Predigt im Gottesdienst am Sonntag Lätare in St. Marien (Joh. 6, 55-59)

Wolfgang Huber

Denn mein Fleisch ist die wahre Speise, und mein Blut ist der wahre Trank. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm. Wie mich der lebendige Vater gesandt hat und ich lebe um des Vaters Willen, so wird auch, wer mich isst, leben um meinetwillen. Dies ist das Brot, das vom Himmel gekommen ist. Es ist nicht wie bei den Vätern, die gegessen haben und gestorben sind. Wer dies Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. Das sagte er in der Synagoge, als er in Kapernaum lehrte. [Joh.6,55-59]

I.
Das, liebe Gemeinde, sind Worte für Lebenshungrige. Drastisch fallen diese Worte aus: der Leib Christi als Speise, sein Blut als Trank. Nicht blutrünstig ist das gemeint. Sondern um den Kern des Lebens geht es. Jesu Leben ist gemeint, der sich für uns in den Tod gibt. Unser Leben ist gemeint, das wir nicht aus eigener Kraft ans Ziel bringen. Ein Brot wird uns angeboten, das nicht nur für die nächsten Stunden reicht. Ein Brot, das den Lebenshunger stillt. Ich bin das Brot des Lebens, sagt Jesus.

Angesprochen sind alle, die den großen und unersättlichen Hunger nach Leben kennen. Was ist der Sinn meines Lebens und wann bin ich am Ziel? Wann habe ich alles erreicht, was in meinem Leben möglich ist? Und wann lege ich es in Gottes Hand zurück? Das sind die großen lebenshungrigen Fragen. Heute sind sie oft unter vordergründigen Hilfskonstruktionen verdeckt. Wenn ich auf die kanarischen Inseln reisen kann, hat mein Leben wieder Sinn; denn dort ist es wenigstens warm. Wenn erst eine Patientenverfügung unterschrieben ist, habe ich auch für das Ende meines Lebens Klarheit geschaffen. Doch wir wissen, dass das nicht wahr ist. Ein Ortswechsel löst die offenen Fragen nicht; keine Unterschrift wischt die Angst vor dem Sterben beiseite. Den Lebenshunger stillen solche Konstruktionen nicht. Er lässt sich nicht verdrängen. Und es ist gut, dass es ihn gibt.  Es ist gut, dass unsere Sehnsucht nicht abstumpft – die Sehnsucht nach wirklichem Leben, nach dem wahren Leben im falschen.

Wer sich nicht mehr nach wirklichem Leben sehnt, hat dem Leben selbst den Abschied gegeben. Wer aber Hunger hat, wird nicht achtlos an einem angebotenen Stück Brot vorübergehen. Wer lebenshungrig ist, wird das Brot des Lebens ergreifen. Deshalb hören wir das göttliche Geheimnis des Menschen Jesus in diesem einem kurzen Satz: Ich bin das Brot des Lebens. So notwendig, ja noch notwendiger als das tägliche Brot ist dieses Brot des Lebens. Es kann den Lebenshunger stillen. Wenn wir an ihm teilhaben, wissen wir, wofür wir leben. Wir leben, um an Gottes Herrlichkeit Anteil zu haben. Überschwänglich preist das Johannesevangelium dieses Brot, die wahre Speise, die vom Himmel kommt.

II.
Heute am Sonntag Laetare geht es um die Freude, die dieses Himmelsbrot auslösen kann. Laetare heißt Freut euch. Der vierte Sonntag der Passionszeit ragt aus der Reihe der anderen Sonntage während der Fastenzeit heraus. Er gilt als Freudentag mitten in der Passionszeit, als ein kleines Ostern in dieser ernsten Zeit. Der Sonntag Laetare bringt zum Bewusstsein, was jeder Sonntag – auch jeder Sonntag in der Erinnerungszeit des Leidens Jesu – ist: ein Tag der Auferstehung mitten in einer Welt des Todes. Deshalb gerade heute: Freut euch.

