Predigt im Ökumenischen Gottesdienst zum Deutschen Turnfest im Berliner Dom

Wolfgang Huber

I.

Die Ausgießung des Heiligen Geistes ist die Geburtsstunde der christlichen Kirche. Die Menschen, die beim ersten Pfingstfest in Jerusalem zusammenkamen, erlebten das Wunder der Begeisterung. Obwohl sie verschiedener Nationalität und Sprache waren, bewirkte Gottes Heiliger Geist in ihnen ein gegenseitiges Verstehen. Der Beginn der christlichen Kirche vollzieht sich in Vielfalt und in Einheit.

Für das Deutsche Turnfest feiern wir einen Ökumenischen Eröffnungsgottesdienst im Berliner Dom. Wir Christen in Berlin freuen uns darüber, dass das Pfingstfest 2005 in unserer Stadt dadurch einen besonderen Akzent erhält. Zum ersten Mal führt das Deutsche Turnfest das Wort „international“ im Namen. „Internationales Deutsches Turnfest“: auch die Begeisterung für den Sport kennt beides: Vielfalt und Einheit. Der Besuch von sportbegeisterten Frauen und Männern, Kindern und Jugendlichen tut unserer Stadt gut. Die Begeisterung für ein Leben im Vertrauen auf Gott führt uns heute zum Gottesdienst zusammen.

Christen sind verbunden durch die Sehnsucht nach vertiefter Gemeinschaft. Miteinander vertrauen wir auf Christi Gebet, dass wir - in all unserer Verschiedenheit - eins seien. Dieses Vertrauen nehmen wir auch voll Freude in dem Gebet Papst Benedikts XVI. wahr: „Hilf uns, Diener der Einheit zu sein.“ Wir wollen uns der Grundlagen unseres Glaubens immer tiefer bewusst werden, damit bleibende Unterschiede zwischen unseren Kirchen sich in wechselseitigen Respekt verwandeln. Dann nämlich sehen wir diese Unterschiede als Ausdrucksformen des gemeinsamen Glaubens. Dem gemeinsamen Zeugnis von Gottes lebenschaffendem Geist wollen wir mehr Gewicht geben als dem, was unsere Kirchen trennt. Diesem Ziel gilt unser Beten und unser Arbeiten.

Im sportlichen Sinn ist ein solches Ziel eine echte Herausforderung. Jeder, der Sport treibt, weiß: Wer sich nicht hohe Ziele steckt, lernt auch nicht, seine Kräfte zu mobilisieren. Und wer nicht bereit ist, seine persönlichen Besonderheiten an gemeinsame Regeln zu binden, verfehlt den Sinn des Sports. Ganz zu Recht heißt es deshalb im Programmheft für diese Tage des Deutschen Turnfests in Berlin: Die Grundlage sowohl beim Sport im Verein als auch in den Glaubensgemeinschaften ist der Dienst am Menschen. Gemeinsamkeit, gegenseitige Stütze und Lebenshilfe werden auch zum Turnfest in Berlin die Kirche und den Sport verbinden.

II.

Ja, der Glaube und der Sport haben vieles gemeinsam. Davon handelt auch ein Abschnitt im ersten Brief des Apostels Paulus an die christliche Gemeinde in Korinth:

Wisst ihr nicht, dass die, die in der Kampfbahn laufen, die laufen alle, aber einer empfängt den Siegespreis? Lauft so, dass ihr ihn erlangt. Jeder aber, der kämpft, enthält sich aller Dinge; jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz empfangen, wir aber einen unvergänglichen. Ich aber laufe nicht wie aufs Ungewisse; ich kämpfe mit der Faust, nicht wie einer, der in die Luft schlägt, sondern ich bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde.

Korinther 9, 24-27)

Der Apostel Paulus, der diese Zeilen schreibt, versteht den Sport ganz richtig. Im sportlichen Wettkampf geht es immer um alles. Nur einer kann gewinnen, nur eine Mannschaft geht als Sieger vom Platz. Nach jedem Wettkampf steht nur einer oben auf dem Treppchen.

Dieses Prinzip des sportlichen Wettkampfs ist so alt wie der Sport selbst. Wettkampf heißt immer: Einer gewinnt, der nächste ist nur der zweite Sieger. Und in Wahrheit fängt mit ihm schon die Reihe der Verlierer an.

