Predigt am Karfreitag 2005, Berlin, St. Marien

Wolfgang Huber

Da überantwortete er ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte. Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der König der Juden. Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreib nicht: Der König der Juden, sondern, dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben. Als aber die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch das Gewand. Das war aber ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen sie untereinander: Lasst uns das nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt (Psalm 22,19): »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten. Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebhatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund. Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! und neigte das Haupt und verschied.
(Johannes 19, 16-30)

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Was dieses Zeichen denn bedeute, fragte mich einer in diesen Tagen und zeigte auf das Kreuz an meinem Revers. Er hatte das Symbol auf der Jacke eines Menschen offenbar noch nie gesehen. Die christliche Tradition sei ihm unbekannt, fügte er nach meiner ersten Erklärung entschuldigend hinzu und fing an, sich dafür zu interessieren, warum das Symbol des Kreuzes für den christlichen Glauben so wichtig ist.

Damals wie heute bekommen Menschen zu ihrer eigenen Überraschung mit Jesus und seinem Kreuz zu tun. So einsam sein Gang nach Golgatha auch ist, so überraschend sind die Begegnungen, die er eröffnet. Als letzten Gang haben sie ihm diesen Weg verordnet, die Herrschenden seiner Zeit. Am Kreuz soll sein Leben enden; so haben sie es beschlossen. Der Galgen der damaligen Zeit ist für ihn gerade recht; auf schmähliche Weise soll die Todesstrafe an ihm vollstreckt werden, damit er nicht mehr stört.

Doch von diesem letzten Weg gehen überraschende Wirkungen aus. Sie zeigen sich in den Begegnungen, die dieser einsame Weg erschließt. Fünf Begegnungen sind es. Fünf Szenen reihen sich aneinander. In fünf Variationen erschließt sich die Melodie des Kreuzes. Das Kreuz Jesu führt Menschen zusammen, die sonst nichts miteinander zu tun hätten. Vielleicht ist das auch heute so. Wenn wir auf das Kreuz Jesu schauen, werden wir zusammengeführt: Menschen, die sonst nichts miteinander zu tun hätten.

1.

Da sind zunächst die beiden Namenlosen, die mit ihm gekreuzigt werden, einer zur Rechten, einer zur Linken. Der Evangelist Lukas erzählt uns mehr über sie, gibt einen Wortwechsel wieder, berichtet davon, dass sie „Übeltäter“ oder „Räuber“ seien. Jesus gekreuzigt zwischen zwei Verbrechern.

Das Sterben eines Menschen vollzieht sich oft so, wie sich auch dessen Leben gestaltet hat. Jesus findet man in seinem Sterben eingebettet zwischen zwei Menschen, die von allen anderen verachtet werden, denen er aber auf gleicher Augenhöhe begegnet. Die Gesellschaft möchte sich ihrer entledigen; er wendet sich ihnen zu. So hat er es immer gemacht: denen in die Augen geschaut, von denen sich die anderen abgewandt haben, das Urteil über Menschen unterschieden von dem Urteil über ihre Taten. Auf der Seite derer steht er, die an den Rand der Gesellschaft geraten. Mit Ausgestoßenen, Verachteten, Besessenen solidarisiert er sich. Was Vergebung der Schuld bedeutet, zeigt schon der Ort, an dem er gekreuzigt wird: zwischen zwei Übeltätern, deren die Gesellschaft sich entledigen möchte.

Mit seinen vier Enden weist sein Kreuz auf solche Menschen hin – nicht nur damals, sondern auch heute. Wer auf das Kreuz schaut, kann sich von ihnen nicht abwenden: von den Jugendlichen, die meinen, nicht gebraucht zu werden, und deshalb in menschenverachtende Ideologien und Handlungen abgleiten, von den Arbeitslosen, die einen stumpfen Blick bekommen, weil Licht am Ende des Tunnels nicht zu sehen ist, von den Alleinerziehenden,  deren Kinder vor allem als Armutsrisiko gewertet werden. Jesus ist mit ihnen auf Augenhöhe.

