Festpredigt zu 75 Jahre Urspringschule (2. Korinther 3, 11-18)

Wolfgang Huber

„Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“

I.
Für viele – insbesondere für Schülerinnen und Schüler – bilden die Worte „Schule“ und „Freiheit“ einen schier unüberbrückbaren Gegensatz. Diesen Stier will ich heute bei den Hörnern packen. Deshalb will ich an diesem Jubiläumstag über die Freiheit sprechen. Dabei lasse ich mich von einem Wort des Apostels Paulus leiten. Es ist ein Wort, das meiner Frau und mir, die wir heute mit Ihnen zusammen in großer Freude dieses Jubiläum feiern, sehr nahe ist. Es heißt: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“.

So knapp und so klar klingt das Bekenntnis zu einer Freiheit, die in Gott gründet, weil Gott sie schenkt. Ein bisschen dunkler klingt es schon, wenn man diese Aussage des Paulus in ihrem Zusammenhang bedenkt. Paulus schreibt an die christliche Gemeinde in Korinth:

Wenn das Herrlichkeit hatte, was aufhört, wie viel mehr wird das Herrlichkeit haben, was bleibt. Weil wir nun solche Hoffnung haben, sind wir voll großer Zuversicht und tun nicht wie Mose, der eine Decke vor sein Angesicht hängte, damit die Israeliten nicht sehen konnten das Ende der Herrlichkeit, die aufhört. Aber ihre Sinne wurden verstockt. Denn bis auf den heutigen Tag bleibt diese Decke unaufgedeckt über dem Alten Testament, wenn sie es lesen, weil sie nur in Christus abgetan wird. Aber bis auf den heutigen Tag, wenn Mose gelesen wird, hängt die Decke vor ihrem Herzen.  Wenn Israel aber sich bekehrt zu dem Herrn, so wird die Decke abgetan. Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Nun aber schauen wir alle mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel, und wir werden verklärt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur andern von dem Herrn, der der Geist ist (2. Korinther 3, 11-18).

Hier wird die Freiheit mit dem klaren Blick zusammengebracht. Freiheit wird gerade nicht an die Vorstellung gebunden, alles selber zu können und zu verstehen. Vielmehr wird sie an den Mut geknüpft, sich von der Herrlichkeit Gottes blenden zu lassen und diese Herrlichkeit im Angesicht Jesu Christi zu erkennen: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ Gottes Geist garantiert wirkliche Freiheit. Die Freiheit des Gewissens, die Achtung der Würde eines Menschen als Freiheit seiner Person sowie das Eintreten gegen die Unfreiheit in ihren Spielarten: die Unfreiheit der Armut, der Entmündigung, der rechtswidrigen Gefangenschaft. Diese Freiheit ist eines der erstrebenswertesten Ziele, die sich denken lassen. Doch zweierlei ist dabei zu bedenken:

II.
Freiheit ist ein Geschenk!

Umfassende Freiheit ist in Gott verwurzelt. Gott selbst ist Garant dieser Freiheit. Zu gängigen Deutungsmustern steht das im Widerspruch. Die Werbung redet uns heute ein, frei mache nur, was wir kaufen können. Der Leistungssport, hier in Urspring zu Recht hoch geschätzt, behauptet in seinen leider allzu häufigen Übertreibungen, frei sei nur, wer auf Grund eigener Leistung der Beste sei. Bis in die engsten menschlichen Beziehungen hinein wird ein Leitbild vertreten, nach dem man nur dann frei ist, wenn man es versteht, sich andere Menschen nutzbar zu machen. Wer frei sein will, muss bereit sein, andere Menschen auszunutzen.

Aber es ist ein Irrglaube, sich einzubilden, Freiheit erschöpfe sich in der Sorge des Menschen um sich selbst und sie sei dann am Ziel, wenn man es im Erleben des eigenen Lebens möglichst weit gebracht hat. Die Freiheit des Menschen gründet in Gott. Gott hat jeden Menschen, jede Person geschaffen und mit Würde begabt. Jeder Mensch ist deshalb ein Individuum, frei vor Gott und frei für die Menschen.

