Festpredigt zur Wiedereinweihung der Orgel in Radewege

Wolfgang Huber

Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Liebe Gemeinde!

Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker! So heißt das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes. Vorhin haben wir das als Schriftlesung aus der Offenbarung des Johannes gehört. Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker! Um dieser Botschaft willen spielt die Musik in unseren Kirchen eine so große Rolle. Um ihretwillen wird gesungen, sei es im großen oder im kleinen  Kreis. Um dieser Botschaft willen werden in unseren Kirchen Orgeln errichtet. Die „Königin der Instrumente“ steht in unseren Kirchen nicht, weil es um ihre eigene Ehre geht; sie steht dort auch nicht, weil es um unsere Ehre geht. Sie steht dort, damit sie zu Gottes Ehre erklingen kann.

Hier in Radewege erklingt die Orgel von neuem. Sie gewinnt ihren Klang wieder. Sie kann das Lob Gottes wieder zum Klingen bringen. Und sie kannn uns allen, Gästen von nah und fern, den Wohlklang der Musik wieder neu nahe bringen.

Deshalb ist heute ein besonderer Tag für Ihre Kirchengemeinde, für den Ort Radewege und für alle Förderer dieses Vorhabens. Miteinander haben Sie Mut zur Zukunft bewiesen und die Ärmel hochgekrempelt. Das Ergebnis lässt sich hören. Die Orgel erklingt mit ihrem vollen Klang. Sie steht wieder an ihrem ursprünglichen Ort. Heute nehmen wir die restaurierte Orgel im Gottesdienst der versammelten Gemeinde wieder in Gebrauch.

Dank des Fördervereins  wurde es möglich, dass Ihre Kirche wieder über eine funktionstüchtige Orgel verfügt. 110 Jahre, nachdem sie errichtet wurde, kann sie wieder erklingen. Sie dient damit dem Zweck, zu dem unsere Vorfahren dieses wie jedes andere Kirchengebäude errichtet haben. Ihr Gotteshaus ist die Versammlungsstätte der lebendigen Gemeinde. Hier kamen Generationen vor uns zusammen, um auf den Ruf des Evangeliums zu hören und ihn in die Welt hinauszutragen. In der Kirche versammeln auch wir uns, um inne zu halten und neu aufzubrechen.

Ein Gottesdienst ohne Musik ist nur schwer vorstellbar. Wenn es um die Tiefen und Höhen unseres Lebens geht, wenn ich meine Sorgen vor Gott bringen will oder mein Herz von Dankbarkeit erfüllt ist, dann reicht die Sprache nicht aus. Dann möchte ich meine Stimme erheben und einstimmen in die Lieder der Gemeinde. Wir kennen die Klagen in Moll  und den Jubel in Dur. Dabei geleitet uns die Orgel. Sie führt uns in die richtige Melodie hinein. Sie erneuert das Lied des Glaubens. Das Lied des Mose ist das Urbild dafür.

Warum ist das so? Als das Gottesvolk unter der Führung des Mose aus dem Haus der Sklaverei floh, wurde es von der ägyptischen Streitmacht verfolgt. Der Pharao wollte die Israeliten nicht in die Freiheit ziehen lassen. Sie sollten zurückkehren und weitere Frondienste leisten. Die Israeliten waren ohnmächtig und schwach. Ihnen standen keine Machtmittel zur Verfügung. Hoffnung auf ein anderes Leben gab es wohl, aber eine Perspektive war nicht erkennbar. Trotzdem schildern die fünf Bücher Mose keine Geschichte mit resignativem Grundton. Sie beschreiben vielmehr die atemberaubende Bereitschaft Gottes, sich in die Geschichte seines Volkes verwickeln zu lassen.

