Festpredigt zum 100jährigen Jubiläum des Verbandes der Friedhofsverwalter im Berliner Dom

Wolfgang Huber

Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Liebe Festgemeinde!

Jedes Jahr,
um die gleiche Zeit,
stirbt mein Herz deinen Tod.

Wenn
der Kalender
den Sommer anzeigt,
falle ich
mitten in den
Winter.

Wenn
die Natur
Bunt anlegt,
sehe
ich
Grau.

Wenn die Sonne
sich auf den
Gesichtern spiegelt,
ist sie
für mich
in Trauer.

Jedes Jahr,
um die gleiche Zeit,
sterbe ich
deinen Tod.

Um danach
Das Atmen
Neu zu lernen.

(Renate Salzbrenner, in: Bestattungsagende Entwurf, 338)


Renate Salzbrenner ruft uns mit ihren Versen in Erinnerung, was es bedeutet, einen geliebten Menschen zu verlieren. Trauernde finden heute oft nur wenig Verständnis für ihre Gefühle. Häufig meiden Nachbarn, Freunde und Verwandte den, der um einen Menschen trauert. Sie wissen nicht, wie sie sich dem Betroffenen gegenüber verhalten sollen.

Darin zeigt sich: Im Umgang mit dem Tod sind wir unsicher geworden. Unsere Gesellschaft meidet die Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit des Menschen. Selbst im vertrauten Kreis der Familien findet kaum ein Dialog zum Thema Tod und Sterben statt. „Herr, lehre mich bedenken, dass ich sterben muss, auf dass ich klug werde.“ Diese biblische Mahnung verhallt weithin ungehört. Beim Tod eines Angehörigen können viele Menschen mit der Wucht der Verlustgefühle nur schwer umgehen. Sie erleben sich selbst als gelähmt und hilflos. Gleichzeitig fühlen sie sich unter den Entscheidungsdruck gesetzt, die anstehende Trauerfeier, die Bestattungsart und den Friedhof schnell auswählen zu müssen. Und weil der Tod zu Lebzeiten „namenlos“ blieb, wird dann oft auch der Tote der Namenlosigkeit ausgeliefert. Anonyme Bestattungen gehören deshalb zu den Zeichen unserer Zeit. Der Verzicht auf kirchliches Geleit, in erheblichem Umfang sogar bei Menschen, die der Kirche angehören, prägt vor allem in Großstädten das Verhalten.

Gewiss muss jede Generation neue Wege gehen, auch in der Gestaltung von Abschied und Totengedenken. Aber für jede Generation ist es zugleich wichtig, dass dieses Gestalten nicht ins Leere hinein geschieht. Sie kann anknüpfen an eine gewachsene Kultur und an gestaltete Rituale. So lange wir menschliche Kultur kennen, begegnen wir solchen Ritualen. Ja genauer noch: Die ältesten Zeugnisse menschlicher Kultur verdanken wir der Tatsache, dass Menschen bestattet wurden. Die Grabbeigaben, die ihnen mitgegeben wurden, bezeugen uns alte Kulturen, die sonst vollständig versunken wären. Das gilt für Mitteleuropa genauso wie für Ägypten oder Mexiko.

Wie hoch diese Kultur in biblischer Zeit bewertet wurde, zeigt das Ende des ersten Mosebuches, das wir gerade als Schriftlesung gehört haben. Jakob stirbt in Ägypten, aber beerdigt werden will er in seiner Heimat, im Lande Kanaan. „Zu seinen Vätern wurde er versammelt“, wie das Sterben hier bezeichnet wird; bei seinen Vätern soll er deshalb auch seine letzte Ruhestätte finden. Ein beträchtlicher Aufwand ist dafür nötig. Denn der Weg von Ägypten nach Kanaan ist weit, unter damaligen Transportbedingungen ist er auch lang. Der Leichnam muss einbalsamiert werden, was man freilich in Ägypten meisterlich erlernen konnte. Für den Transport steht die lange Klagezeit zur Verfügung: 72 Tage dauerte sie für ägyptische Könige, so wird uns berichtet, 30 Tage sind uns als Trauerzeit für Mose und seinen Bruder Aaron überliefert, nur sieben Tage waren es im Fall des Königs Saul. Um Jakob jedenfalls, der Stammvater des Volkes Israel, wird wie um einen geachteten König getrauert; und in der Heimat, in der Makpelahöhle, wird er zu Grabe getragen. Nicht nur sein Geist versammelt sich zu seinen Vätern; auch sein Körper findet dort seine Ruhestätte, wo schon Abrahams Körper gebettet worden war. Auch im Tod bricht die Kette der Generationen nicht.  