Paulus wählt zur Illustration der göttlichen Freiheit einen gefährlichen Vergleich, den Vergleich mit Israel. „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ So heißt es kurz vor unserem Abschnitt. Auch in manchen pädagogischen Zusammenhängen ist dieser Satz schon verwendet und dabei meistens gründlich missverstanden worden. Und missverstanden wurde er auch im Verhältnis zum Volk Israel. Das alttestamentliche Gesetz der zehn Gebote wurde dann als tötender Buchstabe gedeutet – so wie das vermeintlich stumpfsinnige Lernen von Lesen und Schreiben als tötender Buchstabendienst missverstanden wurde. Aber wie die zehn im Alten Testament aufgeschriebenen Gebote haben auch Lesen und Schreiben ihren eigenen Wert und Sinn. Paulus geht es nicht um eine Abwertung von Aufsätzen und Diktaten. Ihm geht es auch nicht um eine Abwertung des jüdischen Volkes. In dessen Glauben weiß er sich selbst zutiefst verwurzelt. Aber er ist davon überzeugt, dass in Christus die Buchstaben des Alten Bundes zur Erfüllung gekommen sind und der Blick auf Gottes Herrlichkeit in seiner ganzen Fülle eröffnet worden ist.
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit“, so betont Paulus an anderer Stelle. Gottes befreiendes Handeln, für das die Geschichte Israels ein besonderes Beispiel darstellt, wird in Jesus Christus für jeden Menschen zugänglich. Vom Geschenk der Freiheit ist niemand ausgeschlossen.

Heute wächst wieder das Gespür dafür, dass wir von Grundlagen leben, über die wir selbst nicht verfügen – geschweige denn, dass wir sie selbst hervorbringen können. Nur wenn wir miteinander lernen, auf diese Grundlagen zu achten, werden wir auch miteinander achtsam umgehen. Nur wenn wir neu lernen, dass wir eine Seele haben, ja dass wir Seele sind, werden wir davor zurückscheuen, andere Menschen in ihrer Seele zu verletzen. Gemeinschaft wächst dort, wo es einen Sinn für das Heilige gibt. Dass in der Mitte der Urspringschule diese Urspringkirche steht, ist für mich ein Symbol dafür, dass hier immer der Raum frei bleiben soll für die Wirklichkeit Gottes, die das Geheimnis jeder menschlichen Gemeinschaft ist. Deshalb sind Schule und Freiheit kein Gegensatz. Jede Schule, die ein Haus des Lernens sein will, muss zuallererst ein Haus der Freiheit sein – aber eben: ein Haus der geschenkten Freiheit.

III.
Aber noch ein zweites ist zu bedenken: Ein Geschenk will ausgepackt werden. Man muss es pflegen, wenn es brauchbar bleiben soll. So ist es auch mit der freiheit. Freiheit erfordert Arbeit! Und mit der Schule ist es ebenso – ganz besonders mit einer Schule der Freiheit.

Gerade hier in Urspring können Schüler und Lehrer ein Lied von dem singen, was von jeder Schule gilt: Schule ist Arbeit! Wieviel Arbeit es für Lehrer bedeutet, ihren Unterricht vorzubereiten. Wieviel Arbeit es für die Schüler bedeutet, den Stoff zu lernen und zu leben. Dabei vollziehen Lehrer wie Schüler doch nichts anderes, als gemeinsam jene Freiheit zu üben, die jedem Menschen zusteht: Die Freiheit, selbst lesen, schreiben und rechnen zu können, sich selber orientieren und sich eine Meinung bilden zu können, ja, die Freiheit, dies alles auch für andere einsetzen zu können. Die Freiheit, die in Gott wurzelt, erfordert Arbeit, weil sie zwar Freiheit vor Gott, zugleich aber Freiheit für die Menschen ist. Wo Kindern und Jugendlichen keine Möglichkeit eröffnet wird, an schulischer Bildung oder Ausbildung beteiligt zu werden, dort ist der Grundsatz der gleichen Freiheit für jeden Menschen missachtet. Wo an einer Schule keine Möglichkeit besteht, in der eigenen Religion qualifiziert unterwiesen zu werden und zur Religion einen eigenen Zugang zu entwickeln, dort ist ein Grundsatz der Religionsfreiheit verletzt. Wo Menschen ihrer Herkunft oder ihrer Behinderung wegen von für sie möglichen Berufswegen ausgeschlossen sind, dort ist die Freiheit ihrer Person angegriffen. Eine Gesellschaft, die auf die Arbeit verzichtet, sich mit den Wurzeln der für sie prägenden Werte auseinanderzusetzen, verweigert sich der Freiheit. Sie bildet sich ein, Freiheit sei ohne Arbeit zu haben. Doch wer für die Freiheit auch in Zukunft eintreten will, wer in diesem Sinn Salz der Erde und Licht der Welt sein will, der braucht ein kulturelles Gedächtnis. Er braucht Arbeit an der kulturellen Erinnerung. Zu ihr gehört die Erinnerung an Menschen, die für die Freiheit etwas gewagt haben. Deshalb rührt es mich an, dass heute die Erinnerung an Sophie Scholl durch die Vertonung ihrer Gebete zu Gehör kommt.

