Predigt im Gottesdienst zum 300. Todestag von Philipp Jakob Spener am Sonntag Estomihi

Wolfgang Huber

St. Nikolai zu Berlin

I.

Dahin soll man bedacht sein, das Wort Gottes reichlicher unter uns zu bringen. So hieß ein Ziel von Philipp Jakob Spener. Dieses Ziel gilt auch heute. Die persönliche Frömmigkeit war für diesen Lehrer unserer Kirche wichtig. Der Glaube sollte das Herz verwandeln. Auch das tut heute not.

Spener war ein Mann des Übergangs. Er merkte: Das Alte trägt nicht mehr. Die Kirche gerät als Institution an ihre Grenzen. Ihre Antworten sind theologisch so korrekt, dass nichts mehr in Bewegung gerät.

Die Menschen seiner Zeit waren verunsichert. Angst war die Grundstimmung, die der dreißigjährige Krieg hinterlassen hatte. Und die Antworten der Kirche rührten das Herz nicht an. In einer Zeit, die er als unstet, als nervös empfand, fragte Spener: Wie kann das Leben der Kirche Tiefe bekommen? Unbekannt sind uns solche Fragen nicht. Auch heute kann in unserer Kirche – wie in Staat, Gesellschaft oder Universität – vieles nicht mehr so bleiben, wie es war. Aber wie soll es werden? Was braucht die Kirche der Zukunft?

Philipp Jakob Spener spricht oft vom „Notwendigen“, was zu tun sei. Er spielt damit auf die biblische Geschichte an, die den Predigttext des heutigen Sonntags bildet, die Geschichte von Maria und Marta. Mit dieser Geschichte wollen wir gemeinsam fragen, was heute „notwendig“ ist. Was braucht die Kirche der Zukunft?

II.

Über die Begegnung von Maria und Marta mit Jesus heißt es im Lukasevangelium:

Als sie aber weiter zogen, kam Jesus in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll. Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden [Lukas 10, 38-42].

Was ist nötiger, zu hören oder zu dienen? Muss man überhaupt zwischen beidem wählen? Müssen wir uns zwischen Maria und Marta entscheiden? Kann nicht das eine wie das andere Freiraum eröffnen?

Es gibt Menschen mit einem wachen Gespür dafür, wie sie andere aufrichten können. Sie beugen sich herab und verbinden die Wunden. Sie öffnen ihre Tür für einen Gast und sorgen sich um das leibliche Wohl. Ihr entschiedenes Handeln eröffnet einen Freiraum.

Es gibt aber auch Menschen, die merken, dass sie jetzt selbst aufgerichtet werden müssen. Sie setzen sich und hören zu. Sie nehmen sich Zeit zum Hören, aus dem das Handeln kommt. Das Hören eröffnet ihnen den nötigen Freiraum.
Schließt das eine das andere aus? Müssen wir zwischen Maria und Marta wählen?

Beide wagen Ungewöhnliches: Marta, indem sie Jesus aufnimmt. Maria, indem sie sich als Schülerin zu Jesu Füßen setzt. Für Frauen ist das eine ein Wagnis wie das andere. Dass Frauen allein einen durchreisenden Lehrer aufnehmen, kann nur Erstaunen auslösen. Dass die eine ihn bewirtet, ist so ungewöhnlich, wie dass die andere zu seiner Schülerin wird. In bemerkenswerter Weise geht Jesus auf die Wagnisse beider Frauen ein.

Jesus ist auf dem Weg. Die Entscheidung ist gefallen. Er hat sein Antlitz nach Jerusalem gewandt. Dorthin, zum Ort seines Leidens, ist er unterwegs. Unbehaust ist er. Marta öffnet ihm die Tür; ihre Entscheidung ist das Wagnis der Gastfreundschaft.

Daneben ihre Schwester Maria. Sie spürt, dass die Entscheidung für das eine die Entscheidung gegen etwas anderes einschließt. So ist das oft im Leben.  Sie kann sich nicht zu Füßen des Gastes niederlassen, um ihm zuzuhören, und gleichzeitig zwischen Herd und Gastraum hin- und herlaufen, ein Getränk herbeiholen, die Suppe abschmecken und die Hühner aus der Küche scheuchen. Eigentlich müsste auch sie ihm dienen; Frauen als Schülerinnen eines Rabbi waren damals ohnehin nicht vorgesehen. Aber Maria verlässt die anerkannte Norm. Sie setzt sich „zu Füßen des Herrn“. Nichts kann sie davon abhalten: keine vorgegebene Rolle, keine Konvention, keine Tradition.

Hören befreit. Die Wahrheit muss uns gesagt werden. Maria erfährt dies. Sie wird zum Sinnbild der Christenheit. Die christliche Gemeinde versammelt sich um ihren Herrn Jesus Christus und spürt: Wo das Wort des Herrn ist, da ist sein Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.