Jesus stirbt rechts und links flankiert von denen, für die er sich eingesetzt hat. Diese beiden, sie bieten jenem Gemeinschaft, der seinen Weg allein vollenden muss.

2.

Die nächste Spur führt uns zu den Machthabern und Entscheidungsträgern: zu dem römischen Statthalter Pilatus und den jüdischen Hohenpriestern. Wie viel sie vor dem Prozess um Jesus miteinander zu tun gehabt haben, ist schwer zu sagen. Das Johannesevangelium ist bestrebt, den jüdischen Wortführern eine erhebliche Mitverantwortung für den Tod Jesu zuzuschreiben. Dem muss man allerdings deutlich entgegenhalten: Nicht ihnen, sondern allein der römischen Besatzermacht war es möglich, ein solches Todesurteil zu fällen und  zu vollstrecken.

Unter dem Kreuz Jesu geraten sie in einen Disput, der politische Machthaber und die religiösen Repräsentanten. Sie ringen um die Deutungshoheit über dieses Geschehen. Der König der Juden will Pilatus als Schild am Kreuz anbringen lassen. Ein solches Schild soll den Grund benennen, aus dem einer den Kreuzestod sterben musste. Nein, widersprechen die Hohenpriester, es soll dort stehen, er habe gesagt, dass er dies sei.

An der Person Jesu entsteht Streit. Ist seine Autorität angemaßt oder ist sie echt? Und worin besteht sie? Sein Reich sei nicht von dieser Welt, hat er zu Pilatus gesagt. Aber in dieser Welt erzeugt sein Reich Wirkung. Wenn einer in der Welt der Macht das Evangelium der Liebe vertritt, bleibt das nicht ohne Folgen. Denn dann kann Macht nicht mehr auf dem Rücken der Menschen ausgeübt werden. Man muss ihnen offenen Auges gegenüber treten und ihnen erklären, was mit ihnen geschieht. Eine heilsame Notwendigkeit: die Pflicht zur Wahrhaftigkeit, das Interesse am Leben des andern.

Als Mahnung steht das Kreuz Jesu mitten in der Auseinandersetzung und im Streit der Mächtigen. Es mahnt sie dazu, den Blick zu heben zu dem, der von sich gesagt: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich.

3.

Unter dem Kreuz sitzen die Soldaten. So wie sich eine Arbeitsschicht zufällig aus den verschiedenen Dienstplänen ergibt, so ist die Gruppe der Soldaten zusammengewürfelt, die an diesem Tag unter den drei Kreuzen in einer Schicht arbeiten. Sie wachen über den korrekten Vollzug der Hinrichtung. Und so zufällig, wie sie da zusammengewürfelt sind, so würfeln sie nun um das zufällige Glück, ein Stück der Kleidung des Verurteilten zu erlangen. Der eine bekommt dies, der andere das in die Hand, was später als Reliquie verehrt wird oder wovon man doch denken wird, man bekomme es später als heiligen Stoff in die Hand. Von solcher Heiligkeit ahnen die Soldaten nichts; den wahren Wert dieser Kleidungsstücke haben sie nicht im Blick; mehr Sport und Zeitvertreib ist das für sie als irgend etwas sonst. Aber so zufällig das Würfeln der Soldaten auch wirkt, so sind sie doch eingefügt in Gottes Wirken. Denn mit ihrem Würfeln erfüllen sie, was der Psalmist sagt: Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.

Es gibt keine Zufälle, sagte mir dieser Tage jemand im Gespräch. Der Zufall hatte uns zusammengeführt, den es nicht gibt. Und wir entdeckten gemeinsame Spuren in unseren Lebensläufen. Wenn wir unsere Augen öffnen, sind die Spuren Gottes in unserem Leben nicht zu übersehen. Unter dem Kreuz sind wir geführt von Gottes Hand – und von ihr getragen.

4.