Die Erfahrung des Sterbens ist Teil des Lebens. Angesichts des Todes entsteht in besonderer Weise das Bedürfnis nach Vergewisserung und Orientierung. Friedhöfe sind, von den ältesten Zeiten an über alle Stadien der Hochkultur bis zur Friedhofsgestaltung heute, Ausdruck der Achtung vor der Würde des Menschen im Angesicht von Sterben und Tod. Der tiefste Sinn der Bestattungs- und Friedhofskultur ist es, die Würde des Menschen auch über seinen Tod hinaus zu achten und dieser Achtung Gestalt zu geben. Genau dies ist von Anfang an ein Grundanliegen der Christenheit: Die würdige Bestattung gehörte seit Anbeginn zu den Werken der Barmherzigkeit, die schon zur Zeit des römischen Reiches von den Christen so intensiv gestaltet wurden, dass die ersten Gemeinden auch als Bestattungsvereine missverstanden werden konnten. Der christliche Glaube spricht dem einzelnen Menschen eine unantastbare Würde zu. Er darf nicht auf seine „Nutzfunktion“ oder seinen gesellschaftlichen Wert reduziert werden. Jeder Mensch hat vielmehr einen „unendlichen“ Wert, der sich auch darin ausdrückt, dass er nach seinem Leben nicht in anonymer Weise verscharrt, sondern in guter Form bestattet wird. Christen vertrauen darauf, dass Gottes Macht größer ist als der Tod. Diese Glaubensgewissheit findet ihren Ausdruck in der christlichen Friedhofskultur.

Ihr Verband hat es sich im Bündnis mit verschiedenen Partnern zur Aufgabe gemacht, den Menschen im Trauerfall beizustehen. Gleichzeitig ist es Ihr Anliegen, die gewachsene Friedhofskultur zu bewahren, zu fördern und weiterzuentwickeln. Ich freue mich mit Ihnen, dass Sie heute auf eine hundertjährige Geschichte Ihres Verbandes zurückblicken können, und wünsche Ihnen für die nächsten hundert Jahre eine segensreiche Arbeit. Denn ich würdige und unterstütze Ihr Bemühen ausdrücklich. Ich sehe darin einen wichtigen Beitrag dazu, menschliches Sterben nicht zu verdrängen, sondern als einen Teil des Lebens wahrzunehmen. Mir ist solches Bemühen wichtig, weil wir auch im Umgang mit unseren Toten zeigen, wie wir über die Würde des Menschen denken.

Das kirchliche Zeugnis angesichts des Todes ist darauf angewiesen, dass eine Kultur des Abschiednehmens und Bestattens lebendig bleibt. Betroffen sind wir als Kirche auch in einem ganz unmittelbaren Sinn. Ungefähr die Hälfte der Friedhofsfläche in dieser Stadt ist in kirchlicher, ganz überwiegend in evangelischer Trägerschaft. Sie – auch in ihrer historischen Bausubstanz – zu bewahren und angemessen zu nutzen, stellt eine gewaltige Herausforderung dar. Meine Auffassung trifft es deshalb nicht, wenn man heute in einer Zeitungsüberschrift lesen kann: „Kitaplätze statt Friedhöfe fördern.“ Ich halte das vielmehr für eine abwegige Alternative: Kinder zu fördern oder den Toten die Ehre zu geben. Meine Überzeugung heißt: Für eine menschengerechte Gesellschaft ist das eine so nötig wie das andere.

Einer unserer Friedhöfe geht mir durch den Sinn, weil er ungefähr so alt ist wie Ihre Vereinigung, also ungefähr hundert Jahre. Ich meine den berühmten Stahnsdorfer Südwest-Friedhof; er ist einer der eindrucksvollsten Waldfriedhöfe überhaupt. Viele Wege führen durch diesen Friedhof. Aber an der Gabelung des großen Hauptweges trifft jeder Gast auf die beeindruckende Christus-Gestalt von Ludwig Manzel. Jesus Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene, bildet die Mitte. Er wendet sich den Mühseligen und Beladenen zu. Er richtet die auf, die unter der Last des Todes leiden. Diese Hoffnung kann und soll von jedem Friedhof ausgehen. Denn über jedem Tod leuchtet das Licht der Auferstehung.

Amen