Marta kann das Verhalten ihrer Schwester nicht nachvollziehen. Der praktische Dienst für den Gast ist ihr selbstverständlich. Ihre Handreichungen werden zwar bemerkt und angenommen, aber dass sie gut sind, wird nicht bestätigt. Ihr Versuch, sich aus ihren Taten zu rechtfertigen, misslingt. Jesus lässt sie mit ihrer Forderung nach Anerkennung ins Leere laufen. Er mahnt Maria nicht, dass sie ihrer Schwester helfen soll. Er überlässt Marta sich selbst. Sein Verhalten ist wie Sauerteig. Es wird etwas gären in ihr. Würde sie es noch einmal so machen? Würde sie sich das nächste Mal einfach dazu setzen? Vielleicht führt dieses Gespräch zur Spaltung, vielleicht zur Heilung. Marta hat die Wahl.

Dabei weiß sie: Jesus ist auf Menschen angewiesen wie sie. Er braucht die Gastfreundschaft. Er hat kein Dach über dem Kopf und nichts, wo er sein Haupt hinlegen könnte.  Diejenigen, die mit ihm unterwegs sind, haben nichts mit auf den Weg genommen, weder Wanderstab noch Ranzen, weder Brot noch Geld. Manchmal nähren sie sich von den Weizenkörnern, die bei der Ernte übrig geblieben sind. Die Wanderprediger sind darauf angewiesen, dass es Häuser gibt, in denen sie aufgenommen werden. Die einen lassen alles hinter sich, weil es notwendig ist, völlig neu anzufangen und nach neuen Wegen zu suchen. Die anderen behalten ein festes Haus. Doch sie öffnen ihr Haus für diejenigen, die mit einer neuen Botschaft umherziehen. Sie öffnen ihr Leben für das Neue: Gottes Reich kommt nahe. Darin treffen sich die Nachfolger Jesu mit denen, die ein festes Haus behalten haben und es für Jesus und die Seinen öffnen.  Ihre gemeinsame Grundlage ist das Vertrauen zu Gott.

III.

Vertrauen kommt aus dem Hören. Vertrauen zu Gott entsteht, wenn ich mich für Jesus und seinen Geist öffne. Das ist der Geist der Liebe, der mein Leben verwandelt. Darum sagt Jesus, Maria habe das „gute Teil“ gewählt.

Das „gute Teil“, das ist in der Sprache der Psalmen ein Signalwort für die Gottesliebe. Es steht für die als Lebensraum erfahrene Gemeinschaft mit Gott. „Der Herr ist mein Gut und mein Teil“ heißt es in Psalm 16. Als das Land unter die Stämme Israels aufgeteilt wurde, erhielten die Leviten kein Erbland. In den Büchern Mose erläutert Gott den Leviten diese seine Entscheidung mit Worten: „Denn ich bin dein Anteil und dein Erbland inmitten der Israeliten“ [Numeri 18, 20].

Liebe Gemeinde, wären wir heute in einer vergleichbaren Situation wie Maria und Marta, so hätten wir es leicht. Wir könnten Pizza ordern oder beim Chinesen um die Ecke etwas bestellen. Maria und Marta hätten unter diesen Bedingungen alle Zeit der Welt, um ihrem Gast gemeinsam mit voller Aufmerksamkeit zuzuhören. Die Spannung zwischen den beiden Schwestern hätte sich erst gar nicht entwickelt. Die Polarisierung zwischen der Bedeutung des Wortes und der dienenden Diakonie wäre aufgelöst. Das Frauendrama zwischen der einen, die angeblich immer nur um äußere Dinge bemüht ist und „rennt“, und der anderen, die einen Sinn hat für die eigentlichen Werte des Lebens, ist nicht unausweichlich. Wir könnten die beiden Frauen so zusammenfügen, wie Jesus das Doppelgebot der Liebe. Gottesliebe und Nächstenliebe, das Hören und das Dienen brauchen nicht auseinandergerissen und gegeneinandergestellt zu werden. Wir müssen uns nicht zwischen Maria und Marta entscheiden. 

Philipp Jakob Spener freilich hat die Geschichte anders gedeutet. Marta steht für die Welt mit ihrem „sorgen“, ihrem „lauffen, u[nd] rennen“; Maria aber in ihrer Hingabe an Christus, in ihrer „hochhaltung des einigen nothwendigen“ (Briefe III, 118) steht für das wahre Christentum.

Auch darin liegt ein Wahrheitsmoment. Wir kennen das: Geschäftigkeit, Rennen, Laufen – in der Kirche oder der Universität wie andernorts. Ein Termin jagt den anderen. Alles ist wichtig, auch wenn es zu viel wird. Und wir hoffen, mit dem, was wir tun, auch Anerkennung zu finden.

Aber wir spüren zugleich: In allem Rennen und Laufen kann Leere entstehen, die erschreckend ist. In all unserer Umtriebigkeit halten wir inne und fragen: Haben wir in alledem genügend Tiefe? Wissen wir wirklich, wohin wir wollen? Ist uns klar, wofür wir einstehen? Wir atmen, um im Bild zu sprechen, viel aus. Aber nehmen wir uns Zeit auch zum „Einatmen“?

Maria steigt aus, folgt ihrem Herzen, sie wagt gleichsam „Religion“. Oder anders gesagt: Sie nimmt sich Zeit, „einzuatmen“.

IV.

