Predigt zum Reformationstag im Rundfunkgottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu Berlin

Wolfgang Huber

Liebe Gemeinde hier in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche   - und ebenso: liebe Gemeinde, die zuhörend mit uns verbunden ist!

Gerade Ihnen, die Sie diesen Gottesdienst am Radio verfolgen und mitfeiern, möchte ich die wunderbare Christusfigur beschreiben, die hier in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche hängt. Und Sie, die Sie zum Gottesdienst in dieser Kirche versammelt sind, können ja Ihren Blick mit mir gemeinsam auf diesen Christus wenden, der hier – ja, ich sagte: „hängt.“ Doch Sie werden mir zustimmen, dass man eigentlich sagen müsste: er schwebt! Der Christus schwebt über dem Altar wie ein Barlachengel – allerdings von gewaltigen Ausmaßen, in einem Gold, das Ernst Barlach ganz fremd gewesen wäre. Seine Arme sind so weit ausgebreitet, dass die ganze Christusfigur wie ein Kreuz erscheint. Doch die Arme werden nicht mit Nägeln im Holz gehalten; sondern es ist gerade so, als wollten sie sich im nächsten Moment um den Betrachter schließen, so dass er ganz aufgenommen wäre in die Arme des gekreuzigten Christus, der doch lebt und Leben schenkt.

Dieser Christus, liebe Gemeinde aus Hörenden und Sehenden, ist eine Interpretation des Kreuzes Christi, die ganz in das Licht von Gottes Gnade getaucht ist. Er veranschaulicht auf eindrückliche Weise  den Satz, auf den der Predigtabschnitt dieses Reformationstags hinausläuft, den Satz des Apostels Paulus: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“!

Dieser Satz steht so zentral für das Geschehen der Reformation wie kein anderer. Martin Luther schrieb deshalb neben diesen Abschnitt an den Rand seiner Übersetzung aus dem Jahr 1522: „Merke, dies ist das Hauptstück und die Mitte dieser Epistel und der ganzen (Heiligen) Schrift.“ In diesem einen Satz ist die tiefe und befreiende Wahrheit zur Sprache gebracht, mit der Gott uns Menschen gleichermaßen konfrontiert wie beschenkt: An dir liegt es nicht! Sondern an Gott allein! Die Erkenntnis dieser Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch ist die eigentlich reformatorische Grundschicht, die immer wieder neu zur Geltung gebracht werden muss.

In drei Schritten will ich dies am Reformationstag 2004 entfalten – immer mit dem Blick auf den Christus hier in dieser Kirche.

Allein durch den Glauben: das heißt heute, Klarheit zu gewinnen und innerlich frei zu sein.

In Eric Tills Lutherfilm, der im zurückliegenden Jahr viele Menschen neu auf Martin Luther aufmerksam gemacht hat, wird in einer eindrücklichen Szene die Botschaft von der geschenkten Gnade Gottes sinnenfällig veranschaulicht: Der junge Mann Luther, der einen Selbstmörder beerdigt, predigt einer ängstlichen Gemeinde aus Totengräbern und zufälligen Zuhörern von Gottes unendlicher Barmherzigkeit. Die reformatorische Entdeckung von der freien Gnade Gottes, die an einer anderen Stelle des Films auch in ihrem kontroversen theologischen Gehalt dargestellt wird, ist hier in das knappe Bild gefasst, dass Gottes Barmherzigkeit über dem Grab eines Selbstmörders verkündigt wird.

Es war genau diese Entdeckung, die zur Triebfeder des Aufbruches aus dem Mittelalter wurde. Denn jedem Menschen sprach sie eine unverdiente Würde vor Gott und deswegen auch eine unantastbare Würde in der Welt zu, die durch nichts und niemanden mehr zu nehmen ist. Darin verankert sie eine Gewissensfreiheit, in der jener Glaubensmut gründet, für welchen die Reformation ein unvergessliches Symbol geschaffen hat: Der aufrechte Luther vor Kaiser und Reich mit seinem „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.“

Die Glaubenscourage , die in diesen Worten zum Ausdruck kommt, ist in vergleichbarer Weise auch von Paulus überliefert. Schwach waren diese Menschen nicht, die so nachdrücklich darauf beharrten, vor Gott allein im Glauben bestehen zu können: „Aus Gottes Gnade bin ich, was ich bin“ – wie Paulus diese Haltung beschrieb. Was für Menschen waren das! Die so aus tiefstem Herzen Vertrauen wagen konnten! Was hatten sie für eine innere Klarheit gewonnen!

