Predigt zum Jahresbeginn 2005 im Berliner Dom

Wolfgang Huber

Predigt über die Jahreslosung für das Jahr 2005 aus dem Lukasevangelium: Jesus Christus spricht: „Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre.“

Wieder festen Grund unter den Füßen

I.

Heute kommt Christus selbst unserem Glauben zu Hilfe. So finden wir wieder festen Grund unter den Füßen.

Haben Sie es einmal erlebt, dass der Boden unter Ihnen wankt? Ist es Ihnen schon  widerfahren, dass eine plötzliche Wasserwoge Ihnen die Füße wegzieht? Sind Sie schon einmal Zeuge eines Unglücks geworden, bei dem Menschen in großer Zahl ihr Leben lassen mussten?

Schrecken solcher Art sind Teil unseres Lebens. Immer wieder wühlen sie uns auf. Unfassbar sind sie. Immer wieder erleben wir sie wie zum ersten Mal. Ein Unglück ohne jeden Vergleich: so haben wir auch die Flutkatastrophe in Südasien empfunden.

Nur einen Langstreckenflug ist die Unglücksregion von uns entfernt. Der Knopf der Fernbedienung bringt uns die Schreckensbilder ins Haus. Ungläubig schauen wir auf diese Bilder. Menschliche Behausungen, vom Wasser einfach fortgespült, Eisenbahnzüge,  einfach aus den Gleisen gehoben, Ferienbungalows zertrümmert, Menschenleben abgebrochen.

Worin hat menschliches Leben Bestand, wenn es so plötzlich ein Ende finden kann? Worin hat es seinen Sinn, wenn es an einem derart sinnlosen Wüten der Natur scheitert? Worauf können wir hoffen – für die Opfer der Flutkatastrophe im Indischen Ozean, für ihre Hinterbliebenen, für die Menschen unter uns, die um ihre Angehörigen bangen, für uns selbst?

„Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre.“ So heißt das biblische Wort, das uns durch dieses Jahr 2005 geleiten soll. Jesus Christus sagt das. Jesus Christus selbst betet für uns, für unsere Welt, für jede und jeden von uns. Er legt sich unseren Glauben auf die eigene Seele. Wo wir ungläubig auf die Schrecken dieser Tage schauen, steht er betend für unseren Glauben ein. Wo wir alle Hoffnung fahren lassen, wird er zum Bürgen für unsere Hoffnung. Wo wir angesichts des tausendfachen Todes verzagen, wird er selbst zum Tröster.

Es ist ein befremdlicher Beginn des neuen Jahres. Nicht der Silvesterkater steckt uns in den Knochen, sondern der Schrecken ist uns in die Glieder gefahren. Die Todesangst der Menschen in Südasien ist zu unserer Angst geworden; das Leid der Familien, die nahe Angehörige vermissen, ist zu unserem Leid geworden. In diesem befremdlichen Beginn erreicht uns ein Trost, wie wir ihn uns nicht selber sagen können. Nicht unser eigenes Gebet stiftet diesen Trost, sondern das Gebet Jesu. Wir können heute selbst wieder die Sprache des Gebets finden, weil Jesus für unser Gebet einsteht. Er selbst hat für uns gebetet. In unserer Ratlosigkeit können wir uns an die Zusage halten, dass Gottes Sohn uns in sein Gebet einschließt. Über dem heutigen Tag und über allen Tagen dieses neuen Jahres steht der Trost, dass wir in unseren schwachen wie in unseren starken Stunden nicht allein sind. Wenn unser Glaube ins Wanken kommt, gibt es einen, der um unseren Glauben betet. Dann sagt Jesus Christus zu uns ganz persönlich: „Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre.“

In dieser Zusage spiegelt sich die Barmherzigkeit Gottes in ihrer Fülle. Im Wort Jesu ist beides zusammengehalten: die Angefochtenheit unseres Glaubens und der Reichtum von Gottes Gnade. Beides ist in dem Gebet Jesu miteinander verbunden, wie Menschheit und Gottheit in seiner Person, wie Kreuz und Auferstehung in seinem Leben.

