Predigt im Festgottesdienst zum hundertjährigen Jubiläum der Einweihung des Berliner Doms, Berlin

Wolfgang Huber

I.

Des Herrn Wort bleibt ewig. So steht es, liebe Festgemeinde, auf dieser Kanzel. Wer immer zum Prediger schaut, der blickt auf dieses Wort. Gottes Wort wird Ewigkeit zuerkannt, nicht unseren Menschenworten. Uns Prediger macht es demütig, wenn wir auf der Kanzel dieses mächtigen Domes stehen. Wir herrschen nicht über Gottes Wort, wir dienen ihm. Und die hörende Gemeinde macht es hoffnungsvoll, wenn sie beim Blick auf den Prediger dieses biblische Wort vor Augen hat. Denn es kann jede Hörerin und jeden Hörer darauf vorbereiten, im Wort der Predigt – und wenn nötig, auch hinter ihm – Gottes Wort zu hören, ihm zu vertrauen und das eigene Leben darauf zu bauen. Des Herrn Wort bleibt ewig.

Eines der großen biblischen Trostworte ist auf dieser Kanzel verzeichnet. Es entstammt dem „Trostbuch von der Erlösung Israels“. Am Beginn des zweiten Teils der großen biblischen Prophetie, die unter dem Namen Jesajas zusammengefasst ist, wird dieser Trost laut. Ein Volk in Bedrängnis wird angesprochen; und es wird dazu ermahnt, die Zeichen der Hoffnung nicht zu verkennen. Es ist die Zeit, in der das Volk Israel unter babylonischer Herrschaft stöhnt; seine Führungsschicht ist ins Exil verschleppt, die in Jerusalem Zurückgebliebenen irren orientierungslos umher. Das Gefühl der Vergeblichkeit breitet sich aus, bald ein halbes Jahrhundert schon. Die politischen Verschiebungen, der Aufstieg des Perserreiches vor allem, bleiben unbemerkt.

Da kommt ein Prophet und richtet die Niedergeschlagenen auf. Da deutet einer die Zeichen der Zeit und zündet die Flamme der Hoffnung an. Da erklärt einer, warum es beim Jammern nicht bleiben kann. Er verweist auf die Wirklichkeit Gottes. Er hält sich an die Zusage, dass Gott sein Volk nicht aufgibt. Er gibt die Ermutigung weiter, die sich gerade nicht auf menschliche Taten, sondern auf Gottes Gegenwart stützt. Alles menschliche Tun ist vergänglich, Gottes Wort ist es nicht. Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Herrn bleibt ewiglich.

Ganz auf Gottes Wort stützt sich dieser Prophet, von dem er auch sagt: Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen, zu säen, und Brot, zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein. Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.

Die Dynamik von Gottes Wort ist das Thema dieses Propheten. Die Dynamik von Gottes Wort wird dadurch auch zum Thema dieses Jubiläumstages. An diesem Gotteshaus freuen wir uns, weil in ihm Gott durch sein Wort lebendig ist. Viele Menschen werden hier durch Gottes Gegenwart angerührt. Gott wird hier gelobt an jedem Tag und so manche Nacht hindurch. Auch wer dieses Gotteshaus nur aus Neugier betritt, wird doch von dem Gefühl ergriffen, dass die Majestät des Bauwerks auf eine andere Majestät hinweisen will, nämlich auf die Majestät Gottes.

Diese Majestät Gottes wird für uns Christen anschaulich in der Niedrigkeit Jesu, in der Armseligkeit dessen, der eine Krippe als erstes Lager und ein Kreuz als Sterbeort hat. Zu ihm fliehen wir deshalb, wenn wir erleben, dass „alles Fleisch wie Gras“ ist, und wenn uns vor Augen tritt, dass menschliches Leben von einem Augenblick zum andern der Nichtigkeit ausgeliefert sein kann. Dann wird dieser Dom zum Ort des gemeinsamen Klagens, wie wir es immer wieder, in der Erschütterung am 11. September 2001, im Aufbegehren gegen den Beginn des Krieges im Irak und zuletzt im Mitleiden mit den Opfern des Seebebens im Indischen Ozean, erlebt haben. Aus der Vergänglichkeit unseres Lebens und Mühens nehmen wir dann Zuflucht zu Gottes Wort und schöpfen daraus Kraft für jeden neuen Tag.
 
Dazu, zu nichts anderem, bauen und erhalten wir Kirchengebäude, sie seien groß oder klein: Orte, an denen uns Gottes Gegenwart gewiss wird, Orte, an denen wir aus Gottes ewigem Wort Kraft schöpfen für den neuen Tag.

II.

Des Herrn Wort bleibt ewig. Diese Gewissheit umspannt die Zeiten, die dieser Dom erlebt hat. Wie unterschiedlich wurde in diesen hundert Jahren gepredigt unter dem Bogen dieses einen, ewigen Wortes! Und wie gegensätzlich auch! Wie klang es beispielsweise noch, als dieser Dom vor hundert Jahren eingeweiht wurde!