Menschlich vertretbar ist dies nur, so lange man im Sinn behält, dass es sich um ein Spiel handelt. „Olympische Spiele“: so hat man die Olympiade ursprünglich einmal genannt. Dass einer gewinnt und alle anderen verlieren, ist nur im Spiel gut. Im wirklichen Leben ist es zu grausam. Deswegen ist es ein Segen, dass Sport Spiel ist.

Der sportliche Wettkampf behält seine Ordnung nur, so lange wir daran denken, dass es um ein Fest geht. Zu einem „Turnfest“ kommen mehr als 100 000 Menschen in diesen Tagen nach Berlin. Bei einem Fest aber kommt jeder auf seine Kosten, nicht nur der Sieger. Bei einem Fest werden alle gewürdigt, nicht nur die Erstplatzierten. Zu einem Spiel gehört, dass niemand geschlagen davongeht. Zu einem Fest gehört, dass niemand gedemütigt wird.

III.

Dass der Apostel Paulus ein Bild aus dem Sport wählt, ist erstaunlich. Denn sportlich war der Apostel nach allem, was wir wissen, nicht. Als unansehnlich galt er, klein und untersetzt war er von Gestalt. Mit zusammengewachsenen Augenbrauen, von Krankheit gezeichnet, so wird er geschildert. Dass er Sport getrieben hat, halte ich für unwahrscheinlich. Seine persönliche Devise hieß eher: No sports. Aber offenbar interessierte Paulus sich für den Sport seiner Zeit. Und in wenigen Strichen konnte er ihn genau schildern. Zwei Sportarten stellt er uns vor Augen: den Wettlauf und den Faustkampf.

Einen Lauf über knapp zweihundert Meter muss man sich vorstellen; im antiken Olympia umfasste das Stadion eine Laufstrecke von 186 Metern. Viele schauen zu. Sie achten auf die Schönheit der Läufer genauso wie auf ihre Schnelligkeit. Nicht nur gut soll der Sieger sein, sondern auch schön. Für beides erhält er dann den Siegerkranz. Der mag anschließend wieder verwelken; im Augenblick des Sieges ist er zeitlos schön.

Im Vergleich zur Länge der Vorbereitung war schon damals der Wettkampf verschwindend kurz. Über 200 Meter brauchen die schnellsten Läufer der Welt heute weniger als 20 Sekunden. Aber sie trainieren dafür Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Turnerinnen und Turner üben Woche für Woche mit schier unermüdlicher Energie. Der Wettkampf aber dauert nur kurz. Und ein paar Punkte entscheiden dann über Sieg oder Niederlage. Nur wer darin mehr sieht als den Erfolg des Augenblicks, kann diese Art von Schinderei auf sich nehmen.

Erfolgreiche Sportlerinnen und Sportler sind heute öffentliche Personen. Ihr Ruhm gehört zum begehrtesten, was unsere Mediengesellschaft zu vergeben hat. Aber dieser Ruhm ist vergänglich. Diese Diagnose des Paulus trifft auch heute noch zu: Jene erhalten einen vergänglichen Kranz, wir aber einen unvergänglichen.

IV.

Gibt es das überhaupt, einen unvergänglichen Siegerkranz? Lohnt es sich, über den vergänglichen Ruhm hinaus zu denken, der nun einmal das höchste ist, was Menschen aus eigener Kraft erlangen können? Es gibt einen solchen Kranz: Er ist nicht das Kennzeichen für einen vergänglichen Ruhm, sondern für eine unverlierbare Würde. Er verdankt sich nicht unserer menschlichen Kraft, sondern der Güte Gottes. Er ist nicht einem einzigen vorbehalten, sondern wird allen angeboten. Wer diesen Siegerkranz erhält, braucht dafür keinen andern auf den zweiten Platz zu verweisen. Dieser Siegerkranz wird reichlich vergeben. Die Taufe ist dafür das Unterpfand.

