Predigt am Palmsonntag, anlässlich von einhundert Jahre Rotary International, in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu Berlin (Markus 14, 3-9)

Wolfgang Huber

Und als er in Bethanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Glas mit unverfälschtem und kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Glas und goss es auf sein Haupt. Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an. Jesus aber sprach: Lasst sie in Frieden! Was betrübt ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt für mein Begräbnis. Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in aller Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie jetzt getan hat.

(Markus 14, 3-9)

Liebe Gemeinde,
und an diesem Sonntag insbesondere: liebe rotarische Freunde,

I.
Die Situation ist vertraut. Menschen treffen sich zu einer gemeinsamen Mahlzeit. Das fördert den Austausch und dient der Freundschaft. Für die Rotarier, die sich an diesem Wochenende in Berlin getroffen haben, um einhundert Jahre Rotary International zu feiern, kein ungewöhnlicher Gedanke. Die 1,2 Millionen Rotarier in aller Welt tun das Woche für Woche. Und die 43 000 Mitglieder in Deutschland tun es auch. Sie treffen sich zu gemeinsamen Mahlzeiten, um sich auszutauschen, Gemeinsames zu planen und ihre Freundschaft zu fördern. Meistens übrigens in gepflegten Restaurants.

Doch bei Jesus ist das anders. Er kehrt nicht nur in anerkannten Etablissements ein. Mal ist es ein Zolleintreiber, der von allen anderen begreiflicherweise gehasst wird. Dieses Mal ist es ein Aussätziger, der wegen seiner Krankheit gemieden wird. Zu ihm setzt Jesus sich an den Tisch, tauscht sich mit ihm aus und bietet ihm seine Freundschaft an.

Damit nicht genug. In dem Haus des Aussätzigen, an diesem ungewöhnlichen Tisch der Freundschaft geschieht dazu auch noch die reinste Verschwendung. Eine Frau kommt herein – damals so ungewöhnlich wie an einigen Orten auch heute noch bei rotarischen Meetings – und überschüttet Jesus im wahrsten Sinn des Wortes mit kostbarem Nardenöl. Welche Verschwendung. Hätte man das nicht sparen oder besser noch: verkaufen sollen? Zum Beispiel um Arbeitsplätze zu finanzieren?

Das Nardenöl oder das Tafelsilber verscherbeln zu Gunsten von Arbeitsplätzen – wie aktuell! Die ganze Woche war von solchen Gedanken voll – nicht nur in Politik und Wirtschaft übrigens, sondern auch in der Kirche. Da ließ sich vor einigen  Tagen einer mit dem Gedanken hören, auf Grund der Finanzentwicklung lasse sich kein anderes Szenario denken, als die Hälfte aller Kirchengebäude innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland zu verkaufen. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche hat er nicht gerade genannt; und über den Preis, der für eine solche Kirche zu erzielen wäre, hat er sich auch ausgeschwiegen. Es wäre besser und richtiger gewesen, er hätte eine verschwenderische Botschaft verkündet. Zum Beispiel so: In einer Zeit, in der die Menschen neu nach Gott fragen, plant die Evangelische Kirche eine Verdoppelung ihres gottesdienstlichen Angebots! Ein verschwenderischer Umgang mit dem anvertrauten Reichtum wäre das, ein Zeichen für die Hingabe an die eigene Aufgabe. 

Hingabe – so versteht Jesus das Handeln der Frau. Das Diktat der ökonomischen Vernunft wird ihrem Tun nicht gerecht. Nicht Verschwendung sieht Jesus darin, sondern ein gutes Werk.

Rotarier prüfen das, was sie denken, sagen oder tun, an Hand von vier Fragen: Ist es wahr? Ist es für alle Beteiligten fair? Wird es Freundschaft und guten Willen fördern? Wird es dem Wohl aller Beteiligten dienen?  Diese Vier-Fragen-Probe wollen wir heute, aus dem besonderen Anlass dieses Tages, auf das Meeting Jesu im Hause Simons des Aussätzigen anwenden.

