Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis in St. Marien zu Berlin

Wolfgang Huber

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im 4. Kapitel des 1. Johannesbriefes. Hören wir diese biblischen Sätze noch einmal:

Ihr Lieben, lasst uns einander lieb haben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe. Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Darin besteht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden.
Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben. Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.

1.
Heute hören wir diese Sätze auf einem besonderen, auf einem dunklen Hintergrund. Das Strahlen dieses sommerlichen Sonntags kann die Bilder nicht vertreiben, die uns seit dem vergangenen Mittwoch beschäftigt, bedrückt und in Atem gehalten haben. Eine Stadt, deren Namen vorher nur wenige kannten, war plötzlich in aller Munde. Eine Region, die sonst im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit liegt, zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Das Gegenbild der Liebe verschlug uns den Atem. Was geschieht, wenn der Hass regiert, stand und steht uns allen vor Augen.

Am vergangenen Mittwoch, dem 1. September, begann in Russland das neue Schuljahr. Die Erstklässler freuten sich auf ihren ersten Schultag ebenso wie die Kinder in Berlin oder in Beeskow. Für jede Familie ist die Einschulung ein besonderes Ereignis. Der Stolz der Eltern mischt sich mit der Dankbarkeit dafür, dass das eigene Kind nun Lesen und Schreiben lernen und dadurch wichtige Schritte in die Welt hinein unternehmen kann. Eltern und Großeltern begleiten ihre Schützlinge mit Wohlwollen und guten Wünschen. Sie sollen sich in der Schule auf ihre Zukunft vorbereiten und es vielleicht eines Tages besser und leichter haben als Großeltern oder Eltern. Die Kinder, aber auch die Verwandten, die sie begleiten, werden sich besonders festlich gekleidet haben. Auch in der bis Mittwoch kaum beachteten Stadt Beslan im Nordkaukasus versammelten sich Schüler, Eltern und Lehrer zu einer Feier in der Schule. Etwa 1200 Menschen waren zusammengekommen.

Da stürmte eine Gruppe von etwa 34 schwer bewaffneten Terroristen die Einschulungsfeier. Aus dem Haus des Lernens und des festlichen Beisammenseins wurde von einem auf den nächsten Moment ein Ort des Grauens, aus dem es kein Entrinnen gab.

Die Angst und das Bangen der Betroffenen und ihrer Angehörigen wecken das Mitgefühl auf der ganzen Welt. Am Freitag eskaliert die Situation. Bis zum frühen Samstag morgen dauerten die Gefechte der russischen Spezialeinheiten mit einzelnen Terroristen auf dem Schulgelände an. 27 von ihnen wurden nach Angaben des Geheimdienstes getötet, drei festgenommen, vier konnten entkommen und werden weiterhin gesucht.

Immer wieder hat der Krisenstab seine Angaben über die Opferzahlen nach oben korrigieren müssen. Mindestens 250 Leichen wurden geborgen, darunter viele Kinder. Unter den Trümmern der Schule werden weitere Tote vermutet. Die Zahl der Verletzten wurde mit mehr als 700 angegeben. Sie werden in den Krankenhäusern von Beslan und seiner Umgebung versorgt. Die Ärzte ringen um das Leben von etwa 100 schwer verletzten Kindern.

In der nordossetischen Stadt Beslan müssen die Familien und Angehörigen nun Trauerfeiern ausrichten. Sie beweinen ihre Toten.

Liebe Gemeinde, wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Gerade an diesem Tag müssen wir es sagen: Der Hass hat nicht das letzte Wort. Ein Terror, der unschuldigen Kindern und deren Familien das Lebensrecht nehmen und sie für hasserfüllte Rachepläne wie Schachfiguren einsetzen will, richtet sich selbst. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen. Die Heilige Schrift widerspricht dem Kalkül des Terrors. Diejenigen, die sich auf Gott berufen, um anderen Menschen Leid anzutun, ziehen Gottes Gericht auf sich.  Wenn sie sich für ihr Tun auf ihren Glauben stützen wollen  – auf welchen Glauben auch immer – , missbrauchen und lästern sie den Namen Gottes und verstoßen gegen seine Gebote. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe.

2.
Niemand hat Gott jemals gesehen! Dieser Satz warnt uns vor jeder Art von Fanatismus, mit der wir Gott vor den eigenen Karren zu spannen versuchen. Die Hoheit Gottes, den niemand gesehen hat, gilt auch für islamistische Fundamentalisten. Sie gilt aber auch für christliche Fanatiker. Die Gottheit Gottes steht gegen jedes Bestreben, ihn zur Galionsfigur menschlicher Wahrheits- und Herrschaftsansprüche zu machen.

