Predigt zum Ostersonntag 2005, Berliner Dom/St. Matthäus

Wolfgang Huber

Als aber der Sabbat vorüber war und der erste Tag der Woche anbrach, kamen Maria von Magdala und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen. Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben. Denn der Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu und wälzte den Stein weg und setzte sich darauf. Seine Gestalt war wie der Blitz und sein Gewand weiß wie der Schnee. Die Wachen aber erschraken aus Furcht vor ihm und wurden, als wären sie tot.

Aber der Engel sprach zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her und seht die Stätte, wo er gelegen hat; und geht eilends hin und sagt seinen Jüngern, dass er auferstanden ist von den Toten. Und siehe, er wird vor euch hingehen nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt.

Und sie gingen eilends weg vom Grab mit Furcht und großer Freude und liefen, um es seinen Jüngern zu verkündigen. Und siehe, da begegnete ihnen Jesus und sprach: Seid gegrüßt! Und sie traten zu ihm und umfassten seine Füße und fielen vor ihm nieder. Da sprach Jesus zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Geht hin und verkündigt es meinen Brüdern, dass sie nach Galiläa gehen: dort werden sie mich sehen.
(Matthäus 28, 1-10)

I.

Ein Porträt der Hoffnung wird gezeichnet. Zwei Frauen sind zu sehen. Sie sind das Porträt der Hoffnung. Auf ihren Gesichtern verwandelt sich die Trauer in Freude, die Ängstlichkeit in Zuversicht, der Tod ins Leben. Ein Tag, der dem Grab gewidmet sein sollte, wird dem Leben zugewandt. Ein Tag, der für das Trauern reserviert war, wird zum Freudentag. Fröhliche Ostern können sie wünschen und brauchen sich der Fröhlichkeit nicht zu schämen.

Ein Porträt der Hoffnung wird uns an diesem Tag vor Augen gestellt. So direkt, so persönlich können auch wir das hören, wie es die Frauen auf ihrem Weg zum Grab Jesu erleben: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Eine Verheißung voller Leben wird den Frauen zugerufen; sie schallt durch die Worte des Evangeliums bis zu uns. Wir werden zu unmittelbaren Zeugen dieses Verheißungsrufes.

Zwei Frauen sind unterwegs. Beide tragen den Namen Maria – die eine ist Maria von Magdala. In der Todesstunde Jesu, so wird berichtet, steht sie unter dem Kreuz. Und als erste hört sie die Osterbotschaft der Engel. In Maria von Magdala verbindet sich beides, die Trauer und der Neubeginn, der Tod und das Leben, das Ende aller Hoffnungen und der Neubeginn aller Hoffnung. Darin wird sie, die sonst nahezu unbekannte Frau, zu einem Abbild unserer eigenen Lebenserfahrung. In ihrem Leben sehen wir die Ohnmacht derjenigen, die den Tod eines Menschen miterleben müssen. Die Ausweglosigkeit derer, für die sich Hoffnungen nicht erfüllt und Perspektiven geschlossen haben. Und in ihr sehen wir zugleich die Hoffnung über alles Scheitern hinaus, die Gewissheit, die am Tod nicht zerbricht, das Licht der Auferstehung. Fürchtet euch nicht! Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Furcht wandelt sich in Hoffnung. Verzweiflung in neuen Mut. Der Überschuss der Verheißung verträgt sich nicht mit ängstlichem Stillstand. Er mündet in ein Leben, das alle Ausweglosigkeit nach vorne übersteigt. Die Zeichen des Lebens werden nach vorn gesetzt. Du stellst meine Füße auf weiten Raum.

II.

Ein Leben aus dieser Verheißung ist wie das Leben mit Kindern. Sie sind ein Porträt der Hoffnung von besonderer Art. Einer meiner Mitarbeiter pflegt zu sagen: „Kinder sind anstrengend. Es ist ja auch nicht zu bestreiten, dass sie Arbeit machen, viel Arbeit. Wer aber am Abend eines Tages aus allen Erlebnissen die Summe zieht, der wird trotzdem sagen: Das Gesamtergebnis ist positiv.“

Kinder tragen eine Zukunftsperspektive in sich, einen Möglichkeitsüberschuss. Sie sind die Verheißung in Person: dem Leben und der Zukunft zugewandt. Wir alle leben aus diesem Überschuss. Ostern macht uns das bewusst. Das Leben gelingt. Dafür steht Gottes Versprechen. Darum der Wunsch: Fröhliche Ostern!