Sind sie frei gewesen von dem, was gefangen nimmt – Sorgen um die Zukunft oder den Weg der Kirche? Frei von dem, was einschüchtern kann – Unwahrhaftigkeit oder Gewalttat? Sind sie denn auch dem Repertoire unserer eigenen Unfreiheiten begegnet?

Von Luther wissen wir um seinen immer wieder aufflammenden inneren Kampf. Dennoch war er entschieden. Innere Freiheit hängt an Klarheit. Nur wer gefunden hat, was für ihn wichtig ist, kann Freiheit erfahren. Nur wer ein Ziel klar vor Augen hat, kann anderen Zielen gegenüber Unabhängigkeit  bewahren. Denn frei ist nicht, wer angesichts von Vielfalt nur die Qual der Wahl hat, sondern wer der Vielfalt aus innerer Entschiedenheit heraus zu begegnen vermag. Nur wer das Eine ohne Reue liegen lassen kann, weil er das Andere kennt, dem er sich verpflichtet weiß – nur der ist frei. Frei im Glauben, frei durch Christus, frei für die Liebe.

Bevor man begann, von einer Zivilcourage zu sprechen, die den aufrechten Bürger auszeichnet, trat das Bild einer Glaubenscourage in die Welt, die aus der Freiheit eines Christenmenschen wächst. Die Glaubenscourage, zu der die Reformation ermutigt, hat damit zu tun, dass die Würde des Menschen vor Gott und vor der Welt auch, ja gerade dann festgehalten wird, wenn sie in der Wirklichkeit mit Füssen getreten wird.

Die Christusfigur vor uns ist von beeindruckender Klarheit. Sie zeigt die Haltung des Gekreuzigten. Und sie ist zugleich von der Freiheit dessen geprägt, der „die Welt überwunden“ hat.

Allein durch den Glauben: das heißt heute auch, beharrlich und hoffnungsvoll einzutreten für die Welt.

Allein durch Glauben vor Gott Anerkennung zu finden bedeutet weder, um der Seligkeit willen bestimmte Werke zu tun, noch jegliches gute Werk auf sich beruhen zu lassen. Weder Gesetzlichkeit noch Gleichgültigkeit entsprechen diesem Glauben. Weder der erhobene Zeigefinger der moralischen Belehrung noch die wegwerfende Handbewegung  des Laissez-faire entspricht der Freiheit eines Christenmenschen. In den Worten Martin Luthers: „Der Christ hat an dem Glauben genug und bedarf keines Werkes mehr, damit er gerecht wird. Bedarf er aber keines Werkes mehr, ist er gewiss von allen Geboten und Gesetzen entbunden; und ist er entbunden, so ist er frei. Das ist die christliche Freiheit: der Glaube allein, der bewirkt, nicht dass wir untätig sein oder Böses tun möchten, sondern dass wir zur Gerechtigkeit und um die Seligkeit zu erlangen keines Werkes bedürfen.“

Die Pointe besteht in der Anerkennung vor Gott: Im Blick auf sie ist kein Werk nötig. Doch genau dies eröffnet Freiheit und Klarheit für das Tun. Unser Beten führt in das Tun des Gerechten – so hat Dietrich Bonhoeffer diesen Zusammenhang gekennzeichnet.  Und er hat hinzugefügt, dass wir in unserem Beten und in unserem Tun des Gerechten auf Gottes Zeit warten. Deshalb allein kann unser Handeln entschlossen und gelassen zugleich sein: klar in dem Ziel, dem Nächsten zu Gute zu kommen, und eindeutig in dem Bewusstsein, dass wir es nicht sind, die Gottes Zeit herbeiführen.


Was für uns als einzelne gilt, gilt auch für unsere Kirche. Gut von Gott zu reden und dem Nächsten Gutes zu tun: dies bleiben ihre Hauptaufgaben in üppigen wie in kargen Zeiten, unter leichten Bedingungen wie unter schweren. Diese beiden Grundvollzüge von Kirche bleiben auch dann auf alle Menschen bezogen, wenn die Zahl derjenigen kleiner wird, die diese beiden Grundhandlungen selbst kennen und stellvertretend für andere vollziehen. Indem wir gut von Gott reden und dem Nächsten Gutes tun, bleiben wir Botschafter der Hoffnung, die über alles menschenmögliche Hoffen hinausgeht.

Blicke ich auf den Christus hier in der Kirche, ist er von einer enormen Präsenz und doch zugleich unaufdringlich. Er kommt nahe, ohne zu vereinnahmen. Er begleitet, ohne sich im Hintergrund zu verlieren. Ein Eintreten für die Welt symbolisiert er, das aus keinem anderen Grund und mit keinem anderen Motiv geschieht als „allein durch den Glauben“.


