"Erinnern um Zukunft zu haben" - Predigt am 08. Mai 2005 in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu Berlin

Wolfgang Huber

"Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

I.

Am Ende des Krieges ist Ute fünf Jahre alt. Gemeinsam mit ihrer Mutter flüchtet sie mit dem letzten Schiff aus Ostpreußen. In Dänemark steckt man die beiden zunächst wie alle anderen Flüchtlinge in ein Internierungslager. Ob für Monate oder Jahre, weiß Ute gar nicht mehr genau. Sie erinnert sich nur noch an den Stacheldraht, an die Kälte, an den Hunger.

Wie Ute erging es vielen, die damals dem Grauen entkamen. Die Unmenschlichkeit von Krieg und Gewalt hatte ein Ende; doch was am 30. Januar 1933 begonnen hatte, wirkte weit über den 8. Mai 1945 hinaus.

Die Erinnerung an diese Zeit ist nah. Nah ist uns der Turm unserer Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, ein bleibendes Mahnmal für die Zerstörung vor sechzig Jahren. Viele Ältere leiden noch heute unter den Folgen des Krieges. Sie erleben die schlimme Zeit immer wieder von neuem. Den Jüngeren kennen den Krieg und seine Folgen nur aus Erzählungen, Büchern oder Filmen. Ich selbst befinde mich auf der Grenze zwischen beiden Gruppen. Meine eigene Fähigkeit zu erinnern beginnt genau mit dem Ende des Kriegs.

Die Flammen der brennenden Stadt, in deren Nähe meine Familie Zuflucht gefunden hatte, spiegeln sich im blutroten Himmel; das ist das früheste Bild in meiner Seele. Deutsche Soldaten, die ihre letzte Munition in die Luft schießen, stehen mir vor Augen. Die im ohnehin überfüllten Haus zusätzlich einquartierten Soldaten der Alliierten, denen ich als winziger Junge Gute Nacht sagen soll: damit beginnt meine Begegnung mit Fremden im eigenen Land.

II.

Liebe Gemeinde hier in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche und vor den Bildschirmen, heute, nach sechzig Jahren, erinnern wir uns. Gibt es auch eine Erinnerungsperspektive des Glaubens? So wollen wir heute Morgen fragen.

Im Neuen Testament findet sich im zweiten Brief an Timotheus dazu eine schlichte Mahnung: „Halt im Gedächtnis Jesus Christus, der auferstanden ist von den Toten.“

Ich übersetze diesen Satz so: Erinnerung wird möglich, wo Hoffnung herrscht. Als Christen sagen wir: Die Hoffnungsgeschichte Jesu Christi trägt unser Erinnern und gibt ihm die Richtung vor. In Jesus Christus hat Gott sich auf das Dunkel unserer Welt eingelassen; sogar die äußerste Einsamkeit des Todes hat er auf sich genommen. Aber mit der Auferweckung Jesu von den Toten ist ein Hoffnungszeichen in unserer Welt aufgerichtet, an das wir uns halten können, auch in der Erinnerung an dunkle Zeiten.

III.

Aber wir Menschen sind vergesslich. Wir vergessen leicht, woher wir kommen und in welcher Situation sich unser Land und Volk vor gerade zwei Generationen befand. Schon nehmen wir als selbstverständlich, was doch erst vor einer halben Generation errungen wurde: die Einheit in Freiheit. Wir neigen dazu, unsere Freiheit als selbstverständlich zu betrachten.

Erinnerung vertreibt den falschen Schein der Selbstverständlichkeit. Sie macht dankbar für das Erreichte und verpflichtet dazu, den Segen, der auf uns gelegt wurde, nicht wieder zu verspielen, sondern ihn an unsere Kinder weiterzugeben.

Nur Erinnerung gibt uns das Recht zu der Zuversicht, dass nicht Krieg und Gewalt und Mord das letzte Worte haben werden, sondern „Leben – Licht – Liebe“.

Diese drei Worte sind auf dem Bild der Madonna von Stalingrad zu lesen. Die Sehnsucht danach war übermächtig in den Grauen des Krieges. Das bezeugt die Entstehungsgeschichte dieses Bildes. Es wurde ein Zeichen der Versöhnung.

Dass Hoffnung unser Erinnern trägt, zeigt sich darin, dass wir niemanden von diesem Erinnern ausschließen: Jeder, der in diesem sinnlosen Morden sein Leben verlor, verdient unser Erinnern. Auch die Angehörigen, die ihr weiteres Leben führen mussten ohne Vater oder Ehemann, ohne Bruder oder Mutter, sind einbezogen in unsere Solidarität. Wo Ursache und Wirkung lagen, wissen wir gerade hier in Berlin genau, wo der Krieg begann und wohin er schließlich auch wieder zurückkehrte. Das Unrecht von Vernichtung und Völkermord steht uns in dieser Stadt vor Augen, wo wir in zwei Tagen das Mahnmal zur Erinnerung an den Holocaust einweihen werden.

