Predigt im gemeinsamen Gottesdienst der EKD und des katholischen Bistums der Alt-Katholiken

Wolfgang Huber

Herrenhäuser Kirche

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

I.„Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir“ (1. Könige 19, 7).
Es ist ein weiter Weg geworden, von damals, als Elia aufbrach, vom Engel gestärkt durch Speis und Trank, bis zu jenem Abend, als die beiden Jünger heimkehrten mit dem Auferstandenen, der ihnen Brot und Wein brach. Es ist ein weiter Weg von  Aufbruch Elias am frühen Morgen bis zur Heimkehr der Jünger am Abend, als der Tag sich neigte. Es ist ein weiter Weg von den Anfängen der Prophetie Israels durch all die schrecklichen Ereignisse der Kreuzigung und des Todes Jesus hindurch, durch all die Einsamkeit und Orientierungslosigkeit der Jünger, durch all die enttäuschten Erwartungen, um anzukommen bei jenem einen Satz, der alles trägt und tröstet: „Der Herr ist wahrhaftig auferstanden und Simon erschienen“ (Lukas 24,34).

Es ist, als wäre Elias Weg nicht nach vierzig Tagen und Nächten der Wanderung durch die Wüste zu Ende gewesen, sondern erst am Abend in Emmaus. Es ist, als seien die vierzig Tage und Nächte des Elia keine Zeitangabe, sondern eine Tiefenangabe, eine Maßeinheit des Verstehens, nicht des Laufens.

Ein weiter Weg führt durch die eigenen Enttäuschungen hindurch, durch den Abschied von Hoffnungen, durch das Loslassen von Erwartungsbilder: „Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde“ (Lukas 24,21). Aber er starb am Kreuz und erfüllte die Hoffnung auf einen politischen Erlöser nicht.

Es ist ein weiter Weg, im Kreuz Christi und durch dieses Kreuz hindurch das Leben zu sehen, das er brachte und freilegte. Dieser Weg führt durch die ganze Heilige Schrift – von der Schöpfung bis zum himmlischen Jerusalem, von Mose bis zu Paulus, von Elia bis zu Jesus, dem gekreuzigten und auferstandenen. Da gibt es weder Abkürzung noch Umleitung. Nur dieser weite Weg durch die ganze Schrift erschließt das Geheimnis seiner Gegenwart in Brot und Wein. „Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen.“

Es ist der weite Weg des Glaubens vom äußeren Sehen zum inneren Erkennen. Die Augen des Glaubens gehen auf und es senken sich die Augen des Kopfes. Seine Gegenwart in Brot und Wein erschließt sich nicht dem Eiligen, nicht einem Flaneur des Geistes, sondern nur dem Wanderer, nur dem Pilger, der weite Wege nicht scheut und schwierige Pfade nicht meidet.

II.

Eine Rechtfertigung ist es nicht. Aber es gibt doch eine verborgene Parallele zu dem weiten Weg, den wir zu gehen haben, bis die ganze Christenheit gemeinsam den in Brot und Wein gegenwärtigen Herrn erkennen und bekennen wird. Wir können nicht darin nachlassen, diesen Weg gemeinsam zu suchen; denn die Verheißung des gemeinsamen Ankommens bei ihm ist groß. Aber wir dürfen uns daran erinnern, dass schon Elia vierzig Tage und vierzig Nächte brauchte und dass auch die beiden Emmausjünger erst gegen Abend bei ihm ankamen. Auch in unserer eigenen Geschichte stand das gemeinsame Abendmahl keineswegs am Anfang, sondern am Ende weiter Wege.

Schauen wir auf die Geschichte der evangelischen Kirche: Die Reformatoren kämpften an kaum einer anderen Stelle so sehr, mit sich selbst und mit der mittelalterlichen katholischen Kirche, wie beim Verständnis des Abendmahls. Hier ging es um alles; dieses Thema erschütterte die Kirche in ihren Grundfesten; über dieser Frage platzten wichtige politisch-militärische Koalitionen; im Streit um das Abendmahl gingen treue Weggefährten auseinander. 444 Jahre liegen zwischen dem Marburger Religionsgespräch von 1529 und der Leuenberger Konkordie von 1973; nach 444 Jahren erst wussten die reformatorischen Kirchen, warum sie am Tisch des Herrn zusammengehören.

Ein langer Weg kann das sein, der Weg zum gemeinsamen Abendmahl. Doch dass der Weg weit ist, ist kein Grund dafür, dass wir ihn unnötig verzögern oder künstlich erschweren. Zwar führt er durch die ganze heilige Schrift, durch die ganze Tiefe des Leidens und Sterbens Jesu Christi, durch die Geheimnisse des Glaubens an die wahrhaftige und wirkliche Gegenwart des Herrn im Abendmahl. Aber wir dürfen nicht nachlassen im ausdauernden Wandern.