Mit uns feiern heute edle Gäste – so predigte Oberhofprediger Dryander vor hundert Jahren – , deutsche und stammverwandte evangelische Fürsten, Vertreter aller Provinzen unserer Landeskirche, ja aller Kirchen evangelischen Bekenntnisses aus dem deutschen Vaterlande und weit darüber hinaus bis über den Ozean, von wo uns noch gestern ein warmer Segensgruß verbündeter amerikanischer Kirchen gesandt wurde. Als erster Bekenner aber unter ihnen der Hohenzollernfürst, dem göttliche Fügung und der Lauf der Geschichte das hohe Amt zuwies, Schirmherr und Hüter der Glaubensgüter der Reformation zu sein. .... Mit der Gemeinde der Lebenden zieht hier auch eine stille Gemeinde von Toten in die Gruftkirche zur Seite ein – fürstliche Frauen und Männer unseres Herrscherstammes, unter ihnen ernste evangelische Bekenner. Unser Glaube aber ist der Sieg, der auch den Tod überwindet. Über der Totengruft tönt die Predigt des Lebens. Wir glauben an eine triumphierende Kirche, eine Gemeinde der Vollendeten.

Solche Klänge, liebe Gemeinde, erfüllten diesen Raum vor hundert Jahren. Ein herausragender Prediger war Ernst von Dryander, unermüdlich bestrebt, die biblische Botschaft mit dem Denken und Fragen seiner Zeit zu verbinden. Und doch: Wie aus weiter Ferne klingt uns sein Reden von der Herrlichkeit des erneuerten Dom, von der Herrlichkeit des deutschen Herrscherhauses und von der Herrlichkeit des deutschen Protestantismus. Der Prediger konnte, wie es schien, ohne Zweifel und innere Anfechtung die Predigt unter das Wort des Propheten Haggai stellen: „Ich will dies Haus voll Herrlichkeit machen, spricht der Herr Zebaoth.“

Uns Spätergeborene fällt es leicht, sich von einer solchen Thron- und Altarseligkeit abzusetzen und den ungebremsten Stolz zu kritisieren, der die damalige Festgemeinde erfüllte. Vor Leichtfertigkeit sei jedoch gewarnt. Denn evangelischer Kleinmut ist keine Alternative. Mehr Glaubensgewissheit, mehr Bereitschaft zum aufrechten Gang des Glaubens und ein fröhlicheres Ja zur eigenen Kirche brauchen wir vielmehr gerade in unserer Zeit. Das ist schwerer als vor hundert Jahren. Und auf die damalige Thron- und Altarseligkeit will niemand mehr zurückgreifen. Aber ein Gegenmittel gegen die noch immer verbreitete Mutlosigkeit, eine Medizin gegen den immer wieder aufflackernden Hang zur Selbstverkleinerung, ein Wachstumsmittel gegen den Trend – das brauchen wir. Unsere Kanzel sagt, wo dieses Mittel zu suchen ist: Des Herrn Wort bleibt ewig.

III.

Unüberhörbar ist die Mahnung dieser fünf kurzen Worte. Wir haben die Zeiten innerhalb der letzten hundert Jahre vor Augen, in denen diese Mahnung besonders nötig war. Als in der Frühzeit des NS-Regimes der Reichsbischof Ludwig Müller auf den Stufen dieses Doms mit dem ausgestreckten Arm des Hitlergrußes die Herrschaft über die Kirche reklamierte, war an dieser Kanzel zu lesen, wo in Wahrheit allein die Herrschaft über die Kirche liegt. Es waren genau diese fünf kurzen Worte, die der Bekennenden Kirche nach 1933 die Richtung gewiesen haben. Verbum dei manet in aeternum – des Herrn Wort bleibt ewig: mit diesem Bekenntnis endet die Barmer Theologische Erklärung von 1934, das wichtigste und zukunftsträchtigste Bekenntnisdokument unserer Kirche aus den letzten hundert Jahren. Wer verstehen will, was mit diesem Bekenntnis gemeint ist, der kann sich auch heute an die Sätze halten, mit denen dieses Dokument eines aufrechten Glaubens beginnt und womit es schließt: Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. So heißt es zu Beginn. Und am Schluss: Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne die Kirche in menschlicher Selbstherrlichkeit das Wort und Werk des Herrn in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählter Wünsche, Zwecke und Pläne stellen.

Wegweisende Worte waren das nicht nur vor siebzig Jahren. Diese Klarheit bleibt für unsere evangelische Kirche verpflichtend, auch in diesem Dom.

IV.