II.
Ist es wahr?

Ist die Erzählung über das Lob Jesu für die Salbung mit dem teuren Öl wahr?

Typisch für Jesus ist der Vorgang nicht. Man kennt auch ganz andere Aussagen von ihm. Einen jungen Mann beispielsweise stellt er vor eine ganz andere Alternative: Eines fehlt dir: Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib´s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach  (Markus 10, 21). Von sich selbst sagt er, er habe nichts, wo er sein Haupt hinlegen könne, seine Jünger ermahnt er dazu, nicht zurückzublicken auf den Wohlstand, den sie hinter sich lassen, den Armen verspricht er die Nähe Gottes. Hier aber ist es anders.

Umso unwahrscheinlicher ist es, dass jemand Jesus diese Worte in den Mund gelegt hat. Das Überraschende an dieser Szene geht auf ihn selbst zurück. Und es passt zu ihm. Denn Hingabe lässt sich nicht verrechnen. Wer hingibt, schenkt überreich. Jesus aber gibt nicht nur etwas hin, er gibt sich selbst. Eine größere Verschwendung lässt sich nicht denken als die Hingabe des eigenen Lebens. Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde (Johannes 15, 13). So heißt es von Jesus selbst. Und: Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Johannes 3,16).

III.
Ist es fair für alle Beteiligten?

Die Jünger Jesu fordern Fairness im Sinne verteilender Gerechtigkeit. Man hätte die kostbare Salbe verkaufen und den Ertrag den Armen geben sollen. Umverteilung wäre gerecht gewesen.

Den Einwurf einfach beiseite zu wischen, fällt schwer. Gerade heute. Die Diskrepanz, die wir heute erleben, hat noch ganz andere Ausmaße. Krass stehen steigende Profite und steigende Arbeitslosenzahlen nebeneinander. Doch inzwischen wissen wir: Durch Umverteilung bewältigen wir dieses Problem nicht. Als „falsch“ hat Bundespräsident Köhler in dieser Woche die oft gehörte Forderung bewertet, Unternehmen dürften keine Gewinne machen. Wie sie diese Gewinne einsetzen, ist zu fragen. Ob sie damit anderen die Möglichkeit geben, Arbeit zu finden und für ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen, muss gefragt werden. Beteiligungsgerechtigkeit ist das entscheidende Problem unserer Zeit.

Als der Präsident von Borussia Dortmund am vergangenen Montag mitteilte, die drohende Insolvenz seines Traditionsvereins sei abgewendet worden, kommentierte er das mit den Worten: Solch einen Tag möchte ich nicht noch einmal erleben. So ganz und gar ohne die Möglichkeit eigenen Zutuns auf die Entscheidungen der anderen angewiesen zu sein ... Wahrscheinlich war ihm nicht klar, dass er damit die Lage vieler Menschen beschrieb: ohne die Möglichkeit eigenen Zutuns auf die Entscheidung anderer angewiesen zu sein. Wer das erlebt, weiß, was das heißt: mangelnde Beteiligungsgerechtigkeit. Unfreiwillig brachte der Präsident die Situation von Millionen von Menschen zum Ausdruck, die keine Möglichkeit haben, sich am Erwerbsleben zu beteiligen.

Im Hause Simons des Aussätzigen gibt eine Frau ihr Vermögen hin, indem sie Jesus salbt. In ihrem Handeln kommt eine Intensität der Hingabe zum Ausdruck, die Jesus mit seinem eigenen Weg in den Tod vergleicht. Wie eine Einstimmung auf das Geheimnis seines Todes wirkt seine Antwort den Jüngern gegenüber. Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt für mein Begräbnis. Fair gehen die Jünger mit der Frau um, wenn sie deren „Verschwendung“ als äußersten Akt der Hingabe verstehen. „... wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird´s erhalten.“ (Markus 8, 35). Dass selbstloser Einsatz sich lohnt, weil er anderen neue Chancen eröffnet, sollte auch in unserer Gesellschaft wieder Anerkennung finden – und sei es der selbstlose Einsatz für Kinder, für die eine „Arche“ wieder hergestellt wird, in der sie spielen und lernen können.