Christus selbst kommt unserem Glauben zu Hilfe. Das ist das rettende Wort am heutigen Tag.

II.

Die Zusage Jesu, die uns am Beginn dieses neuen Jahres leitet, entstammt einem Gespräch. In einem Jerusalemer Haus ist Jesus mit seinen Jüngern, vielleicht auch mit Jüngerinnen, zu einem letzten gemeinsamen Mahl zusammen. Nach dem Ende der Mahlzeit spricht er persönlich mit einzelnen von ihnen. Eines dieser Gespräche gilt Petrus, der sich kurz zuvor mit besonderem Nachdruck zu ihm bekannt hatte, als er sagte: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ Ihn, der seinen Mut und seine Selbständigkeit  besonders deutlich zeigen wollte, erinnert Jesus an seine Grenzen: Die wahren Proben seines Glaubens liegen noch vor ihm.

Jesus hat klar vor Augen, dass durch sein bevorstehendes Leiden und Sterben für die Jüngerinnen und Jünger eine Situation entsteht, in der nicht mehr gefragt wird, wer von ihnen der Stärkste oder der Erste ist. Auf diesen Rangstreit antwortet Jesus mit der ohnehin klaren Weisung: „Der Größte unter euch soll sein wie ein Diener.“ Sondern angesichts von Leiden und Tod wird es um die Frage gehen, wer überhaupt in der Nachfolge Jesu bestehen, wer Nachfolgerin oder Nachfolger Jesu bleiben wird. Denn nun werden sie es selbst erleben, dass der Boden unter ihnen wankt, dass eine gewaltige Erschütterung ihnen die Füße wegzieht, dass sie Zeugen eines Unglücks werden, das alles in Frage stellt. Ihr Leben und die Welt um sie herum: alles wird so durcheinander gewirbelt werden, als wenn Körner auf einem Weizensieb geschüttelt werden – immer in der Gefahr, durch das Sieb hindurchzufallen.

Petrus scheint die Warnung zu überhören. Auch angesichts der äußersten Gefahr kündigt er an, er sei schon bereit, sie aus eigener Kraft zu bestehen. Als Held des Leidens will er sich präsentieren, der sich für Jesus ganz und gar hingibt, der mit ihm auch ins Gefängnis oder in den Tod geht. Doch Jesus wehrt den Versuch des Petrus, sich in die vorderste Reihe der Leidenden zu stellen, glatt zurück. Denn es geht gar nicht um die eigene Bereitschaft zu leiden und zu sterben. Glaubensstärke zeigt sich nicht im vorschnellen Hinnehmen des Leidens oder gar in der eigenmächtigen Preisgabe des eigenen Lebens. Nachfolgen heißt nicht Stärke zeigen, sondern stärken und gestärkt werden. Mit seinem Gebet nimmt Jesus Petrus vor seiner übersteigerten Leidensbereitschaft in Schutz. Er wendet seinen Blick dorthin, woher er Stärke empfangen kann: aus der Barmherzigkeit Gottes. Und er wendet seine Energie dorthin, wo Hilfe gebraucht wird: „Stärke deine Schwestern und Brüder.“

Der Blick wird auf den gelenkt, der stark macht: auf Gott, der uns neue Hoffnung schenkt. Und der Blick wird auf die gelenkt, die in ihrem Leiden auch unsere Stärke nötig haben: auf die Menschen, die auf unsere Solidarität hoffen. Das ist der Blick, den wir gerade heute brauchen.

Woher kommt mir Hilfe? So heißt die eine Frage, die wir heute stellen. Und die Antwort heißt: Unsere Hilfe kommt von Gott, der Himmel und Erde gemacht hat. Die andere Frage aber heißt: Wer braucht meine Hilfe. Und die Antwort heißt: Diejenigen, die jetzt Not leiden – die obdachlos Gewordenen am Indischen Ozean oder die elternlos Gewordenen bei uns.