Der Freudenruf, der diesem Sonntag den Namen gegeben hat, stammt aus dem 62. Kapitel des Jesajabuches: Freut euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freut euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. Wir teilen diese Freude heute mit Ihnen, liebe Familie Rohwedder-Schramm. Der Sonntag Laetare ist ein prägnantes Datum für die Taufe ihrer Tochter Lotta-Selina. Aber wir alle können an diesem Sonntag innehalten. Wir können aufatmen auf unserem oft steinigen Weg. Es geht uns nicht anders als den Jüngern, die Jesus auf dem harten Weg nach Jerusalem begleiteten. Sie können aufatmen. Der Ruf in die Nachfolge gilt weiter, aber das Ziel tritt deutlich vor Augen: Verherrlichung, Freude, die Früchte des Weinstocks und das Brot des Lebens. So auch für uns: Nicht jeder Schritt unseres Lebens wird uns von nun an leichter fallen. Aber wir wissen, warum wir ihn unternehmen. Nicht darum geht es, unserem Leben den einen oder anderen Tag hinzuzufügen. In unserem irdischen Leben rührt uns das wahre Leben an, das Leben in der Gemeinschaft mit Gott.

III.
Es gehört zu den Schätzen unseres christlichen Glaubens, dass wir im Lauf des Kirchenjahrs einen Stationenweg von Sonn- und Feiertagen abschreiten, die unseren Alltag unterbrechen. Sie bewahren uns davor, in unserer Geschäftigkeit unterzugehen. Die Feiertage schützen uns, indem sie eine Vertreibung in die Gegenwart verhindern. Wir sind nicht nur Abteilungsleiterin, Vater, Schüler, Mutter, Großmutter,  Rechtsanwalt, immer abrufbar und einsetzbar für den Produktionsprozess oder den Chef. Wir stehen nicht unter der Diktatur der Sorge um das tägliche Brot. Das gilt für die, die vor Arbeit nicht wissen, wohin. Aber ebenso gilt es auch für die unter uns, denen Arbeitslosigkeit die Möglichkeit nimmt, durch ihrer Hände Arbeit für sich selbst zu sorgen. Gerade jetzt, wo der Skandal einer in ihrer Zahl noch einmal gewachsenen Arbeitslosigkeit uns auf den Nägeln brennt, müssen wir beides tun: Wir müssen neue Initiativen ergreifen, um wieder den Zugang zu Erwerbsarbeitsplätzen zu öffnen. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass die Sorge um das tägliche Brot alles bestimmt; denn das widerspricht unserer Berufung.

Der Rhythmus des Kirchenjahrs sorgt dafür, dass wir in der Geschichte Jesu Christi unserer eigentlichen Berufung begegnen. Er lässt den Alltag mit seinen Verkürzungen zurücktreten. Er weitet den Horizont, lässt die Seele aufatmen und gibt uns den Freiraum für die Fragen, die den Kern unseres Lebens betreffen. Eine Makrele muss schwimmen, eine Möwe fliegen und wir müssen eine Antwort finden auf Gottes liebevolles „Du“: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Auf der langen Wanderschaft unseres Lebens gleichen wir Zugvögeln, die, an einem fremden Ort geboren, eine geheimnisvolle Unruhe empfinden, eine Sehnsucht nach der lichten Heimat, die sie nie gesehen haben und zu der sie aufbrechen, ohne zu wissen, wann sie am Ziel sind. So leuchtet uns ins Leben hinein, wohin wir doch immer unterwegs sein werden: unsere Heimat bei Gott.

IV.
Der sonntägliche Gottesdienst ist der Ort, an dem wir auf unserem Lebensweg innehalten können. Wir lassen unseren Alltag hinter uns und treten gemeinsam vor Gott. Wir hören auf das Evangelium und versammeln uns um den Taufstein. Gemeinsam brechen wir das Brot des Lebens und erheben den Kelch des Heils. Wir verlassen uns auf die Zusage Jesu Christi, dass er da, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, mitten unter ihnen ist. Das unruhige Herz kommt zur Ruhe; gemeinsam beten wir zu Gott; das Singen der Lieder verleiht unserer Seele Flügel.