Um dieser Ausdauer willen sage ich: Auch wenn wir als evangelische Kirche den katholischen und orthodoxen Geschwistern eucharistische Gastfreundschaft anbieten, auch wenn wir diese Einladung gern heute schon erwidert sähen, auch wenn wir die geistliche Last auf konfessionsverbindenden Ehen und Familien mit Kummer wahrnehmen, wissen wir doch: Das Ja zum gemeinsamen Abendmahl muss ein freies Ja des Gewissens sein. Auch das gehört zum weiten Weg durch die Mitte der Schrift, der nur aufrecht und in geistlicher Freiheit gegangen werden kann.

III.

Auf diesem Weg erfahren wir Ermutigung und Bestärkung, Gott sei Dank. Die „Gemeinsame Vereinbarung“, die das Katholische Bistum der Alt-Katholiken in Deutschland und die Evangelische Kirche in Deutschland vor zwanzig Jahren abgeschlossen haben, ist ein Beispiel dafür.  An diese „Gemeinsame Erklärung“ erinnern wir heute in großer Dankbarkeit. Damals wurde eine „gegenseitige Einladung zur Feier der Eucharistie“ ausgesprochen. Sie war möglich, weil wir uns auf zwei Kerngedanken konzentrierten, die uns in Christus sammeln und bei ihm gemeinsam einkehren lassen. In der jüngsten, von Bischof Vobbe und mir unterzeichneten Erklärung vom März dieses Jahres haben wir diese beiden Kerngedanken neu zur Sprache gebracht:

Zunächst: „Die evangelische wie die alt-katholische Kirche teilen die Erkenntnis, dass Christus selbst der Herr und der Einladende des Heiligen Abendmahls beziehungsweise des eucharistischen Mahles ist. Sie sehen sich daher nicht berechtigt, getaufte Menschen, die mit ihnen an die vergebende und erlösende Gegenwart des Gekreuzigten und Auferstandenen in der Eucharistie glauben, vom Tisch des Herrn zurückzuweisen.“

Zum Abendmahl lädt Christus ein, nicht die Kirche, nicht ihre Geistlichen. Auch lädt der Glaube sich nicht selbst ein, sondern allein Christus ist Gastgeber. Das Abendmahl gehört ihm, niemandem sonst. Deswegen sagen wir als Kirche die Einladung Christi weiter: „Lasset euch versöhnen mit Gott!“  

Ist Christus selbst der Einladende, dann ist jede Abendmahlsfeier wie ein Festsaal, der immer schon da war, wie ein Raum, der längst geschmückt ist, wie eine Feier, die lange vor mir angefangen hat und auch nach mir andauert. Ich bin Gast, ich muss weder den Tisch decken noch abwaschen; ich muss weder gute Taten als Eintrittskarte vorweisen noch eine bestimmte Bildungshöhe mitbringen; ich darf mich dazu stellen, mitfeiern und mitsingen. Es gibt keine Bedingungen, keine Forderungen, keine Erwartungen. Denn das Christusfest hat längst Fahrt aufgenommen und hängt nicht ab von mir und meinem Tun. Der Raum ist schon da, das Fest hängt nicht an meiner Stimmung, auch mein Glaube kann sich tragen lassen. Ich kann mitfeiern mitsamt meinen Zweifeln. Ich darf auch meinen kleinen, ängstlichen, suchenden Glauben mitnehmen in diesen großen Raum des Jubels.

Es ist, als leihe ich mir in der Abendmahlsfeier seinen großen Glauben aus, als könne ich einparken in seiner unerschütterten Gottestreue, als dürfe ich die Kleider seiner Glaubwürdigkeit anprobieren und mich schmücken mit dem Glanz seiner unzerstörbaren Gottesnähe.

Wenn ich mich dann umschaue und meine Augen sich für das Unsichtbare öffnen, sehe ich auch, dass ich diese Kleider nicht allein trage. Denn all die anderen sind ebenso festlich gekleidet mit Glanz und Güte. Neben, vor und hinter mir feiern ungezählte Andere mit, Menschen, die vor mir gelebt haben, die zur Unzeit gestorben sind, unbekannte Tote aller Zeiten und Räume. Auch sie bringen ihre Hoffnung und ihre Angst, ihre Sehnsucht und ihren Glauben mit zum Abendmahl. So feiern wir alle mit diesem einen, dem Auferstandenen, der verschwand vor ihren Augen, als er das Brot brach. Und alle zusammen werden wir getragen und gehalten, wir alle werden glaubwürdig vor Gott und vor uns selbst durch sein seine Zuversicht und seinen Glauben. Er traut uns zu, dass wir trotz unserer kleinen Seele seine Sache weiter tragen, dass wir seine Zeuginnen und Zeugen sind, zuerst in Jerusalem und dann in der ganzen Welt.

