Predigt im Dom zu Brandenburg zur Eröffnung der Ausstellung über das Brandenburger Evangelistar

Wolfgang Huber

I.

In der Feier der Osternacht legt nach alter liturgischer Tradition der Diakon als Herold der Auferstehung das weiße Gewand der Freude an. Er entzündet die Osterkerze. Sie gilt als Bild für den auferstandenen Christus, der lichtstrahlend in Herrlichkeit das Grab verließ. Der Diakon lässt mit dem eben gehörten Lobgesang die Auferstehungsfreude durch den Kirchraum schwingen: Exsultet iam angelica turba coelorum – Nun frohlocke die Engelsschar des Himmels.

Dieser Lobgesang geht auf die Zeit der alten Kirche zurück. Wir hörten einen Abschnitt daraus, vierzehn der insgesamt 133 Zeilen, die ins Deutsche übertragen folgendermaßen lauten:

O wahrhaft selige Nacht,
einzig gewürdigt, zu wissen die Zeit und die Stunde,
da Christus vom Tode erstanden.
Dies ist die Nacht,
von der steht geschrieben:
Die Nacht wird hell wie der Tag; und:
Eine Leuchte ist die Nacht meinen Wonnen.
Geheiligt ist diese Nacht,
zu bannen die Frevel,
abzuwaschen die Schuld,
den Sündern wiederzubringen die Unschuld,
den Trauernden Freude;
weit vertreibt sie den Hass,
sie einet die Herzen und beugt die Gewalten.

Das Exsultet, der Lobgesang auf die Osterkerze hatte im mittelalterlichen Gottesdienst einen so festen Platz und einen so hohen Rang, dass es Eingang in unser Brandenburger Evangelistar fand, in das kostbare gottesdienstliche Buch, das in unserem Dom seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert im Gebrauch stand.

So fern ist uns diese Zeit nicht, wie wir denken. Eine missionarische Situation war das damals wie heute. Das Domkapitel jener Zeit machte eigene Erfahrungen mit den Mühseligkeiten einer missionarischen Herausforderung. Die Prämonstratenser, die auf den Ruf von Bischof Wigger hin vor der Mitte des 12. Jahrhunderts nach Brandenburg gekommen waren, konnten sich berichten lassen von früheren Versuchen der christlichen Mission, die nicht zu wirklichen Erfolgen geführt hatten. Nun sollte es von neuem versucht werden. Bischof Wilmar erhob den Prämonstratenserkonvent zum Domkapitel, wofür er ebenso die Unterstützung des Magdeburger Bischofs Wichmann wie die des Markgrafen Albrecht des Bären fand. Doch mit der Unterstützung der geistlichen wie der weltlichen Obrigkeit allein war der missionarische Erfolg nicht gesichert. Der Propst des Domkapitels knüpfte seine missionarischen Hoffnungen an das Grundgeschehen der Kirche, den Gottesdienst. Die Gottesdienste sollten missionarische Ausstrahlung gewinnen. Das war sein Gedanke. Die festliche Gestalt der Gottesdienste sollte die Menschen auf den hinweisen, dem diese feierliche Sorgfalt galt: Gott in Christus.

Deshalb bemühte sich das Domkapitel um kunstvoll gestaltete Bücher für die biblischen Lesungen des Kirchenjahrs – für die Evangelientexte ebenso wie für die Brieflesungen. Das Evangelistar und das Epistolar nahmen diese Aufgabe wahr. Auch die liturgischen Gewänder sollten der missionarischen Aufgabe dienen. Deshalb erbat der Propst von Papst Coelestin III. das Recht, die Pontifikalien zu tragen und so auch durch die liturgische Gewandung – wie durch Evangelistar und Epistolar – die Feierlichkeit des Gottesdienstes zu verstärken.

So fremd ist uns das alles nicht. Eine missionarische Situation ist alle Anstrengungen wert. Große Sorgfalt bei der Gestaltung des Gottesdienstes steht dabei keineswegs an letzter Stelle, auch heute nicht. Solche Anstrengungen entsprechen dem Auftrag Jesu, der uns am Ende des Matthäusevangeliums überliefert ist: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Wir Heutigen haben uns angewöhnt, über die Missionsanstrengungen der mittelalterlichen Jahrhunderte eher abfällig zu reden. Die Sachsenmission unter Karl dem Großen, zur Schablone erstarrt, gilt dabei zumeist als Beispiel. Massentaufen werden als abschreckende Exempel zitiert. Wir beteuern – und das zu Recht – , dass wir gewillt sind, behutsamer miteinander umzugehen. Wir wissen, dass das Evangelium nicht durch Zwang ausgebreitet werden kann, sondern allein durch das Wort. So hat es die grundlegende Urkunde der Reformation, das Augsburger Bekenntnis von 1530, gesagt. Vorsichtige Wege werden heute gesucht, langer Atem wird eingefordert.