In vielen unserer brandenburgischen Dorfkirchen findet sich ein besonderes Ausstattungsstück: ein Taufengel. An einem Seil hängt er von der Decke herab, schwebend hält er die Taufschale. Wenn eine Taufe ansteht, kann man ihn hinunterziehen, das Taufwasser in die Schale geben und die Taufe vollziehen. Wird er nicht gebraucht, so schiebt man ihn wieder in die Höhe; der Platz in der eng bemessenen Dorfkirche ist wieder frei. Ein austariertes Gegengewicht sorgt dafür, dass der Engel in jeder gewünschten Höhe schwebt. Manche dieser Engel aber halten nicht nur die Taufschale in der einen Hand. In der anderen Hand halten sie einen Siegerkranz. Ich habe mich schon oft gefragt, woher diese Verbindung von Taufschale und Siegerkranz stammt. Dabei ist die Antwort doch so einfach. Sie stammt von Paulus. Jene empfangen einen vergänglichen Kranz, wir aber einen unvergänglichen.

Dass uns in der Taufe dieser Siegerkranz verheißen ist, macht das Laufen, das Kämpfen, das Trainieren, die Enthaltsamkeit nicht überflüssig. Aber der Unterschied ist klar. Noch einmal mit Paulus gesprochen: Ich aber laufe nicht ins Ungewisse, ich kämpfe mit der Faust, nicht wie einer, der in die Luft schlägt, sondern ich bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht anderen predige und selbst verwerflich werde. Das ist Leistung durch Training, nicht durch Doping.

Gottes Gnade erlangt man allerdings auch dadurch nicht. Im letzten geht es um einen Siegerpreis, den wir nie selbst erringen können. Deshalb bestimmt Dankbarkeit unser Leben. Aber auch Dankbarkeit hat ihre Folgen. Es gibt auch eine Disziplin des Glaubens. Wir brauchen Formen, in denen wir uns bewusst halten, was uns trägt – im Leben und auch im Sterben. Auch das Leben im Glauben braucht Trainingseinheiten, Zeiten der Besinnung und der Selbstprüfung, Zeiten der Freude und des Glücks, Zeiten der Liebe und der Hingabe an andere Menschen. Wer die Einheit mit Gott erleben will, braucht Zeiten, in denen er sich für Gott öffnet. Menschen suchen neue Formen der Enthaltsamkeit wie Zeiten der Stille, der Gottesdienst wird wieder entdeckt als Ort der Begegnung mit Gott, die Kultur des Helfens wird wieder gewürdigt.

Der Umgang mit dem eigenen Körper hat damit unmittelbar damit zu tun. Der christliche Glaube schätzt den menschlichen Körper keineswegs gering, wie immer wieder behauptet wird. Einen Tempel Gottes nennt Paulus den menschlichen Leib. Und er fordert dazu auf: Ihr seid teuer erkauft; darum preist Gott mit eurem Leibe. Die Folgerung ist klar: Wir sollen den eigenen Körper wichtig nehmen, ohne ihn zu vergöttern. Wir können Sport treiben, ohne fanatisch zu werden. Warum soll man nicht um einen vergänglichen Siegerkranz kämpfen und dabei wissen, dass der unvergängliche Siegerkranz noch einmal etwas anderes ist? Es ist doch möglich, sich an einem sportlichen Sieg zu freuen und trotzdem auch dem Zweiten die Ehre zu geben. Warum soll eigentlich nicht auch das sportliche Trainieren der Disziplin des Glaubens zugute kommen? Preist Gott mit eurem Leibe!

Dazu müssen wir freilich eine wichtige Unterscheidung lernen. Unterscheiden müssen wir zwischen der Gnade Gottes und der Gunst der Menschen, zwischen der Schöpferkraft Gottes und der menschlichen Leistung, zwischen der unantastbaren Würde und der vergänglichen Ehre, zwischen dem Ruhm, der vor Gott gilt, und dem Ruhm, der von Menschen gemacht ist.

Am Sport können wir dieses Unterscheiden lernen. Aber wir brauchen es auch sonst im Leben. Es hilft dabei, dass wir Gott allein die Ehre geben und das Leben verantwortlich gebrauchen, das er uns schenkt. So laufen wir nicht ins Ungewisse und schlagen nicht in die Luft. Wir halten uns an den Siegerkranz, der unvergänglich ist. Von ihm ist niemand ausgeschlossen.

Amen.