IV.
Wird es Freundschaft und guten Willen fördern?

Dramatisch sind die Umstände, unfriedlich die Bedingungen, unter denen Jesus bei Simon dem Aussätzigen einkehrt. Direkt davor wird von dem Plan derer berichtet, die Jesus töten wollen: Noch warten sie ab, taktieren, sinnen auf eine List, weil sie einen Aufruhr im Volk (Markus 14, 2) befürchten. Allein politische Erwägungen stehen von ihrer Seite aus dagegen, Jesus bereits zu diesem Zeitpunkt aus dem Verkehr zu ziehen.

Bald nach dieser gemeinsamen Mahlzeit löst sich die Spannung auf. Judas Iskariot, der Jünger, bietet sich an, Jesus zu verraten. Damit nimmt die Passion ihren Lauf. Ein Verrat gibt der Geschichte Jesu die entscheidende Wende. Wie vertraut uns das vorkommt. Mit Freundschaft und gutem Willen hat es nichts zu tun. Gegen einen Dolchstoß in den Rücken ist man wehrlos, hat Heide Simonis dieser Tage gesagt.
 
Die rotarischen Werte „Förderung von Freundschaft und gutem Willen“ sind gewiss nicht unmittelbar oder gar ausschließlich Werte der Bibel. Aber wie hoch sie zu veranschlagen sind, zeigt die Geschichte Jesu genauso wie die Geschichte unserer Tage. Erhalten bleiben diese Werte nur, wenn im Konfliktfall nicht Rückzug und Verrat, sondern Offenheit im persönlichen Umgang und Klarheit in der Sache gewählt werden. Schweigen „um des lieben Friedens“ oder der Freundschaft willen zahlt sich nicht aus, sondern öffnet dem Unfrieden Tor und Tür.

Die Frau lässt sich durch den Einwurf der Jünger von ihrem Handeln nicht abbringen. Sie verrät Jesus nicht.

V.
Und schließlich: Wird es dem Wohl aller Beteiligten dienen?

Wir sind daran gewöhnt, alles, was wir erleben oder tun, am Maßstab der Nützlichkeit zu messen.

Auch mit Menschen gehen wir so um. Die neue Diskussion über Kinder ist ein Beispiel dafür. Neuerdings entdecken wir ihren „Wert“ wieder. Der „Wert“, den Kinder für unsere Gesellschaft haben, rückt in dem Moment in den Mittelpunkt der Diskussion, in dem deutlich wird, dass sich die Rentenkassen leeren und die demographische Entwicklung sich zuspitzt. Nun werden Kinder und Familie als Standortfaktor oder Bildungsinvestitionen für Kinder als Steigerung des „Humankapitals“ betrachtet.

Doch der Gedanke des Standortvorteils hat noch kein Paar zum Zeugen eines Kindes motiviert. Die Begegnung, die Auseinandersetzung, das Leben mit Kindern gehen in keiner Nützlichkeitserwägung auf. Das Paar, das seinen Kinderwunsch an der Gewissheit orientieren will, die für das Kind nötigen Sicherheiten im vorhinein zurückgelegt zu haben, wird wohl kinderlos bleiben. Kinder sind um ihrer selbst willen ein Lebensglück. Eltern antworten auf dieses Lebensglück mit Hingabe. Sie ist immer verschwenderisch. Wo sie als Kosten-Nutzen-Rechnung begriffen wird, lässt sich die rote Zahl schon voraussehen. Gewiss werden unsere Kinder eines Tages unsere Renten finanzieren und das Bruttosozialprodukt steigern. Aber sie können darunter nicht verrechnet werden. Wer das Wohl aller im Blick haben will, muss mehr im Blick haben als nur den berechenbaren Wohlstand.

Die Salbung Jesu in Bethanien zeigt es: Alles hat seine Zeit. Es gibt eine Zeit der Disziplin und eine Zeit der Hingabe. Eine Zeit zum Ersparen des Öls und eine Zeit verschwenderischer Zuwendung. Zu beidem gebe Gott uns seine Gnade. Amen.