Doch in einem solchen Vorhaben brauchen wir uns von unseren mittelalterlichen Vorfahren keineswegs nur abzusetzen. Wir können uns von ihnen auch ermutigen lassen. Die Prämonstratenser jener Zeit hatten in der Tat einen langen Atem. Sie sangen das Exsultet Jahr für Jahr. Sie mussten warten – und sie konnten warten. Aber bei diesem Warten haben sie etwas geschaffen, vor dem wir, mehr als 800 Jahre später, staunend stehen. Man wagt die Frage gar nicht zu stellen, ob unter unseren neuen Versuchen auch etwas sein könnte, was nach einer so langen Zeit der Erinnerung noch wert ist oder gar von den Späteren mit Staunen wahrgenommen wird.

Wir brauchen das auch nicht zu fragen. Auch Bischof, Propst oder Domkapitel werden damals, am Ende des 12. Jahrhunderts, solche Fragen nicht gestellt haben. Sie wollten etwas Einfaches: sie wollten Gott die Ehre geben und die Menschen zum Evangelium verlocken. Deshalb schufen sie das Evangelistar.

Das wollen wir auch: Gott die Ehre geben und die Menschen zum Evangelium verlocken. Deshalb freuen wir uns an diesem Evangelistar.

II.

Das Exsultet haben wir gehört, das Lied der Osternacht. Über viele Jahrhunderte hin bildet diese Nacht in ihrer liturgischen Gestaltung den Höhepunkt des ganzen Kirchenjahrs. In dieser Nacht empfangen die Taufanwärter in der Zeit der frühen Christenheit die Taufe. In dieser Nacht wird in einem großen Bogen biblischer Lesungen die ganze Heilsgeschichte entfaltet, von der Schöpfung am Anfang über die Befreiung Israels aus Ägypten bis hin zur Wiederkunft Christi beim Jüngsten Gericht. Aber in der Mitte dieser Nacht steht das Geheimnis der Auferweckung Christi, der Übergang vom Tod zum Leben, der Wechsel von der trauernden Erinnerung an sein Leiden zu dem Jubelruf: Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden.

Ungeheuer ist das Drama dieser Nacht. In Christus vollzieht sich der Übergang vom Tod zum Leben, den zuallererst die Schöpfung vorgezeichnet hat. Denn in ihr wurde das Leben dem Chaos abgerungen. Dieses Geschehen wiederholte sich, als das Volk Israel sich in der ägyptischen Sklaverei dem Tod preisgegeben wusste, bis es von Gott in die Freiheit geführt wurde. Er selbst ging seinem Volk voran, am Tag in einer Wolkensäule und des Nachts in einer Feuersäule. Und dieser Übergang wird sich ein letztes Mal wiederholen, wenn Christus selbst, der Weltenrichter, uns alle aus dem Tod ins Leben ruft. Dieses weltgeschichtliche Drama ist zusammengezogen und versammelt in einer einzigen Nacht: in der Osternacht, in der Gott seinen Sohn Jesus Christus aus dem Tod ins Leben ruft.

Das Geschehen dieser Nacht aber kommt zum Ausdruck in einem einzigen Symbol, in einem einzigen kleinen und doch so mächtigen Zeichen, in einer einzigen Flamme, in dem Licht der Osterkerze. In der Dunkelheit der Nacht wird sie entzündet; und man denkt, sie könne den ganzen Raum erfüllen. In der Finsternis des Todesverhängnisses geht ein Licht auf; und die Gewissheit des Lebens bricht sich Bahn. Von diesem einen Zeichen, von diesem starken Symbol und von seiner Botschaft zehrt der Glaube. Deshalb wird die Auferstehungsgewissheit erneuert von Sonntag zu Sonntag. Denn jeder Sonntag ist ein Auferstehungstag, ein erster Tag. Von diesem Zeichen der Osterkerze, von diesem starken Symbol aus, von dieser Auferstehungsgewissheit gewinnt das ganze Jahr seinen Rhythmus, Woche für Woche, bis zum nächsten Osterfest.

III.