Die vierte Spur ist die persönlichste und die hoffnungsvollste. Es kommt unter dem Kreuz, in der Situation des Abschieds, zu einer neuen Verbindung: Jesus führt vom Kreuz aus seine Mutter und seinen Lieblingsjünger  zusammen. In der Stunde, in der sie von ihm Abschied nehmen, werden sie zusammengeführt: Stiefmutter und Adoptivsohn gewissermaßen. Frau, siehe, das ist dein Sohn. – Und zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter. Unter dem Kreuz, mitten in äußerer und innerer Finsternis, zerbrechen nicht nur Hoffnungen und Träume, sondern es beginnt auch eine neue Liebe. Nicht nur Abschied, sondern auch Neubeginn: Gott versöhnt sich mit der Welt, und das strahlt aus bis in die Verbindungen der Menschen. Es erfüllt sich, was Jesus in den Abschiedsreden des Johannes gesagt hatte: Es ist gut für euch, dass ich weggehe.

Diese neue Verbindung der zwei Menschen unter dem Kreuz und durch diesen Tod weist deshalb schon über die Stimmung des Karfreitags hinaus. In diesem Abschied erscheint bereits der Samen des Neubeginns. Das Kreuz rückt ins Licht einer Hoffnung, die Menschen nicht voneinander trennt, sondern verbindet. Das Kreuz, dessen Enden in vier verschiedene Richtungen zeigt, hat eine gemeinsame Mitte. Sie verbindet.

5.

Darüber führt die letzte Spur noch hinaus. Es ist vollbracht. Der einsame Weg ans Kreuz führt in die Gemeinschaft mit Gott. Am Kreuz vollendet sich Jesu Weg. Was vor aller Welt als Erniedrigung erscheint, ist in Wahrheit eine Erhöhung. Der da so schmählich leidet, ist in diesem Leiden Gott ganz nahe. Vollendet ist er. Denn in seiner Ohnmacht zeigt sich Gottes Macht selbst: die Liebe. Keiner hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde, heißt es in demselben Evangelium.

Wie in seinem Leben so lässt Jesus auch noch in seinem Kreuz und in seinem Sterben neue Beziehungen zwischen Menschen entstehen. Vor allem aber stiftet er eine neue Beziehung zu Gott. In der äußersten Verlassenheit des Kreuzes kommt Gott selbst uns Menschen nahe. So wie es Paulus sagt: Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. Am Kreuz ist dieser Weg schmerzhaft vollendet: Es ist vollbracht.

Aber einstweilen kann das nur gegen allen Augenschein gesagt werden. Im Schmerz des Todes spricht Jesus sein Es ist vollbracht. In der äußersten Hinfälligkeit ist er vollendet. Es muss erst noch sichtbar werden, was in ihm geschehen ist: die endgültige Erlösung, die sichtbare Beziehung zu Gott, die Auflösung aller Rätsel. Noch herrscht der Karfreitag in dieser Welt. Noch ist nicht vor aller Augen, was am Kreuz Jesu schon vollbracht ist. Noch ist die Erlösung der Menschen nicht vollendet, noch lange nicht.

Deshalb gibt es für Jesus auch kein Ruhe in Frieden, wie Kurt Marti einmal gesagt hat. Er wird noch gebraucht. Sein Zeugnis für Gottes Nähe muss weiterwirken, denn es versteht sich noch nicht von selbst. Deshalb wird ihm keine Grabesruhe gegönnt, er wird gebraucht. Auch von uns. Dass Gottes Liebe stärker ist als unsere Eigensucht, muss immer wieder bezeugt werden; sonst behält der Egoismus die Oberhand. Dass sich aus Reichtum noch nicht das ewige Leben ergibt, und dass die unantastbare Menschenwürde auch den Armen gilt, muss bezeugt werden in einer Welt, die sich immer wieder nach Oben und Unten sortiert.

Deshalb bitten auch wir: Jesus, steig herab vom Kreuz und hilf uns. Amen.