88 Jahre nach seiner Einweihung, vor zwölf Jahren also, war der Berliner Dom noch einmal einzuweihen. Lange hatte er die weithin sichtbaren Spuren von Krieg und Zerstörung an sich getragen. Peter Beier, der früh verstorbene Präses der rheinischen Kirche, nahm für die Evangelische Kirche der Union die erneute Einweihung vor. Aber wie anders klang das als beim ersten Mal:

„Die Wahrheit braucht keine Dome. Das liebe Evangelium kriecht in jeder Hütte unter und hält sie warm. Die Evangelische Kirche braucht auch keine Dome. Und wenig Repräsentanz. Sie hat keinen Teil an Triumphen von gestern. Tunlichst. Bescheidenheit steht ihr an.“

Keine Herrlichkeit wird da gepriesen, der mächtige Raum so wenig wie ein mächtiges Herrscherhaus oder gar ein mächtiger Protestantismus. Die Erschütterungen des zurückliegenden Jahrhunderts klingen nach und lassen den Prediger fragen, was wir Heutigen mit dieser Pracht vergangener Tage zu tun haben. Gehören wir Christen nicht in die engen Behausungen derer, die ohne Arbeit sind, und auf der Seite derer, die unter der Sinnlosigkeit von Krieg und Gewalt zu leiden haben?

Wie wahr: Denen ist das Evangelium nahe, die in unserem Land um Arbeit und Brot fürchten. Die Stimme derer muss hier laut werden, die heute im Sudan zu Hunderttausenden vor einem mörderischen Bürgerkrieg auf der Flucht sind. Doch die majestätischen Reformatoren und Reformationsfürsten, die im Rund dieser Kirche auf uns herunterschauen, hindern uns daran nicht. Sie können uns vielmehr einen Weg zeigen, der aus den Gebirgen der Zerstörung wie aus den Tälern der Verzweiflung herausführt, von denen die Landschaft der letzten hundert Jahre gezeichnet war. Aus dem Götzendienst der Gewalt und der Macht, aus den Verhängnissen von Menschenverachtung und Skrupellosigkeit, aus den Verführungen der Selbstherrlichkeit und der falschen Triumphe führen sie uns heraus zur Wahrheit Gottes.

V.

Um dieser Wahrheit willen ist unser Dom, diese Kathedrale des protestantischen Selbstbewusstseins, in Wahrheit eine Kathedrale protestantischer Selbstverpflichtung. Er verpflichtet uns, die Botschaft von Gottes Liebe und das Gebot der Liebe zum Nächsten nicht nur in Kirchenmauern hören zu lassen, sondern ebenso auf den Straßen und Plätzen, in den engen Wohnungen der Arbeitslosen wie in den Häusern derer, die über mögliche Gewinnsteigerungen spekulieren. Das Wohl und Wehe der Menschen liegt Gott am Herzen. Deshalb soll es auch uns am Herzen liegen. Das Wort Gottes befreit uns von Kleinglauben und Eigensucht. Darum wird es laut an diesem Ort. Aber es ist nicht eingesperrt in die dicken Mauern dieses Domes. Er stellt uns dafür nur einen besonderen Ort bereit, in dem wir Raum und Platz, Atem und Zeit, Stille und Weite finden für die Begegnung mit Gott und seinem Wort. Dieser Dom bietet Raum für die Innenseite des Lebens; hier können wir Gott aus freien Stücken in unser Herz blicken lassen. Er ist ein Ort der Begegnung mit Gott, der nicht nach Leistung und Geldmenge fragt, nicht nach Können und Vermögen, nicht nach Erfolg und Anerkennung, sondern nach Herz und Nieren, nach Seele und Gemüt, nach Geist und Wahrheit.

In Beichte und Vergebung, in Seelsorge und Kunst, in festlichen Gottesdiensten und nachdenklichen Predigten kommt an diesem Ort Gottes Wort zu Gehör. Dieses Wort schafft Raum zum Innehalten. Es zieht uns in Gottes Nähe, der seinen Trost in unserer Seele ausbreitet, der sein Licht auch in unsere Schatten leuchten lässt und unserem Glück Glanz verleiht.

Das Lob Gottes und der Trost der Menschen, die Ehre Gottes und die Würdigung des Menschen geschehen hier aus der Mitte des Wortes Gottes heraus. Vor der Barmherzigkeit Gottes darf der Mensch erscheinen – in seiner Größe und mit seinen Grenzen, in seinem Glanz wie in seinem Elend. In der Begegnung mit Gott werden wir befreit zur Wahrhaftigkeit und freigesprochen von moralischer Selbstüberhöhung wie vom quälenden Vorwurf an uns selbst. Menschen werden vor Gott nicht auf ihre politische oder wirtschaftliche Nützlichkeit angeschaut; sondern Kinder Gottes sind sie mit einer unantastbaren Würde. Das ist der Kern unserer Predigt und darum auch dieses Domes wie jedes anderen auch. Das Evangelium braucht solche Dome nicht, aber unsere Welt kann sie brauchen. Sie sind sichtbare Zeichen dafür, dass Gottes Gnade uns Menschen zu Gute kommt, dass sein Segen uns trägt und dass sein Wort uns leitet. Denn dieses Wort bleibt ewig.

Amen