In früheren Zeiten befand sich der Taufstein häufig im Eingangsbereich der großen Kirchen. Der Weg, den wir in einem Christenleben gehen, ließ sich dadurch unmittelbar erfahren. Der Eintritt in die Kirche und die Taufe eröffneten ein neues Leben in der Gemeinschaft der Christen, ein Leben mit Christus. Angekommen im Kirchenschiff befinden sich die Christen in dem Schiff, das sich Gemeinde nennt, auf der Fahrt durch die Zeiten. Sonntag für Sonntag betreten wir zum Gottesdienst die Arche Gottes. Die Erinnerung an Gottes bewahrendes Handeln wird durch die biblischen Lesungen wachgerufen und bekräftigt.

Sollte unser Lebensschiff auf ein Riff auflaufen oder in stürmisch gewordener See kentern, so werden doch Trümmer oder Bruchstücke  des Schiffes verbleiben, an denen wir Halt finden. Sie schützen uns vor dem Untergang.

Wer in die Kirche eintritt, wird durch den Mittelgang direkt auf den Altar hin geführt. Der Blick richtet sich nach Osten, in der Richtung Jerusalems, zum Ort des Leidens, des Sterbens und der Auferstehung Jesu. Der Blick richtet sich nach Osten, dem aufgehenden Licht entgegen. Auch dies sagt Jesus nach dem Johannesevangelium von sich: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.

Diesem Licht gehen wir entgegen. An den Tisch Gottes sind wir eingeladen. Dieser Tisch ist gedeckt. Auf ihm stehen Kerzen, Blumen, Brot und Wein. Unser Herr Jesus Christus selbst ruft uns zusammen und lädt uns ein. Wir gehen zu ihm in der Gewissheit, dass wir mit offenen Armen erwartet werden. Wir wissen uns gehalten und geliebt. Wir wissen um das Brot des Lebens auf dem festlichen gedeckten Tisch. In ihm ist alles enthalten, was wir brauchen. Das Himmelsbrot ist unüberbietbar.

Denn alles ist in ihm enthalten: die Hingabe Jesu wie seine Auferstehung, die Vergebung unserer Schuld wie unsere Gemeinschaft mit unseren Nächsten, unser Nehmen wie unser Geben. So wird unser Lebenshunger gestillt und unsere Kraft zum Leben geweckt. Ein Vorgeschmack für das wahre Brot und den wahren Trank schon jetzt.

V.
Ein Wort für Lebenshungrige wird uns gesagt. Lebenshunger treibt heute viele Menschen um. Je einsamer sie sind, desto unermesslicher ist ihr Hunger. Angenommen zu sein und das Leben mit anderen zu teilen, ist die Sehnsucht, die Menschen auch heute bestimmt. Aber sie glauben, sie lasse sich nicht mehr erfüllen in einer Welt, in der, wie es scheint, nur noch der einzelne zählt. Aber der Lebenshunger bleibt. Nicht immer wissen die Menschen, wo er gestillt werden kann. Essen und Trinken allein stillen diese Art des Hungers nicht. Mehr ist nötig. Brot von der Art, wie Jesus es anbietet, indem er sich selbst hingibt; Wein von der Art, wie er ihn austeilt, weil wir an ihm selbst Anteil haben dürfen. Weil er für uns da ist, können wir zu uns selber kommen. Weil er uns vorangeht, brauchen wir nicht bei uns selbst zu bleiben, sondern können unser Leben mit anderen teilen. Dass wir zu uns kommen können, aber nicht bei uns bleiben müssen, dazu stärke uns Jesus Christus selbst in Brot und Wein, an seinem Tisch. Amen.