Predigt in der Auenkirche Berlin-Wilmersdorf

Wolfgang Huber

Gnade sei mit Euch und Frieden von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

LIEBE GEMEINDE!

I.

Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. So zitiert der Apostel Paulus das Alte Testament, die Hebräische Bibel. In der Epistellesung haben wir das vorhin gehört. Gern halten wir uns an diese Zusage von Gottes Gnade und Erbarmen. Wir verlassen uns darauf, dass wir dazu gehören. Gottes Gnade, so denken wir, ist jeden Morgen neu; in sein Erbarmen sind wir einbezogen.

Für lange Zeit allerdings brauchte die christliche Kirche für diese Gewissheit eine dunkle Folie. Der Umkehrschluss sollte genauso gelten: Wem Gott nicht gnädig ist, dem ist er nicht gnädig; wessen er sich nicht erbarmt, dessen erbarmt er sich nicht.

Das Volk Israel galt als der exemplarische Fall für diese Art von Rechnung. Ihm hatte, so hieß damals eine christliche Überzeugung, Gott seine Gnade entzogen. Ein bestimmtes Datum nahm man dafür als Anhaltspunkt. Es handelte sich um das Jahr 70 nach Christi Geburt, eine gute Generation nach Christi Kreuzestod und seiner Auferweckung. In diesem Jahr wurde unter dem römischen Kaiser Titus Jerusalem mitsamt seinem Tempel zerstört. An der Stadt Davids, die ein Jahrtausend lang das religiöse wie politische Zentrum Israels gewesen war, erfüllte sich damals, so sagte man, die Voraussage Jesu, die uns im Evangelium dieses Sonntags entgegengetreten ist: Es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde dich dem Erdboden gleichmachen und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast.

Der Tag, an welchem der Tempel in Jerusalem dem jüdischen Kalender zufolge zerstört wurde, ist der 9. Aw; in die erste Hälfte des August fällt dieses Datum, an dem das Judentum die Erinnerung an die Zerstörung des zweiten Tempels im Jahr 70 nach Christus mit dem Gedenken an die Zerstörung des ersten Tempels mehr als sechshundert Jahre vorher, im Jahr 587 vor Christi Geburt verbindet.

Für diesen Trauertag gibt das jüdische Gebetbuch ein Gebet vor, in dem es heißt:

Tröste, Herr, unser Gott, die um Zion trauern
und die um Jerusalem trauern und die Stadt,
die trauernde, zerstörte, verachtete und verödete.
Sie sitzt mit verhülltem Haupt
Wie eine unfruchtbare Frau, die nie geboren.
Darüber weint sie bitterlich,
und Jerusalem lässt ihre Stimme hören.

Diese Erinnerung ist vom kirchlichen Kalender aufgenommen worden. Am 10. Sonntag nach Trinitatis gedenkt die Kirche in zeitlicher Nähe zum 9. Aw der Zerstörung Jerusalems. Über die Jahrhunderte hat man das so gehalten. Eine Schilderung aus dem Jahr 1929 macht das am Beispiel evangelischer Gemeinden in der Oberlausitz sehr anschaulich. Die Gemeinde, die sich an diesem Sonntag zum Gottesdienst versammelte, trug Trauerkleidung, und der Kirchenraum war von Schwarz als liturgischer Farbe bestimmt wie am Bußtag oder am Totensonntag. In dieser Kleidung aber drückte sich auch der Gedanke aus, dass das Volk Israel von Gott verworfen sei: Wem Gott nicht gnädig ist, dem ist er nicht gnädig; wessen er sich nicht erbarmt, dessen erbarmt er sich nicht.

II.

Heute, liebe Gemeinde, können wir gar nicht anders, als diesen „Israelsonntag“ vom Holocaust und vom Mord am europäischen Judentum her anzuschauen. Mitten im sogenannten christlichen Abendland ist jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern mörderisches Unrecht zugefügt worden. Im Vergleich dazu nimmt sich die Zerstörung der heiligen Stadt wie eine Miniatur aus. Als christliche Gemeinde können wir an diesem Sonntag nicht die Zerstörung des Tempels als Gottes Gericht über Israel erinnern. Dieser Tag wird zu Gottes Gericht über uns als christliche Kirche. Zu Recht ist der Israelsonntag in vielen Gemeinden nicht nur ein Gedenktag an die Zerstörung Jerusalems. Er ist vielmehr ein Tag der Umkehr, an dem wir unserer Mitschuld gedenken und uns auf das lange verschüttete Evangelium besinnen, das die unverbrüchliche Liebe Gottes zu seinem Volk bezeugt.

Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland erklärte bereits 1950 in Berlin-Weißensee wegweisend: Wir glauben, dass Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist.

Die christlichen Kirchen sind durch ihre unheilvolle lange Tradition der Entfremdung und Feindschaft gegenüber den Juden hineinverflochten in die Vorgeschichte und Geschichte der Schoah. Diese Tradition hat den Verbrechen an den Juden den Boden bereitet. Das unermessliche Leid unzähliger Menschen gebietet uns, dass wir diese schmerzhafte Einsicht anerkennen.

Hatten einige Theologen unter Hitler versucht, nachzuweisen, dass Jesus von Nazareth eigentlich ein Arier gewesen sei, so ging es in den letzten Jahrzehnten darum, wie wir als Christen davon ablassen können, das Judentum als schwarzen Hintergrund für die lichte und helle Christusgestalt zu missbrauchen. Die Umkehr, die wir uns abverlangen mussten und müssen, bedeutet eine tief greifende Korrektur in Theologie und kirchlicher Haltung.