Und deshalb schließlich auch dies: „Allein durch den Glauben“ heißt heute, Ideen zur Erneuerung der Kirche zu entwickeln.

Die These, die Kirche bedürfe stets der Reformation – ecclesia semper reformanda – , ist keine Schönwetterparole, die Auskunft über die Verwendung von verfügbarem Geld gibt: nämlich zu Zwecken der Kirchenreform. Nein: Diese These betrifft den Kern des reformatorischen Selbstverständnisses. Auch als Kirche haben wir keinen Zugang zu diesem „allein durch den Glauben“ als durch Umkehr und Neubeginn.

Auch die Kirche muss die Befreiung von der Schuld immer wieder neu erfahren. Wo immer sie die Gleichheit der Menschen vergessen, die Verletzung der Gerechtigkeit verschwiegen, die königliche Freiheit der Kinder Gottes verachtet hat, muss sie zu ihrer Schuld stehen. Aber in der Kirche wie jenseits ihrer Grenzen wird sich kein anderer Maßstab finden, der für solche selbstkritische Aufklärung eine radikalere Basis abgäbe, als die Botschaft von Gottes freier Gnade selbst. Die kritische Betrachtung des Weges der Kirche führt deshalb nicht vom Evangelium weg; sie führt vielmehr tiefer in das Evangelium hinein.

Ich sage dies zunächst im Blick auf die evangelische Kirche. Doch ich wage es, diese Einsicht auch ökumenisch auszuweiten: Wir haben in den Kirchen eine beschämend lang dauernde Lerngeschichte hinter uns bringen müssen, bis wir mit dem reformatorischen Freiheitsimpuls im eigenen Bereich konstruktiv umzugehen und auch seine gesellschaftlichen Folgen zu bejahen vermochten. Jetzt aber wollen wir festhalten, was uns an Erkenntnis zugewachsen ist.

Welche Gestalt eine zu Umkehr und Erneuerung bereite Kirche braucht, lässt sich vielleicht an dem schönsten deutschen Wort ablesen, das für das Jahr 2004 ausgewählt worden ist, dem Wort „Habseligkeit“. Wirklich ein eigentümliches Wort:  Etwas haben, das selig macht. Unscheinbar zwar, ein wenig verrückt, scheinbar wertlos, und doch unendlich bedeutsam. Ein Schatz in irdener Hülle.  Gottes Wort in Menschenmund. Wenn die Christinnen und Christen, Kirchengemeinden und Landeskirchen ihre „Habseligkeiten“ packen würden, dann wäre dies ein Prozess der Konzentration: Was ist die eiserne Ration meines Glaubens? Was eigentlich ist für den Weg unserer Kirche nötig? Was ist ihr unverzichtbares Gut? Und was kann außen vor bleiben? Dies sind die Testfragen der Reformation an die ecclesia semper reformanda.

Der Christus hier in der Kirche konzentriert auf das Wesentliche. Er ist in Kreuzform gehalten. Er stellt den auferstehenden Christus dar. Er hat empfangende Arme. In diesem Dreiklang von Leiden, Hoffnung und Liebe ist die Grundschicht des Glaubens aufgedeckt, die so oft überlagert wird. Eine reformatorische Zeitansage für eine Kirche mit Zukunft hängt daran, dass wir diesen Grundimpuls der Reformation für unsere Zeit aufnehmen. Durch Konzentration auf das Wesentliche wollen wir das Feuer wieder entfachen, das in der reformatorischen Glut unserer Kirche enthalten ist. Wir wollen die geistliche Substanz wieder frei legen, um die es damals ging und heute geht. Gottes freie Gnade wollen wir verkündigen, damit Menschen ihre Freiheit wahrnehmen und nach ihr leben. In dieser Freiheit können sie Gott Gott sein lassen, weil sie nicht mehr selbst Gott spielen müssen. Sie können menschlich werden und handeln – in Verantwortung vor Gott und den Menschen. Sie können sich beteiligen am Aufbau eines kulturellen Gedächtnisses, das wert schätzt, was uns an Eigenem anvertraut ist, ohne es absolut zu setzen. Sie können eintreten für eine solidarische Gesellschaft, in der die Wahrnehmung des Fremden so wichtig ist wie das Eintreten für die Schwachen und das Fechten für die Lebensrechte derer, die nach uns kommen. Für diese Aufgabe blicken wir auf den Christus, der uns durch das Leiden hindurch als Zeuge der Hoffnung und der Liebe entgegentritt.

Amen.