Der andere Kerngedanke stellt uns noch stärker hinein in die Geschichte des Glaubens; es heißt in unserer gemeinsamen Erklärung:

„Die Eucharistie als Feier der Gegenwart Jesu Christi, in der der Herr sich selbst als Gabe schenkt, ist im Verständnis beider Kirchen nicht nur letztes Ziel, sondern – wie das Manna auf dem Weg des Gottesvolkes – auch Stärkung auf dem Weg dorthin.“

Sie alle kennen, so vermute ich, das berühmte Abendmahlsbild von Leonardo da Vinci: der Herr in der Mitte vor Brot und Wein, die Jünger rechts und links in Dreiergruppen zusammengeordnet, nur Judas, der die Hand am Geldbeutel hat, sitzt etwas isoliert. Dieses Bild hat ungezählte Nachfahren bis hin in die moderne Kunst gefunden; ungezählte Kirchen haben ihren Altar mit dieser Szene geschmückt. Wenn man sich vor einem solchen Altar in einen großen Kreis stellt, wie wir dies nachher auch tun wollen, dann verlängert man gleichsam den Tisch auf dem Bild. Dieser Tisch mit Jesus in der Mitte wird ausgezogen bis in unsere Gegenwart. Mit den ersten Jüngern sind wir versammelt am Tisch unseres Herrn.

Wenn man dann innehält und bedenkt, wer mit am Tische saß in der Nacht, da er verraten ward, dann kann man es auch sehen: Es war keine Heldentruppe, keine Ansammlung sensationeller Glaubenssieger. Judas war dabei, der ihn verriet, Petrus, der ihn verleugnete, die Zebedäussöhne, die unbedingt gute Plätze am himmlischen Festtisch haben wollten, dazu die anderen Jünger, die sich oft genug durch ängstlichen Kleinglauben auszeichneten.

Schon das erste Abendmahl war keine Siegesfeier für unangefochtene Treue, keine Verschwörungsparty für unfehlbar Fromme. Von Anfang lebt die Gemeinschaft der Christen von dem Zutrauen, das Christus in sie setzt: „Ich habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht aufhöre.“

Die Würde und Tiefe des Abendmahls ruht nicht auf den Jüngern, sondern auf Christus, dem alleinigen Bürgen für Glauben und Glaubwürdigkeit. Wenn wir uns heute dazugesellen mit unserer ganzen Zerrissenheit, mit unserer langen, schuldbeladenen Geschichte, im Angesicht der vielen von der Kirche Enttäuschten, wenn wir uns dazugesellen mit unserer kleinen Sehnsucht nach großem Erfolg und unseren großen Erfolgen in kleinlichen Süchten, dann passen wir in dieses Bild. Wir wissen, dass die Feier nicht an unserer Glaubwürdigkeit hängt, sondern an seiner.

Darum gehört zu jeder Abendmahlsfeier das Bekenntnis der Schuld. Manche fürchten, die Feier werde dadurch düster, der Mensch werde klein und unwert gemacht. Aber es ist umgekehrt: Der Mensch ist groß, wenn er sich nicht selbst groß macht. Klein ist er, wenn er aus Eigenem groß sein will. Dieses Großseinwollen nennen wir Sünde. Der Mensch, der selbst groß sein will, lebt in der Gottesferne, er lebt ohne Gottesbezug. Nicht um moralische Verfehlungen geht es dabei, sondern um eine Verkehrung des Lebens in der Tiefe, um  die Einsamkeit mit sich selbst, um die Isolationshaft im eigenen Ich.

Wir feiern die Gegenwart Christi im Abendmahl, weil wir ahnen, erbitten und feiern,  wie viel größer sie ist als mein kleines Ich. Sie trägt mich weiter als das alltägliche Fragen nach Tun und Lassen, nach Können und Versagen. Ich lebe davon, dass ich nicht mehr um mich selbst kreisen muss, um die Suche nach meinem Weg, meinem Ziel, meiner Bedeutung. Ich brauche die Antwort nicht erst zu suchen; er hat sie längst gegeben. Mein Leben hat seinen Sinn nicht in sich selbst, sondern in ihm. Auch ich darf ein Tropfen sein im Ozean des Lebens, eine Welle im Meer der Gegenwart Gottes, ein glänzender Einfall der Güte Gottes. Deshalb kann ich mit ganzem Herzen singen und sagen: „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn.“ Amen.