Viele haben dazu beigetragen und sich durch Widerstände nicht entmutigen lassen. In diesem Zusammenhang freut es mich besonders, dass der Berliner Theologe Prof. Dr. Peter von der Osten-Sacken und das mit unserer Kirche verbundene Institut für Kirche und Judentum für die Ehrung mit der Buber-Rosenzweig-Medaille nominiert wurden. Die Medaille wird Peter von der Osten Sacken und unserem Institut „Kirche und Judentum“ am 6. März 2005 in Erfurt für die Verdienste um den christlich-jüdischen Dialog verliehen werden. In diesem Jahr war Daniel Barenboim der Empfänger dieser wichtigen Medaille. Nun also unser Institut Kirche und Judentum, das 1960 an der Kirchlichen Hochschule in West-Berlin gegründet wurde. Wirklich unermüdlich haben die Mitarbeitenden seitdem die Abkehr des Protestantismus von theologischer und kirchlicher Judenfeindschaft gefördert. Mein Wunsch ist, dass solche Impulse auch in unseren Gemeinden aufgenommen werden. Dabei rege ich dazu an, sich ganz besonders an das Schicksal getaufter Juden in unseren Gemeinden zu erinnern. Einzelne Gemeinden haben sich schon auf Spurensuche begeben. Sie haben nach Menschen jüdischer Herkunft gefragt, die zur Gemeinde gehörten, und haben versucht, ihren Weg zu verfolgen – einen Weg, der allzu oft in Hitlers Konzentrationslagern endete. Das Forum für Erinnerungskultur unserer Landeskirche unterstützt sie dabei. Solches Erinnern hilft dabei, den Weg der Umkehr zu beschreiten. In solcher Umkehr begehen wir auch den Israelsonntag in einem neuen Geist.

III.

Der Weg, den ich beschrieben habe, kann uns auch hier in der Auenkirchengemeinde vor Augen treten. Denn auch hier fand die nationalsozialistische Rassenpolitik Unerstützung. Seit 1933 stellte die Gemeinde so genannte Ariernachweise aus und überließ 1938 den Behörden die Kirchenbücher als die wichtigste Datenquelle für die rassistische Bevölkerungspolitik. Im Jahr 1935 beteiligte man sich an einer Initiative, die eine besondere judenchristliche Gemeinde in Berlin zum Ergebnis haben sollte. Im selben Jahr, dem Jahr der Nürnberger Rassengesetze, drang der Gemeindekirchenrat den Pfarrern gegenüber darauf, dass sogenannte „Judentaufen“ nicht mehr vorgenommen werden sollten. Die rassistischen Vorgaben der NSDAP spiegelten sich – Gott sei’s geklagt – auch in den Beschlüssen des Gemeindekirchenrats. Weite Kreise unserer Kirche, die Auenkirchengemeinde eingeschlossen, hielten es damals für falsch, so genannte Volljuden zu taufen und damit in die Evangelische Landeskirche aufzunehmen. Dass dadurch zugleich Jesus von Nazareth aus der Kirche als „Volljude“ ausgegrenzt wurde, kam nur den wenigsten in den Sinn.

Heute steht uns allen klar vor Augen: Jesus aus Nazareth lebte im Glauben und aus der Geschichte seines jüdischen Volkes. Er war Sohn einer jüdischen Mutter. Am achten Tag nach seiner Geburt wurde er beschnitten und damit in den Bund Gottes mit Abraham und seinen Nachkommen aufgenommen. Er bewahrte die Tradition seines Volkes, indem er beispielsweise an hohen Festtagen nach Jerusalem pilgerte. Am Sabbat besuchte er die Synagoge. Dort oder im Jerusalemer Tempel diskutierte er in guter jüdischer Tradition über die Tora, Speisegebote, Reinheitsvorschriften, Ehescheidung oder die Auferstehung von den Toten. Selbstverständlich war die Hebräische Bibel – Israels heilige Schrift – seine Bibel, in deren Begrifflichkeit und Vorstellungen er dachte.

Der Apostel Paulus, auch er jüdischer Herkunft, hat in eindrücklicher Weise um das Verhältnis von Israel und dem Gottesvolk aus vielen Völkern gerungen. Wir hörten den Abschnitt bereits als Epistel: Sie sind Israeliten, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen. Die lange aufrechterhaltene kirchliche Tradition, die in Israel nur mehr eine Größe der Vergangenheit sah, lässt sich biblisch nicht rechtfertigen. Im Anschluss an die berühmten Kapitel 9-11 des Römerbriefes hat sich vielmehr die Überzeugung durchgesetzt, dass alle Juden, auch die nicht an Christus glaubenden, in der Kontinuität des Bundes und der Verheißung Gottes stehen.

Liebe Gemeinde, viele Fragen beschäftigen uns an einem solchen Tag. Bei Jesus Christus selbst können wir eine Antwort finden. Seine Treue zu dem Gott Israels birgt auch für uns die Verheißung eines Neubeginns in sich. Jesus hat das Gleichnis vom verlorenen Sohn erzählt; der Arzt Lukas hat es aufgeschrieben. Zwei Brüder leben auf dem Hof des Vaters. Ihnen gehört alles. Der eine lässt sich das gesamte Erbe auszahlen:  die Kindschaft, die Herrlichkeit, die Bundesschlüsse, das Gesetz, den Gottesdienst, das Alte Testament und die Verheißungen. Selbstbewusst und triumphierend zieht er hinaus in die Geschichte. Er verspielt alles und wagt es nicht mehr, sein Antlitz zu erheben. Er macht sich schuldig. In der Fremde erkennt er seine furchtbaren Taten. In seiner Not kehrt er voller Reue um und geht zurück zu seinem Vater.

Liebe Gemeinde, dieses Gleichnis gilt uns. Im Vertrauen auf Gott dürfen wir umkehren und auf Gottes Barmherzigkeit hoffen. Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.

Amen