Ein Leben aus dieser Verheißung tendiert nach unendlich. Wer zu einer Zahl unendlich hinzufügt, landet immer wieder bei unendlich – ganz unabhängig davon, wie klein der Ausgangswert war. Gottes Verheißung öffnet unser Leben nach vorne hin – ganz unabhängig davon, wie klein oder groß uns dieses Leben vorkommt. Gottes Verheißung gibt unserem Leben eine Perspektive, die dann am Ziel ist, wenn sich das Geheimnis der Auferstehung im eigenen Leben erfüllt. Das geschieht immer wieder; und schließlich geschieht es ein für allemal.

III.

Zwei Frauen hören die Osterbotschaft. Maria heißen sie beide. Frauen tragen die Osterbotschaft bis in unsere Zeit. Denn sie sind Botinnen des Lebens. Wie gehen wir im Licht der Osterbotschaft mit unserem endlichen Leben um? So müssen wir uns fragen. Die Zeitereignisse legen uns diese Frage vor die Füße.

Die moderne Medizin kann das Leben, wie es scheint, schier unbegrenzt verlängern. Ein Mensch, der nicht mehr essen und trinken kann, wird über eine Magensonde ernährt. Fünfzehn Jahre kann man so am Leben bleiben – auch ohne Bewusstsein. Mit der Auferstehung Christi feiern wir die Überwindung des Todes. Dem Tod ist die letzte Macht genommen. Wir meinen damit gerade nicht, dass wir aus eigener Kraft unser Leben unbegrenzt verlängern müssen. In seiner Begrenztheit nehmen wir es aus Gottes Hand. Deshalb verstehen wir es als ein kostbares Geschenk, dem wir mit Achtung begegnen. Deshalb wollen und dürfen wir über dieses Leben nicht willkürlich verfügen – weder an seinem Beginn noch an seinem Ende. Fürsprache und Fürsorge für das menschliche Leben sind Folge dieser Verheißung – und zwar von seinem Anfang an bis hin zum Eintreten für ein Sterben in Würde.  Deshalb wenden wir uns auch jetzt gegen jede Vorstellung davon, dass die aktive Sterbehilfe, der bewusst herbeigeführte Tod ins Kalkül gezogen wird. Andere Wege sind nötig – und möglich.

Einerseits verdrängt oder mit den Mitteln der medizinischen Technik hinausgeschoben, wird der Tod heute andererseits herbeigesehnt oder gar durch aktive Sterbehilfe herbeigeführt. Christen, die sich zu der Auferweckung Jesu von den Toten bekennen, schwingen sich nicht zu Herren über den Tod auf; aber sie sind bereit, das Sterben als einen Teil des Lebens anzunehmen. Patientenverfügungen können die Erkenntnis zum Ausdruck bringen, dass auch dem Sterben seine Zeit gesetzt ist. Wenn das Sterben an der Zeit ist, dann gilt es, den Tod zuzulassen und seinem Kommen nichts mehr entgegenzusetzen. Wenn Menschen im Vorhinein beschreiben, wann für sie diese Zeit gekommen sein wird, dann ist dies zu respektieren. Denn diese Erkenntnis kann niemand stellvertretend für einen Anderen haben. Jeder muss sie für sich selbst gewinnen und vor Gott verantworten. Eine Patientenverfügung kann deshalb eine Form sein, in der ein Mensch sich selbst über diese Frage Rechenschaft ablegt. Eine solche Willensäußerung kann Berücksichtigung finden, wenn der Betreffende nicht mehr für sich selbst zu sprechen vermag. Die Fürsorge anderer für sein Leben wird dadurch nicht außer Kraft gesetzt. Aber ihr wird die Richtung gewiesen. Wie gut wäre es, wenn Terry Schiavo – deren Name jetzt plötzlich in aller Munde ist – sich mit solcher Klarheit hätte äußern können.  Und wie wichtig wäre es, wenn sie das schriftlich dokumentiert hätte.

„Auferstanden von den Toten“: Unter dieser Überschrift steht nicht nur der Tod Jesu, sondern auch unser endliches Leben. Es steht unter einer Verheißung, die am Tod nicht zerbricht. Es hat teil an einer Hoffnung, die über die Endlichkeit unseres Lebens hinausweist. Jedes einzelne menschliche Leben weiß der Glaube geborgen in Gott; jedem einzelnen menschlichen Leben gilt die Verheißung der Auferstehung. Deshalb wird auch unser eigenes Leben zu einem Porträt der Hoffnung.