IV.

„Halt im Gedächtnis Jesus Christus, der auferstanden ist von den Toten.“

Unübersehbar hängt der auferstandene Jesus Christus hier in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche. In der Form des Kreuzes steht er vor uns. Das Kreuz verbindet das Leiden und das Hoffen miteinander. Im Kreuz dürfen wir den Auferstandenen sehen. Die Hoffnung auf ihn trägt und prägt unser Erinnern.

Nicht ewiggestrig sind wir, wenn wir uns erinnern. Ewiggestrig sind vielmehr die, die vergessen und verdrängen. Aber um der Zukunft willen darf die Vergangenheit nicht verdrängt werden. Wir bekennen uns dazu, wovon wir damals befreit wurden: von Menschenverachtung und Völkermord, von Gewalt und Krieg. Aber wir bekennen auch, wozu wir befreit wurden. Befreit wurden wir zum aufrechten Gang derer, die sich vor Gott beugen und deshalb vor keiner Macht dieser Welt. Befreit wurden wir zur Achtung vor der unantastbaren Würde jedes Menschen und deshalb zur Hinwendung zu denen, die missachtet oder misshandelt werden.

„Halt im Gedächtnis Jesus Christus, der auferstanden ist von den Toten.“

Dieser Erinnerungsruf ist ein österlicher Ruf. Das Kreuz, das Marterwerkzeug in der Hand der Mächtigen, verwandelt sich in das Zeichen der Hoffnung. So wie die Hoffnung der Auferstehung nicht ohne die Erinnerung an das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi lebendig bleibt, so kann das Eintreten für Frieden und Versöhnung nicht ohne die Erinnerung an den Abgrund menschlicher Bosheit und ihrer Folgen auskommen. Nur wenn wir uns an unsere Geschichte erinnern und uns vor Augen halten, was zwischen den Völkern im Bösen wie im Guten geschehen ist, können wir den Aufmärschen der Geschichtsvergessenheit und Geschichtsverzerrung entgegentreten.

Entgegentreten wollen wir vor allem der Gleichgültigkeit um uns, aber auch in uns selbst. „Das Gegenteil von Erinnerung und Gedächtnis ist nicht Vergessen, es ist wiederum: Gleichgültigkeit.“ So hat Elie Wiesel gesagt.

Die Gleichgültigkeit soll ein Ende haben; so heißt der Anspruch des 8. Mai an uns. Keine Gleichgültigkeit gegenüber der Armut bei uns und bei anderen. Keine Gleichgültigkeit gegenüber Arbeitslosigkeit und dem verweigerten Recht, selbst für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Keine Gleichgültigkeit gegenüber der Missachtung der Fremden und dem neuen Schüren antisemitischer Vorurteile. Keine Gleichgültigkeit gegenüber der Spaltung unserer Welt in Reiche und Arme.

An die Stelle der Gleichgültigkeit stellen wir die Verpflichtung, für Gerechtigkeit einzutreten, Versöhnung zu stiften, den  Frieden zu wahren, zu fördern und zu erneuern. Deshalb wollen wir es nicht zulassen, wenn sich Menschenverachtung und Antisemitismus wieder auf unseren Straßen und Plätzen breit machen wollen. Wir nehmen es nicht hin, wenn in Dörfern oder Städten Versammlungsräume nicht mehr Orte demokratischer Willensbildung sein können, weil rechte Gruppen deren Eigentümer bedrohen. Wir kämpfen dafür, dass Kinder und Jugendliche Räume und Angebote finden, die zu demokratischem Verhalten ermutigen.

„Halt im Gedächtnis Jesus Christus, der auferstanden ist von den Toten.“

In Christus wird uns Hoffnung geschenkt. Für diese Hoffnung wollen wir einstehen. Diese Hoffnung wollen wir an unsere Nachbarn und an unsere Kinder weitergeben, so wie das Nagelkreuz als ein Zeichen der Hoffnung weitergegeben wird. Aus den Nägeln der zerstörten Kathedrale von Coventry wurde es geformt. Aber jetzt ist es ein Hoffnungszeichen für die Versöhnung zwischen den Völkern.

Dieser 8. Mai ist symbolträchtig wie wenige Tage. Er erinnert an das Ende des Schreckens. Er erinnert an den Beginn der Freiheit. Wenn wir ihn im Gedächtnis behalten, sehen wir weiter. Wenn wir das Erinnern nicht verlernen, haben wir Grund zur Hoffnung. Amen."

Für die Richtigkeit:

Hannover / Berlin, 08. Mai 2005

Pressestelle der EKD
Christof Vetter