Gott gibt sich Moses im brennenden Dornenbusch zu erkennen und spricht zu ihm: „Ich habe mich euer angenommen und gesehen, was euch in Ägypten widerfahren ist. Ich will euch aus dem Elend Ägyptens führen in das Land der Kanaaniter, darin Milch und Honig fließen.“

Das Wunder des Exodus geschieht. Der Durchzug durchs Schilfmeer gelingt. Die Frauen, Männer und Kinder befinden sich plötzlich trockenen Fußes in der Freiheit. Das Meer der Tränen und der Angst liegt hinter ihnen. Vor ihnen eröffnet sich der weite Raum der Freiheit. Die Freude über die wunderbare Bewahrung in der lebensbedrohlichen Gefahr mündet in den Jubel der Israeliten. Sie stimmen ein in einen Gesang zum Lobe Gottes. Mirjam ergreift die Pauke und tanzt mit allen Frauen vor lauter Freude. Gott hat sein Volk befreit und aus der Sklaverei herausgerissen. Bis auf den heutigen Tag bildet der Exodus die Grunderfahrung der Israeliten mit Gott.

Diese Erfahrung findet ein vielfältiges Echo. Dieses Echo erreicht auch die Gemeinde des Neuen Bundes; es hallt auch im Neuen Testament wider. Auch der Abschnitt aus der Offenbarung des Johannes, den wir vorhin als Schriftlesung gehört haben, steckt voller Anspielungen auf den Auszug aus Ägypten. Dabei befinden wir uns in einer ganz anderen Zeit. Die Offenbarung des Johannes versetzt uns nämlich in die Situation der frühen christlichen Gemeinden in Kleinasien am Ende des ersten Jahrhunderts nach Christi Geburt. Dem ausgeprägten Kaiserkult unter dem römischen Imperator Domitian setzten diese frühen Christen Widerstand entgegen; zur gottgleichen Verehrung des Kaisers waren sie nicht bereit. Deshalb waren sie Verfolgungen ausgesetzt. Sie fühlten sich wie Verfolgte, ja wie Sklaven des Pharaos. Deshalb verstanden sie die Exoduserzählung des Alten Testaments gut. Ich lese den Abschnitt aus dem 15. Kapitel der Offenbarung noch einmal:

Und ich sah, und es war wie ein gläsernes Meer, mit Feuer vermengt; und die den Sieg behalten hatten über das Tier und sein Bild und über die Zahl seines Namens, die standen an dem gläsernen Meer und hatten Gottes Harfen und sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes: Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker. Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen nicht preisen? Denn du allein bist heilig! Ja, alle Völker werden kommen und anbeten vor dir, denn deine gerechten Gerichte sind offenbar geworden.

Die  Christen einer kleinen Gemeinde irgendwo in Kleinasien singen – wohl bemerkt: singen - das Lied des  Mose und das Lied des Lammes. Die überwundene Gefahr war groß. Ein großer roter Drachen mit sieben bekrönten Häuptern und 10 Hörnern bedrohte die Christen. Sein Schwanz fegte einen dritten Teil der Sterne des Himmels hinweg und warf sie auf die Erde. Dann trat der Drache vor die schwangere Frau, die gebären sollte. Er wollte, sobald sie geboren hätte, ihr Kind fressen. Gott aber entrückte sie und ihren Sohn. Er riss sie aus der Gefahr heraus.

Die errettete Gemeinde Gottes besteht in der Vision des Johannes aus den 144.000 von Gott versiegelten Menschen. Sie stehen am Ufer des gläsernen Meeres, wie einst Moses und Mirjam mit ihrem Volk. Sie gelten als teuer erkauft aus der großen Schar der Menschen. Sie sind die Erstlinge für Gott und das Lamm.

Liebe Gemeinde, wir leben derzeit im fünfzehnten Jahr nach dem heißen Herbst von 1989. Die Menschen saßen damals rittlings auf dem antifaschistischen Schutzwall und sangen fröhlich „Auf der Mauer, auf der Lauer sitzt ´ne kleine Wanze“. Manche sangen aus Ermangelung von gemeinsamen in Ost und West gleichermaßen bekannten Liedern die Internationale. In den Kirchengemeinden war dies anders. Es gab über die Grenzen hinweg eine gemeinsame Kultur des Gottesdienstes, des Feierns, Singens und Betens. Die Partnergemeinden aus Ost und West feierten in liturgischen Gottesdiensten zusammen das Freudenmahl. Dabei berufen wir uns bis auf den heutigen Tag auf die Einsetzungsworte, die auf Jesus Christus selbst zurückgehen. Wir beten das Vater unser und teilen Brot und Wein.