III.

Wie konnte Gott das zulassen? So wird angesichts der Flutwelle in Südasien gefragt. Wie soll von Gott Hilfe kommen, der ein solches Unglück nicht verhindert? Nicht die Allmacht Gottes, sondern die Allmachtsvorstellungen des modernen Menschen werden durch dieses Geschehen in ihre Schranken gewiesen. Gottes Allmacht kann man sich nicht so vorstellen, dass Gott alles Böse und Unbegreifliche im Vorhinein aus dem Lauf der Dinge herausschneidet. Gottes Allmacht zeigt sich in der Liebe, mit der er sich uns Menschen zuwendet, damit wir uns auch angesichts des Unbegreiflichen an ihr orientieren. Die Gewalt der Natur hat uns in die Grenzen gewiesen. Immer wieder kann es geschehen, dass die Erdteile sich so gegeneinander verschieben, dass ein Beben auch das Meer zum Toben bringt. „Tsunami“ heißt der Name für dieses Naturgeschehen. Uns Kinder der Moderne erinnert das daran, dass unsere Herrschaft über die Natur nicht unumschränkt ist. Trotz unserer Kenntnis der Natur und unserer Möglichkeiten, sie uns dienstbar zu machen, drängt uns dieses Erleben wieder zu  einer Haltung der Demut.

Wollte Gott den Tod so vieler Menschen? Auch diese Frage wird  jetzt gestellt. Nein, kann die Antwort nur lauten, Gott will nicht den Tod. Sondern Gott ist ein Freund des Lebens. Sein Sohn, dessen Geburt wir in diesen Weihnachtstagen feiern, nahm den Tod auf sich, damit kein Mensch mehr geopfert werden muss – auch nicht den Gewalten der Natur. Sich ihnen nicht zu unterwerfen, sie aber zu achten, ist die Folgerung. Totale Sicherheit wird es nie geben. Aber mehr Sicherheit gegenüber Tsunamis kann und sollte auch entwickelt werden. Im Pazifik gibt es ein entsprechendes Warnsystem, im Indischen Ozean nicht. Das gehört zu den ungleichen Lebensverhältnissen in der Einen Welt. Viele Menschen, so scheint es, hätten sich in Sicherheit bringen können, wenn sie rechtzeitig gewarnt worden wären. Der immer wieder gezeigte Film aus Phuket, in dem die Wassermassen den ahnungslos planschenden Urlaubern immer näher kommen, macht das auf gespenstische Weise deutlich. Aber wie konnte da einer mit ruhiger Hand immer weiter filmen? Warum bricht der Film nicht ab in einem Schrei, der die Todgeweihten gerade noch rechtzeitig warnt? Dass wir einander warnen, wo Unheil droht, gehört zum ABC der Menschlichkeit.

Mitleid und Achtsamkeit füreinander folgen aus dem, was geschah. Die Sorgen, die uns im zurückliegenden Jahr beschäftigt haben und in das neue Jahr begleiten, treten neben die lebensbedrohende Not in anderen Erdteilen.  Menschlichkeit ist die Brücke, die uns miteinander verbindet.

Diese Brücke können wir betreten, weil wir aus der größten Vertrauensbotschaft leben, die sich denken lässt. Diese Botschaft weckt Hoffnung. Sie führt uns unserer Zukunft entgegen, ohne uns in Illusionen zu wiegen. Sie richtet unseren Blick auf dieses neue Jahr, ohne für die Brüchigkeit unseres Lebens blind zu machen. Aber sie weckt Hoffnung – eine Hoffnung, die aus der Barmherzigkeit lebt und in die Barmherzigkeit führt. Sie lebt aus der Barmherzigkeit Gottes und sie führt in die Barmherzigkeit für den Nächsten. Diese Hoffnung brauchen wir jetzt. An diese Botschaft des Vertrauens wollen wir uns halten.

Jesus Christus spricht: „Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre.“

Amen.