IV.
Die Idee der Landerziehungsheime, und so auch der Urspringschule, war und ist es, tragfähige Grundorientierungen für das eigene Leben wie für die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft einzuüben. Der Zugang zu einem solchen Lernraum soll Jugendlichen aus unterschiedlichen Herkünften in gleicher Weise offen stehen. Das illustriert Urspring als „bunte Schule“ auf besondere Weise. Motive der Jugendhilfe und des Hochleistungssports, des ganzheitlichen Lernens und der handwerklichen Spezialisierung, der heimatlichen Verwurzelung und der Internationalität verbinden sich an diesem Ort zu einer offenbar ganz unverwechselbaren Prägung. Auch das ist eine Form, in welcher der Respekt vor der gleichen Würde und der gleichen Freiheit jedes Menschen zum Ausdruck kommen kann.

Wenn aus diesem Geist heraus ein Ort gemeinsamen Lernens und gemeinschaftlichen Lebens gestaltet wird, dann wird etwas sichtbar vom Salz der Erde und vom Licht der Welt. Dann kommt etwas zum Vorschein, was vielfach fehlt: die Einsicht, dass Menschen in ihrer Freiheit füreinander bestimmt sind, dass sie in ihrer Selbständigkeit füreinander Verantwortung wahrnehmen, dass sie sich in ihrer Unterschiedlichkeit wechselseitig achten. In Urspring, so habe ich gehört, sei die „Vision eines ‚pädagogischen Kibbuz’“ lebendig, die Hoffnung auf einen Ort gemeinschaftlichen Lernens und Lebens, an dem ein gemeinsamer Aufbruch ins Neue möglich ist und sich mit dem Mut verbindet, alt und lieb gewordene Vorstellungen zurückzulassen. Eine solche Hoffnung muss ihre Kraft immer wieder aus den Wurzeln empfangen: aus der geschenkten Freiheit und aus der Bereitschaft, für diese Freiheit zu arbeiten. Deshalb ist es mein Wunsch an diese Schule, dass sie sich als „bunte Schule“ ihrer christlichen Wurzeln bewusst bleibt und diese Verwurzelung selbstbewusst lebt.

V.
Immer wieder wird eine Freiheit jenseits der Wolken besungen, die grenzenlos ist. Besungen wird eine Freiheit, die sich von Beliebigkeit nicht unterscheidet. Aber Beliebigkeit führt nicht in die Freiheit. Die Schule ist dafür das beste Beispiel: Nur durch verabredete Regeln kann eine Schulbildung entstehen, die ins Bewusstsein der Freiheit hineinführt. Nur wer lesen kann, erlangt die Freiheit, sich Wissen literarisch aneignen zu können. Nur wer rechnen kann, vermag Willkür und Fehler, auf Rechnungen zum Beispiel, zu erkennen und die ihm zustehende Freiheit einzuklagen. Bildung ist die Basis für die Freiheit, sich in Beruf und Gesellschaft aktiv einzubringen. Bildung ist das A und O von Sozialpolitik. Freiheit bedeutet deshalb nicht, dass ich tun kann, was ich will, sondern dass ich weiß, was ich tue. Ich muss die Wurzeln kennen, die meine Freiheit tragen, damit sie kräftige Blüten treiben kann.

Dass Urspring eine Schule der Freiheit, ja ein Bildungsort der göttlichen Freiheit sein wird, ist mein herzlicher Wunsch zu diesem Jubiläumstag. Denn Bildung und Freiheit gehören untrennbar zusammen. Möge sich immer der Geist Gottes unter den frischen Wind mischen, der hier von der Alb herabweht. Denn „wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“

Amen.