Ein langer, grausamer Konflikt ist in diesen Tagen auf schreckliche Weise eskaliert. Was geschehen kann, wenn Unversöhnlichkeit sich über Generationen aufgebaut hat, steht vor unseren Augen. Deshalb ist mehr notwendig, als nur mit Hörte dem Terror entgegen zu treten, so nötig das ist. Notwendig ist aber zugleich, einen Konflikt politisch zu lösen, der sich über Jahrzehnte, ja über Jahrhunderte aufgebaut hat. Denn Tschetschenien ist nicht erst im 20. Jahrhundert zu einem Konfliktgebiet geworden ist. Die Geschichte von Hass und Rache ist lang. Sie hat unermessliches Leid auf beiden Seiten hervorgerufen. Auf die von Stalin verordnete Zwangskollektivierung der Landwirtschaft reagierten die Tschetschenen in den dreißiger Jahren mit bewaffneter Gegenwehr. Mit Panzern und Luftangriffen schlug die Rote Armee den Widerstand nieder. Im Februar 1944 ließ Stalin fast eine halbe Million Tschetschenen in Viehwaggons nach Kasachstan deportieren. Der Vorwurf: Die Tschetschenen hätten im Zweiten Weltkrieg mit der deutschen Wehrmacht kollaboriert. Zehntausende Tschetschenen starben während des Transportes an Unterernährung, Krankheiten und Entkräftung. Viele weitere ließen ihr Leben in der kasachischen Steppe. So hängt das, was sich in Tschetschenien entwickelt hat, auf untergründige Weise auch mit unserer eigenen, mit der deutschen Geschichte zusammen.

Bis zum heutigen Tag ist es nicht gelungen, das tschetschenisch-russische Verhältnis auf einer friedlichen Basis zu erneuern. Die desolate Wirtschaftslage verschlimmerte sich durch Krieg und Terror zusehends. Kriminelle Banden versetzen durch Entführungen und hohe Lösegeldforderungen die Menschen im Kaukasus in Angst und Schrecken. Politisch erhielt der islamistische Fundamentalismus Zulauf - vor allem unter der desorientierten Jugend Tschetscheniens, die im Krieg gegen die Russen aufgewachsen ist.

im benachbarten Dagestan, das ebenfalls zu Russland gehört. Dort rief er eine islamische Republik aus und führte das strenge islamische Recht, die Scharia, ein.

Die Gewalt nimmt kein Ende. Im benachbarten Dagestan wurde vor fünf Jahren eine islamische Republik ausgerufen, in der das strenge islamische Recht, die Scharia herrscht. Auch das trägt zur Radikalisierung bei. Tschetschenische Gruppen führen bis heute einen brutalen Partisanenkrieg. Menschenrechtsgruppen kritisieren seit Kriegsbeginn das ebenfalls brutale Vorgehen der russischen Sicherheitskräfte gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung. Die russische Führung versucht dagegen öffentlich das Bild von einer Rückkehr zum normalen Leben in Tschetschenien zu zeichnen. Ein Frieden im Nordkaukasus ist unter den herrschenden Bedingungen in weite Ferne gerückt.

Die Frage wird immer drängender: Wer kann sich ernstlich wünschen, dass unsere Welt insgesamt in einen Gazastreifen verwandelt wird? Krieg und Gewalt verändern unsere Welt nicht zum Guten. Sie erzeugen nur Leid, Ohnmacht und Armut. Die Wahrheit ist mit Händen zu greifen, dass auf Hass und Gewalt kein Segen ruht. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen. Diese Wahrheit muss laut werden, gerade heute, gerade auch im Blick auf Tschetschenien.

3.
„Das waren keine Muslime“.  Raschid Chalikow, ein islamischer Geistlicher, sagte das in Moskau zu dem grauenvollen Geschehen in Beslan. Wer Kinder zu Geiseln nimmt, wer Frauen Gewalt antut, wer Männer von ihren Familien trennt, wer Menschen zu Hunderten dem Tod ausliefert, kann sich dafür nicht auf Gott berufen.

Es ist erschütternd: Kinder und Babys in der Hand von Gewalttätern, junge Mädchen notdürftig bekleidet auf der Flucht, Leichen am Straßenrand. Fanatiker sollen das gewesen sein, die sich auf den Islam berufen. Hoffentlich reagieren darauf viele so klar wie Raschid Chalikow.

Ein Beispiel gab es dafür in diesen Tagen. Französische Muslime setzten sich in Baghdad für die Freilassung von zwei entführten Journalisten ein. Sie machten klar, dass auch die Kritik am Verbot des Kopftuchs an Frankreichs Schulen niemals Entführung und Geiselnahme rechtfertigen kann.

Solche Klarheit wünsche ich mir auch von Muslimen in Deutschland. Ich bin sicher: Die Bilder aus Beslan haben sie genauso fassungslos  verfolgt wie ich selbst. Christen sehen diese Bilder mit einem Wort Jesu im Herzen, das über diesem Sonntag und der kommenden Woche steht: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern und Schwestern, das habt ihr mir getan.

Amen