glauben waren. Es kommt nicht auf eine bestimmte Stärke an. Wer weiß, ob die vermeintliche Stärke sich nicht gerade als Schwäche erweisen wird oder umgekehrt.

Gern sind wir Richter in eigener Sache. Bei diesem Verfahren stehen wir meistens gut da. Doch nicht einmal vor Gericht geht das. Es geht erst recht nicht vor Gott. Konflikte so auszuhalten, dass wir uns nicht vor Gott und den Menschen als Richter in eigener Sache aufspielen, ist der entscheidende Ratschlag dieses Sonntags.

Aber auch anderen Menschen steht es nicht zu, sich zum Herren über unser Leben und unsern Tod zu erheben. Ein letztes menschliches Urteil darüber, was unser Leben wert ist, ist keinem erlaubt. Jedem und jeder von uns kommt die gleiche Würde zu. Sie ist unveräußerlich; Gott selbst steht für sie ein. Gottes Eintreten für uns  gibt uns Gelassenheit. Denn unserem gesamten Leben ist seine wohlwollende Anerkennung gewiss.

Mit dieser Gelassenheit im Rücken kann ich mir bewusst machen, dass ich mein Leben Tag für Tag neu gestalten möchte. Dies geschieht zum einen im inneren Dialog mit mir selbst. Manchmal ruht mein Gewissen zwar. Aber manchmal ist es beunruhigt und fragt mich in innerer Zwiesprache nach dem Sinn und der Vertretbarkeit meines Handelns.

Rechenschaft aber verlangen auch unsere Mitmenschen. Auch hier versteht sich vieles von selbst; vieles ist durch Gesetze geregelt; in vielem wissen wir, welche Werte gelten und gelten sollen. Aber plötzlich durchbricht einer das, was für alle gilt; plötzlich fährt einer mit hundert Stundenkilometern durch die geschlossene Ortschaft. Dann fragen alle, was noch toleriert werden kann und was verboten bleiben muss.

Das Leben jedes einzelnen Menschen ist von Gott gewollt und vor ihm zu verantworten. Dieser letzte Wert ist heute so verbindlich wie zur Zeit der frühen Christenheit. Unentbehrlich ist er auch dafür, dass wir Konflikte austragen können, ohne übereinander zu richten. Sogar für den Pubertätskonflikt zwischen Vater und Tochter kann das helfen.
Auch dem Fürsten Bismarck hat das übrigens geholfen. In einem Tischgespräch sagte der berühmte Reichskanzler. Wie man ohne Glauben an Gott, der das Gute will, zusammenleben kann in geordneter Weise, das Seine tun und jedem das Seine lassen, begreife ich nicht. Wie sonst soll man die Vorrechte anderer ertragen und seine Pflicht tun? Hätte ich die wundervolle Basis der Religion nicht, so wäre ich dem ganzen Hofe der Hohenzollern schon längst mit dem Sitzzeug ins Gesicht gesprungen.

Ganz schön schmerzhaft wäre das gewesen, wenn Bismarck, der passionierte Reiter, dem Kaiser und all den andern Hohenzollern mit seinem Sitzzeug, mit Sattel und allem, was dazu gehört, ins Gesicht gesprungen wäre. Sein Glaube half ihm dabei, nicht so aus der haut zu fahren, dass es gefährlich wurde. So praktisch kann Glaube sein: Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet. Amen.