IV.

Das Leben ist uns verheißen. Wir werden nicht auf ein anderes Leben vertröstet. Wir brauchen nicht zu denken, das „eigentliche Leben“ stehe erst noch aus. Wer auf morgen vertröstet, leugnet die Gegenwart. Doch den Nöten der Gegenwart wird man nicht gerecht, wenn man behauptet, das eigentliche Leben komme erst noch. Und auch die Schmerzen der Vergangenheit würdigt man nicht, wenn man meint, sie habe eben noch nicht zum eigentlichen Leben gehört.

Jetzt ist das eigentliche Leben. Darüber, dass Menschen an ihm so ungleichen Anteil haben, wie die erschreckende Zahl von Arbeitslosen zeigt, kann niemand mit dem Verweis auf bessere Zeiten hinweggehen.

Jetzt ist das eigentliche Leben. Deshalb muss auch jetzt über die Geschichte geredet werden, aus der wir kommen. In den nächsten Wochen wird das in vielfachen Formen geschehen. Unter den Älteren werden viele Erinnerungen daran wach werden, wie es vor sechzig Jahren war, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Und die Jüngeren werden fragen, wie das alles denn möglich wurde und warum man es nicht verhindert hat. Der öffentliche Streit um die korrekte Deutung des Jahres 1945 ist ja schon in vollem Gange. Doch Schlagworte allein helfen nicht, mögen sie auch noch so „korrekt“ sein. Für viele ist das ganze Leben geprägt durch einen Verlust, der auch dadurch nicht leichter wird, dass ihnen gesagt wird, der Ehemann oder Vater habe für die falsche Sache gekämpft. Viele fangen heute deshalb an zu berichten, damit sie mit einem entlasteten Gewissen sterben können.

Die verschwiegene oder auch nur unausgesprochene Vergangenheit hindert, sich offen der Zukunft zuzuwenden. Dies gilt nicht nur für einzelne Personen, sondern auch für Völker. In den kommenden Wochen gedenken wir mit den Armeniern in aller Welt des ersten Völkermords im 20. Jahrhundert, jetzt vor neunzig Jahren. Auch ich setze mich dafür ein, dass dieses Geschehen nicht verschwiegen und geleugnet wird. Dazu verpflichtet die Auferstehung dessen, der von sich sagt: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich.

V.

Mit Furcht und großer Freude: so sieht das Porträt der Hoffnung aus. Mit Frucht und großer Freude machen sich die beiden Frauen auf, weil sie sich von der Verheißung geleitet wissen, Jesus selbst zu sehen, dem Auferstandenen zu begegnen. Die Botschaft der Engel verheißt den Frauen, dass Gott in der Zukunft wohnt und überraschende Wege für sie öffnet. Leben ist ihnen verheißen. Leben liegt immer auch voraus. Der Osterglaube beruht auf keiner naturwissenschaftlichen Erklärung, so wie es auch keine eindeutige Erklärung dafür gibt, dass Menschen hoffen, auch wenn sie in schier hoffnungsloser Lage sind. Der Osterglaube resultiert nicht aus Beweisen; er ist eine Erfahrung des Herzens. Er ist ein neuer Weg, den es vorher nicht gab. Er ist ein Leben voller Verheißung. Ein Leben, das in die Begegnung mit Jesus Christus führt.

Wir selbst sind ein Porträt der Hoffnung. Uns ist die Verheißung des Lebens anvertraut. Wir können sie dorthin tragen, wo Menschen Schwarz sehen und entmutigt in die Zukunft schauen. Wo Menschen sich fürchten, einen Schritt auf einen anderen zuzugehen, weil sie nicht wissen, wie er reagieren wird. Wo das Grübeln über die eigene Krankheit keine Ruhe mehr lässt. Auch dorthin können wir den Osterglauben tragen, wo die Enttäuschung über die Entwicklung in Deutschland sich auch auf die eigene Familie oder auf die Stimmung am Arbeitsplatz auswirkt. So direkt gilt uns die Osterbotschaft, wie sie durch den Osterruf im Leben der beiden Frauen verankert wird: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat.

Darauf verlassen wir uns. Deshalb stimmen wir ein in den österlichen Jubel: Der Herr ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden!

Amen.