Heute stehen wir nicht mehr wie Moses und Mirjam am Schilfmeer. Wir blicken auch nicht wie die Geretteten am gläsernen Meer zurück auf eine unmittelbar überstandene Gefahr. Unsere Situation ist eine andere. Wir befinden uns vielmehr im fünfzehnten Jahr der Freiheit. Das Leben ist für einen großen Teil der Menschen nicht sorgenfrei. Es gibt keine blühenden Landschaften, die einem Schlaraffenland gleichen. Im Gegenteil. Der Zweifel, ob der Aufbruch in die Freiheit richtig gestaltet worden ist, nagt an manchen erheblich. Für viele ist die Freiheit karg wie die Wüste. Die Angst besteht, dass mit dem Arbeitslosengeld II eine Situation entstehen könnte, in der manche gezwungen sein werden, von der Hand in den Mund zu leben.

Auch das Volk Israel befand sich auf einer vierzigjährigen Wüstenwanderung. Die Mosebücher sprechen von dem Land, in dem „Milch und Honig fließen“. Wir hören das, als ob von einer Art Schlaraffenland die Rede ist. Doch das trifft gar nicht zu. Das Land, in dem „Milch und Honig fließen“, ist ein karges Gebiet zwischen Wüste und Kulturland; doch möglich ist auch unter diesen kargen Bedingungen, die Tiere der Nomaden so zu ernähren, dass sie Milch geben können. Und die Vegetation reicht dafür aus, dass wilde Bienenstämme in den Höhlen und Sträuchern nisten können. Es werden also keine überzogenen, schlaraffenlandähnlichen oder gar paradiesischen Erwartungen geweckt, wenn von dem Land die Rede ist, in dem „Milch und Honig fließen“. Auch wir wissen darum, dass es überzogene Erwartungen gibt, die nur Enttäuschungen produzieren können.

Das Gottesvolk  hat die vierzig Jahre der Wüstenwanderung durchgestanden. Die Israeliten wurden nicht verweht wie der Wüstensand. Die Christengemeinden unter Domitian und unter Stalin haben wie durch ein Wunder überlebt. Sie waren eingeschüchtert und dezimiert. Dennoch konnten sie ihren Glauben an die nächste Generation weitergeben. Dazu gehört die Erfahrung, dass Gott ihnen tatsächlich als Wolken- und Feuersäule voranging.

Liebe Gemeinde, die Erinnerung an das Freudenlied vom Schilfmeer sollten wir ebenso wenig verloren geben wie den Freudengesang der 144.000 Versiegelten am gläsernen Meer. Wir sollten nicht aufhören, unseren Gott singend zu loben. Die Erinnerung gilt als das Geheimnis der Erlösung. Insofern ist es unsere Aufgabe, uns immer wieder vorzusingen und zu erzählen, was in der Nacht geschah, als Jesus Christus verraten wurde, und was auf sie folgte: die Errettung aus Unfreiheit, Sünde und Tod.

Ich möchte mit einigen Gedanken von Renate Maria Heydenreich schließen, die sie 1961, also im Jahr des Mauerbaus, niedergeschrieben hat.

Der Tisch ist bereitet. Wir brechen Mazzot,
das ungesäuerte Aufbruchsbrot.
Das Salz der Tränen, die Frucht der Qual,
der Unfreiheit Bitterkraut würzt unser Mahl.
Im Becher glüht Wein. Und die Frage erwacht:
Was ist das Besondere dieser Nacht?

Da fällt die Zeit und der Raum wird weit,
 und heute wird damals und damals ist heut:
Zu Ende die Angst, die Verfolgung vorbei,
die Wende ist da: Diese Nacht macht uns frei!
Oh Wunder der Rettung, das neu uns geschah!
Wir sind seine Zeugen. Halleluja.

Es steigt die Zeit und der Raum wird weit,
und heut wird dereinst und dereinst ist heut.
Die Tür steht offen, der Becher ist voll:
Zu Pessach kommt, der da kommen soll.
Oh Wunder der Wunder, wann wirst du geschehn!
Wir warten des Kommenden. Amen. Amen.