Solches „Einatmen“ kommt gegenwärtig wieder stärker in den Blick. Religion wird wieder zum Thema. In ungewissen, ja in bedrohlichen Zeiten suchen fragen Menschen: Wie findet unser Leben Halt? Wem können wir vertrauen? Wie kann Gott Flutwellen zulassen?

Solche Fragen sind elementar. Können wir auf sie ebenso elementar antworten? Nicht immer gelingt das. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Auf der Suche nach den nötigen Antworten komme ich auf die drei „Türen“ zurück, durch die hindurch wir auf Philipp Jakob Spener geschaut haben. In diesen „Erinnerungstüren“ finde ich drei Vorschläge, die weiterführen.

1. Auf Kinder hören.

Spener sucht das „neue Leben“. Dabei lässt er sich von Kindern anrühren. Das ist für seine Zeit alles andere als selbstverständlich. Kinder hatten ihren Eltern in Ehrfurcht zu gehorchen. Spener dagegen räumt ihnen ein eigenes Recht ein: Sie haben Erwachsenen etwas zu sagen – Entscheidendes sogar, weil sie ein feines Gespür für Gott haben. Sie leben im Rhythmus der  Langsamkeit. Kinder beobachten, verweilen, nehmen sich Zeit – wie Maria.

Auch im Erwachsenenleben dieser Haltung wieder Raum zu geben, ist ebenso wichtig, wie sich Kindern zuzuwenden.

Wir wissen heute, wie wichtig Kindheitserfahrungen für die spätere positive Einstellung zu Kirche und Religion ist. In unserer Arbeit mit Kindern – im Kindergarten, in Gemeinde und Schule – muss es weit stärker darum gehen, den Glauben als gelebten und lebendigen Vollzug so nahe zu bringen, dass er zu Herzen geht. Deutlicheres Profil ist allemal angesagt, wenn der Kopf zum Herzen gehen soll.

2. Dem Leben Tiefe geben

Philipp Jakob Spener war auf der Suche nach einer Kirche, in der Menschen so tief berührt werden, dass sie ihr Leben neu und in seiner Tiefe entdecken. Andere haben um dieses Zieles willen die Kirche verlassen. Sie meinten: Das schafft die Kirche als Institution nicht. Sie ist Volkskirche. Deshalb verliert sie sich an die „Religion des Volkes“, seine Lauheit in Glauben und Tun, seine Distanziertheit und Unbestimmtheit.

Spener hat der Kirche mehr zugetraut. „Religion“ braucht Kirche, ohne sie geht es nicht. Der Glaube braucht das Spannungsspiel zwischen Institution und Individualität. Speners Anforderungen an den Einzelnen waren hoch – manchmal wohl auch moralisierend eng. Deshalb fragen wir heute: Wie können wir dem Leben mehr Tiefe geben, ohne dabei zu eng zu werden?

Als einzelne wie als Kirche brauchen wir Zeit, Zeit zum Hören auf Christus. Nur so wird unser Leben Tiefe bekommen. Hören müssen wir auch auf das, was Menschen heute bewegt. Spener schätzte „die Leute“ skeptisch ein. Sie konnten eigentlich immer nur verlieren. Heute wollen wir auch auf die sogenannte „Leutereligion“ schauen. Es ist nicht schlecht für die Kirche, wenn Menschen von ihr sagen: Ja, die Kirche hört mir zu. Sie rührt mein Herz an. Sie öffnet mir Räume, Räume der Stille, Räume der Begegnung mit Gott.

3. Die Würde des Menschen achten

Mit Spener begann die Epoche religiöser Subjektivität und Innerlichkeit. Darin ist er unserer Zeit und ihren Erfordernissen nah. Der Blick auf die „Würde des Menschen“ ist und bleibt wesentlich. Zwei Aspekte daran will ich hervorheben: Leben würdigen, indem es in seiner biografischen Individualität ernst genommen wird; und Leben seine Würde belassen, indem es als unverfügbar wahrgenommen wird.

Spener tröstet Menschen, indem er sich ganz auf ihre Fragen einlässt und sie in ihrer Sehnsucht nach Gott bestärkt. Es muss nicht Bekenntnis sein, es muss nicht Lob Gottes sein. Nein, das Gebet darf Suche sein, „Verlangen der Seele“, wie Spener sagt. Darin sehe ich einen wichtigen Impuls für die Spiritualität unserer Zeit.

VI.

An drei Türen habe ich erinnert, an drei Schritte, die heute Not tun: Auf Kinder hören, dem Leben Tiefe geben, die Würde des Menschen achten.

Zu Marta sagt Jesus: „Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe.“ Ich höre daraus auch den Ton der Anerkennung. Ja, so ist dein Leben. Aber ich merke auch, dass das nicht alles ist. Deshalb auch das andere: „Eins aber tut not. Maria hat das gute Teil erwählt.“

Jetzt klingt das nach einer Einladung: Komm, Marta, lass dich locken. Schau, neben deiner Schwester ist noch Platz! Wie kommt der Kopf ins Herz? Lerne, mit dem Herzen zu denken. Zu Jesu Füßen ist das möglich. Amen.