Deshalb ist es zu begreifen, warum der Lobgesang der Osterkerze, das Exsultet, einen so hohen Rang erhielt, dass es den Evangelientexten beigesellt und in das Evangelistar aufgenommen wurde. Aus ihm wurde es gesungen; von ihm her erreicht es auch uns.

Noch einmal lese ich die vierzehn Zeilen des Exsultet, die heute die Mitte unseres Gottesdienstes bilden.

O wahrhaft selige Nacht,
einzig gewürdigt, zu wissen die Zeit und die Stunde,
da Christus vom Tode erstanden.
Dies ist die Nacht,
von der steht geschrieben:
Die Nacht wird hell wie der Tag; und:
Eine Leuchte ist die Nacht meinen Wonnen.
Geheiligt ist diese Nacht,
zu bannen die Frevel,
abzuwaschen die Schuld,
den Sündern wiederzubringen die Unschuld,
den Trauernden Freude;
weit vertreibt sie den Hass,
sie einet die Herzen und beugt die Gewalten.

Die Nacht wird hell wie der Tag, und: Eine Leuchte ist die Nacht meinen Wonnen. Kann man die Freude des Osterfests – und damit die Freude jedes Sonntagsgottesdienstes – intensiver schildern? Kühn ist die Sprache. Sie geht so weit, dass sie die Wonnen der Nacht als ein Zeichen für das Licht der Auferstehung deutet – wie gut und wie wahr!

Noch einmal versetzen wir uns in das Geschehen der Osternacht. Während der Diakon das Exsultet singt, werden in der bis dahin dunklen Kirche nacheinander auch die anderen Lichter und Lampen an der Osterkerze entzündet. Nach und nach dringt die Botschaft von der Auferstehung zu den Menschen durch. Das Entzünden der Lampen an der Osterkerze zeigt, dass die eigene Auferstehung eine Folge der Auferstehung Christi ist. Die Freude an der neuen Schöpfung erreicht die Menschen.

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, die ganze Welt. Auf der Erde war es noch wüst und unheimlich. Es war finster und Wasserfluten bedeckten alles. Über dem Wasser schwebte der Geist Gottes. Da befahl Gott, Licht soll aufstrahlen, und es wurde hell. Gott hatte Freude an dem Licht; denn es war gut. Er trennte das Licht von der Dunkelheit und nannte das Licht Tag und die Dunkelheit Nacht. Es wurde Abend und wieder Morgen: der erste Tag.

Abend und Morgen, der erste Tag. Nach dieser biblischen Schilderung beginnt jeder Tag am Abend mit dem Einbruch der Dunkelheit. Und jeder Tag endet hell. Auf jede finstere Nacht folgt ein lichter Morgen – Tag für Tag. Unser gängiges Verständnis ist genau umgekehrt: Der Tag beginnt am Morgen. Erst wird es hell; aber am Ende des Tages schwindet das Licht und die Nacht kommt mit ihrer Dunkelheit. Doch wir sollten immer wieder die Gestaltung der Zeit im Sinne der Bibel in uns lebendig werden lassen: Weil schon jeder einzelne Tag durch die Dunkelheit hindurch dem Licht entgegengeht, können wir auch darauf vertrauen, dass wir in unserem ganzen Leben auf Gottes offene Arme zugehen. Vor uns liegt eine lichte Zukunft.

Das Licht dieser Zukunft leuchtet in jede Nacht unseres Lebens hinein und lässt das Licht des Morgens in uns aufgehen. Christen sind, wie es beim Apostel Paulus heißt, Kinder des Lichts und des Tages. Wir sind nicht von der Nacht und von der Finsternis. Christen tragen deshalb eine Waffenrüstung eigener Art: den Panzer des Glaubens und der Liebe und dazu noch den Helm der Hoffnung auf das Heil (1. Thess. 5,5.8). Die Verheißung bestimmt schon jetzt unser Leben, dass der Frevel ein Ende findet, dass der Trauer nicht das letzte Wort gehört, dass der Hass überwunden und die Herzen geeint werden. Die Freude an der Auferstehung zieht in unserem Alltag ein: in unserer Bereitschaft zum Guten, darin, dass wir die Liebe wieder lernen und den Frieden üben. Denn so singt der Diakon:

Geheiligt ist diese Nacht,
zu bannen die Frevel, abzuwaschen die Schuld,
den Sündern wiederzubringen die Unschuld,
den Trauernden Freude;
weit vertreibt sie den Hass,
sie einet die Herzen und beugt die Gewalten.

Amen